Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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2. Sonntag im Advent, 10. Dezember 2006
Predigt zu Jesaja 35, 3-10, verfaßt von Henning Kiene
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Saget den verzagten Herzen: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.“
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.
Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. Jesaja 35,3-10

Liebe Gemeinde,

da schien am Mittwochabend wieder die Sommersonne in unser Wohnzimmer hinein. Es war im Dezember wieder so hell wie im Juni. Der Film, den Sönke Wortmann während der WM gedreht hat, wurde am Nikolaustag endlich im Fernsehen gezeigt: „Deutschland ein Sommermärchen“.

An den Straßen winken die Menschen. Sogar die Soldaten und das THW heben die Arme und machen die „Laolawelle“. Dann sieht man Jürgen Klinsmann in der Kabine. Er spricht laut und eindringlich zu den Spielern, die auf den Bänken vor den Schränken sitzen. Er geht auf die einzelnen Spieler zu. Jedes Wort, das man von ihm hört, lässt keinen Zweifel aufkommen, das Turnier wird ein gutes Ende nehmen.
Zweifel? Die sind nicht zugelassen.
Bedenken? Keine Spur.
Es könnte ja auch ganz anders ausgehen?
Natürlich, das wäre möglich, aber nicht jetzt. Klinsmann lässt keine Spur von Zweifeln erkennen. In manchen Minen sind in wenigen Szenen Bedenken abzulesen. Die treten aber nicht in den Vordergrund. Die Stimme des Trainers erlaubt das nicht. Im Gegenteil, er spricht mit fast prophetischer Stimme und seine Hand spricht mit. Mit der weist er auf einen Spieler: Du kannst das. Es wirkt so, als hätte er den erfolgreichen Abschluss des Turniers schon vor dem zweiten Spiel der Meisterschaft vor Augen. Und wenn nicht? Dann spricht er immerhin Worte, die dem Erfolg die Tür so weit öffnen, dass das Gelingen eine Chance hat.

Jürgen Klinsmann ein Prophet? Für seine Mannschaft war er das und für viele in Deutschland auch. Er hat den Menschen im Sommer etwas gezeigt, das vielen in unserem Land fehlte.

Ist der Prophet Jesaja ein Trainer? Er hat Bilder geschaffen, er hat Worte gesagt und zu Papier gebracht, die in den Köpfen der Leute Wirkungen freisetzen. Auf eine besondere Weise war der Prophet Jesaja so etwas wie ein Trainer. So wie die fröhlichen Sommerbilder, die am Mittwoch aus dem Fernsehen kamen, so etwas wie eine leichte Version der Prophetie Jesajas sind. Da kann man sehen, wie sich etwas in den Menschen verändert hat. Jesaja hat das Bewusstsein der Menschen seines Volkes gewandelt. Jesaja hat dem Glauben zuerst neue Bilder geschenkt. Aus diesen Bildern hat Gott den Menschen dann neuen Mut wachsen lassen. Der Glaube wurde auf kräftigere Füße gestellt. Bunter, persönlicher auf die einzelne Seele zugeschnitten, fand er sich in den Herzen und Köpfen wieder. Das Volk, zu dem Jesaja spricht, spürte nach vielen Jahren, die immer tiefer in die Depression geführt hatten, einen erfrischend neuen Trend. Das Grau schien von neuen Farben und anderen Bildern überlagert zu werden. Es wirkt so, als ginge der Prophet von Mann zu Mann und von Frau zu Frau und hielte ihnen vor Augen, was in ihrem Leben an ungeahnten Verheißungen noch enthalten ist. Er ließ sie es sogar schon sehen.

„Seht da ist euer Gott!“ klingt seine Stimme zu uns. Mit eindringlichen Worten wird der Blick aus dem Denken, das einem vorspiegelt, dass es doch nichts werden würde mit dem Leben, mit Gott und dem Glauben, heraus gelenkt. Und dann zeichnet Jesaja einen Bilderbogen in prächtigen Farben. Er stellt Bilder vor Augen, die nur Gott zeigen kann. Das ist Prophetie, die man bei Jesaja kennen lernt: Es werden Bilder auf die Welt und in die eigene Seele projiziert, die einem nicht das Unheil vor Augen halten und das eigne Nichtkönnen, sondern die zeigen was möglich ist und was sein wird.

Wer es versteht, die Zukunft heilvoll ins Bild zu setzten, hat bei Jesaja gelernt. Genauer gesagt: erst im zweiten Teil des Prophetenbuches entstehen erst diese Bilder. Das Jesajabuch muss zunächst durch ein dunkles Tal um dann den Aufbruch, den Gott schafft, zu erkennen. Wer solche Bilder, wie die des Propheten, für sich selber gewinnen will, kann sich bei ihm anlehnen. Man kann das auch in vielen Szenen des Fußballfilmes erleben. Da tritt die Angst vor dem Verlieren immer mehr in den Hintergrund. Es wird zunehmend fröhlicher und immer entspannter. Die Möglichkeit, die Meisterschaft zu erspielen, den Pokal in der Hand zu halten, schiebt sich Schritt für Schritt in den Vordergrund. Bis zum 6. Januar erreichen einzelne Worte des Propheten Jesaja immer wieder unsere Ohren. Im Advent schärft er uns die Sinne, bis es dann heißt: „Das Volk, das im Finstern wandelt sieht ein helles Licht!“ Jesaja setzt die Zukunft ins Bild und stattet die Gegenwart mit einer Perspektive aus. Er zeigt, was sein kann oder man sieht sogar, was sein wird. Die Worte Jesajas prägen uns Bilder ein, die den Advent mit Perspektiven ausstatten.

Da werden schwache Muskeln straff, die Knie, die lange gewankt haben, spüren die Richtung wieder, in die es geht. Man möchte die Bilder, die Jesaja zeigt, in sich aufnehmen und in sich weiter wirken lassen: Trübe Augen sehen, taub werdende Ohren hören, bleischwere Zungen werden gelöst, die Tiere stimmen in ein Miteinader an, die Schöpfung erholt sich von der Dürre, die sich wie eine Wüste immer weiter auszubreiten droht. Der Prophet zeichnet seine Bilder in die Landschaft ein, die uns umgibt. Er zeigt wie die Spannungen zwischen den Tieren, zwischen der Trockenheit und der vom Regen getränkten Welt zum Ausgleich streben. So bringt er Bilder ins Leben ein, die ihre Wirkung auch in dem Inneren des Menschen entfalten. Man kann mit ihnen seine eigene innere Dürrestrecken durchwandern. Viele leben in der staubigen Steppe, die sich in der Seele ausbreiten will. Jede und jeder kann sich darum von dem, was der Prophet einem mit Worten aufzeigt, motiviert fühlen. Vielleicht wollen einige, die den Propheten hören, die Arme erheben und zur Laolawelle ansetzen und jubeln: Ja, so ist es, mein Gott, so soll es sein!

„Wir werden es schaffen!“ sagt Klinsmann in der Kabine. Es ist vor dem vorletzten Spiel. Er zeigt ihnen in einer kurzen pantomimischen Bewegung die Trophäe, die die Gewinner in der Hand halten. Das „Wunder von Bern“ hatten alle vor Augen. Das „Wunder von Berlin“ schien plötzlich möglich zu werden. Es war möglich gegen alle Kritik, gegen das Gezänk in irgendwelchen Fußballgremien, eine Meisterschaft zu gewinnen. Es war sogar möglich gegen die Stimmung, die im eigenen Land die Menschen lähmt, zu spielen und zu gewinnen.

Als sie es dann nicht schaffen, sitzen die Spieler auf dem Stadionrasen. Und in unserem Wohnzimmer ist es ganz still. „Nicht geschafft!“, sagt eins der Kinder. Die Tränen sitzen wieder in den Augenwinkeln. Im Sommer haben sie geweint und unsere Amerikanische Austauschschülerin auch. Ähnlich ist es am Nikolaustag in unserem Wohnzimmer, als wir „Deutschland ein Sommermärchen“ sehen. Der Trainer, jetzt geht er von Spieler zu Spieler, er bückt sich, er streichelt. Schon in der Kabine vor dem Spiel sprachen seine Hände mit, jetzt sind die Hände nahezu wortreich. Er tröstet. Wir hören seine Worte nicht.

„Deutschland ein Sommermärchen“. Man sieht wie eine Mannschaft, die einige Jahre ganz tief im Keller der Weltliga mitgespielt hat, zusammen wächst. Dann schafft sie den Durchbruch an die Weltspitze. Am Ende die Bilder aus Stuttgart, das letzte deutsche Spiel, wunderbar, so sportlich kann Fußball sein. Und am Ende wird in Berlin gefeiert, es fehlt nicht viel, man denkt, sie halten den goldenen Pokal in der Hand. Aber der ging weiter und steht heute in Italien.

Ob Jürgen Klinsmann den Propheten Jesaja kennt, weiß ich nicht. Aber die Bilder dieses Sommers haben trotzdem ihre Wirkung nicht verfehlt. Im Hintergrund läuft immer wieder das Lied von dem Popsänger Xavier Naidoo. „Dieser Weg wird kein Leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer, nicht mit Vielem wirst du dir einig sein, doch dieses Leben bietet so viel mehr.“ Dieses „so viel mehr“ haben wir gesehen und ahnen, das das, was so ein Film zeigen kann, immer weniger ist, als wir an Hoffnung sehen wollen. Doch, wer mehr will, kann es in den Wochen mit eigenen Augen sehen. Gerade hier in der Kirche.

Es geht auf Weihnachten zu: Lassen Sie uns das „so viel mehr“ in uns aufnehmen. Da sitzen wir, wie die Spielerinnen und Spieler vor dem großen Spiel, auf den Bänken in der Kabine, angespannt, was kommen wird. Und der Prophet Jesaja geht von Mensch zu Mensch. Er spricht so eindringlich, dass wir etwas sehen können: Die einen erkennen eine neue Hoffnung, andere den Sinn, wieder andere beginnen zu glauben. Da zieht in diesen Tagen ein Bilderbogen auf, den nur Weihnachten uns bringen kann.
„Deutschland ein Wintermärchen!“ So könnte der Film heißen, der in diesen Tagen gedreht wird. Die einen sprechen vom Fest der Liebe. Zum Glück tun sie das. Doch es ist in Wahrheit ein Kind, dessen Geburt sich in den Vordergrund schiebt. Gott verzaubert durch ein Kind sein ganzes Volk. Er stiftet Bilder, die einem an das Herz rühren, die Knie stark und den Willen kräftig machen. Das wichtigste, er zeigt eine Hoffnung, die in einer kleinen, nur hart gepolsterten Krippe liegt. Dieses Bild gibt Kraft, wenn es ins Leben geht, nach draußen auf den Platz, auf dem es auch rau und hart zugeht.


Propst Henning Kiene, Kirchenkreis Süderdithmarschen
Kampstraße 8a
25704 Meldorf
propst.kiene.kksd@kirnet.de


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