Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Heiliges Christfest II, 26. Dezember 2006
Predigt zu Jesaja 11,1-9, verfaßt von Isolde Karle
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der Predigttext für den heutigen Gottesdienst steht in Jesaja 11 die Verse 1-9. Es handelt sich dabei um die berühmte Verheißung des Kommens eines Retters. Es ist eine der großartigsten Visionen der Bibel über eine Erde ohne Leid und Unterdrückung, eine Erde, die erfüllt ist von Versöhnung und Gerechtigkeit, Weisheit und Erkenntnis. Selbst die Schöpfung wird von der Herrschaft des angekündigten Retters ergriffen. Die Vision ist Ausdruck eine uralten Sehnsucht: Der Sehnsucht nach Heil auf dieser Welt, der Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, der Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit.
Ich lese den Predigttext:

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

Die jesajanische Vision ist eine „Perle der hebräischen Poesie“, wie ein Kommentator formuliert. Bemerkenswert ist die Vielfalt, Treffsicherheit und Ungezwungenheit der Bilder. Vor allem fällt die Lebendigkeit in der Beschreibung des Tieridylls auf: Wolf, Panther, Junglöwe, Bär, Löwe, Viper und Otter werden dem Lamm, dem Böcklein, dem Kalb, dem kleinen Knaben, der Kuh, dem Rind, dem Säugling, dem Kind gegenübergestellt. Dabei wird jeder Schematismus vermieden, jedes Paar bezeugt auf eigene Weise, dass Frieden eingekehrt ist. Endlich Frieden. Keine Bedrohung mehr durch unterdrückende Mächte von außen, keine Bedrohung mehr durch Selbstbezogenheit, Irrtümer und mangelnde Erkenntnis von innen, sondern Frieden. Ein Friede, der das Verhältnis von klein und groß, von Schwachen und Starken auf den Kopf stellt und uns ganz neue Spielregeln des Lebens und der Schöpfung vor Augen führt.

Es ist augenfällig: Der Friede in der Vision des Jesaja lässt sich nicht auf den inneren Seelenfrieden von Gläubigen reduzieren, während die äußeren Verhältnisse weiterhin katastrophal bleiben. Die Sehnsucht, die in den prophetischen Worten erkennbar wird, beschränkt sich nicht auf das eigene innere Erleben, sie lässt sich auch nicht in ein Jenseits oder in eine jenseitige Welt verlagern. Nein, sie hat ganz und gar irdische Dimensionen: Die Schöpfung wird miteinbezogen, das ganze Land wird voll Erkenntnis des Herrn sein wie Wasser das Meer bedeckt, nirgends wird man mehr Gottes Gebote missachten – und zwar hier, auf dieser alten und müde gewordenen Erde, nirgendwo sonst. Erkenntnis, Weisheit und Verstand werden sich endlich durchsetzen und Dummheit, Hochmut und mangelnder Einsicht ein Ende bereiten. Welch eine Vision! Wie sehr sehnte man sich ihre Erfüllung herbei!

Doch wagen wir es überhaupt noch, eine solch große Sehnsucht zu entwickeln? Ist eine solche Vision nicht gänzlich unrealistisch – oder sogar gefährlich? Wir sind skeptisch gegenüber Visionen, gegenüber allzu hochfahrenden Erwartungen geworden. Zu viele Enttäuschungen, zu viele Missbrauchserfahrungen mit großen politischen Utopien sind uns gegenwärtig. Zu oft ist das Reich Gottes auf Erden verkündet worden und die Folge waren Terror und Krieg, nicht Versöhnung und Gerechtigkeit.

Wir leiden unter diesem Leben, unter seiner Banalität und unter den katastrophalen Bedingungen, die dieses Leben vielen Menschen auf dieser Welt aufzwingt. Doch zugleich fällt es uns schwer, noch an die Vision einer gerechten und versöhnten Welt voll Weisheit und Verstand zu glauben und damit Sehnsüchte zu kultivieren, die – so hat es den Anschein – doch nur unerfüllt bleiben können.

Die Vision des Jesaja ist eine Form, mit der Zukunft umzugehen. Vielleicht erschließt sich uns ihr besonderes Potential, wenn wir die Alternativen dazu in Betracht ziehen. Ich sehe drei Möglichkeiten, mit der Zukunft umzugehen:

(1) Die erste Möglichkeit ist: Dieses Leben ist eben so wie es ist. Und daran lässt sich auch nichts ändern. Ich muss mich mit dem Leben, wie es ist, abfinden. Alles andere wäre unrealistisch. Die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, die Hoffnung, Zukunft gestalten zu können hat kaum noch eine Chance. Die Enttäuschungen und Verletzungen sind so bestimmend, dass jede Zuversicht auf ein besseres Leben, auf eine glückliche Liebesbeziehung, auf gerechtere Verhältnisse begraben ist. Fatalistisch und entmutigt ergibt man sich seinem Schicksal.

In einem Kinderbuch von Kirsten Boie über den kleinen Ritter Trenk wird diese Art der Resignation und Verbitterung eindrücklich beschrieben. Trenk ist der Junge eines leibeigenen Bauern. Der Bauer ist so arm, dass er beim besten Willen nicht seinen Abgabepflichten an den Ritter nachkommen kann. Da kommt der Büttel des Ritters, um ihn abzuholen. Es ist klar, was den Bauern auf der Burg erwartet – zu oft schon hat er es erlebt und nur knapp hat er es jedes Mal überlebt. Er wird gründlich ausgepeitscht und dann in den Kerker der Burg geworfen. Die Verzweiflung in der Familie des kleinen Trenk ist groß. Doch für die Mutter ist klar: „Wir können es nicht ändern.“ „Leibeigen geboren, leibeigen gestorben, leibeigen ein Leben lang!“. Immer wieder flüstert sie verzweifelt: „Wir können es nicht ändern.“ „Wo man nichts tun kann, da kann man nichts tun.“ Sie ergibt sich in ihr Schicksal. Das Leben ist alternativlos dunkel geworden. Es hat nicht viel mehr übrig als Leid – für die Unterprivilegierten, für die Armen, für die abgrundtief Enttäuschten und von tiefen Depressionen Geplagten.

(2) Die zweite Möglichkeit, mit der Zukunft umzugehen ist diejenige, die für uns vermutlich die typischste ist. Viele Menschen haben heute Zukunftsängste. Besonders Jugendliche sehen in globaler Hinsicht keine Zukunft mehr. Der Klimakollaps scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein – und das warme Weihnachten, das wir dieses Jahr erleben, bestätigt solche Befürchtungen einmal mehr. Das Artensterben ist beispiellos und kaum mehr rückgängig zu machen. Auch dass der internationale Terrorismus von der Bildfläche verschwindet, erscheint derzeit nicht als wahrscheinlich. Von den vielen Kriegen und Katastrophen an vielen Orten dieser Welt gar nicht zu reden.

Doch so perspektivlos viele von uns in globaler und politischer Hinsicht sind, so sehr glauben viele gleichzeitig daran, das eigene persönliche Leben erfüllt und perspektivenreich gestalten zu können. Im Hinblick auf das eigene Leben trauen wir uns in aller Regel noch, Träume und Visionen zu entwickeln. Bei Kindern und Jugendlichen sind diese Träume manchmal reichlich unrealistisch – so wollen viele kleine Jungs einmal Fußballstar werden und viele junge Mädchen träumen von einer Karriere als Schauspielerin oder als Model. Als Erwachsene sind wir abgeklärter. Und doch haben auch die meisten von uns noch Erwartungen an die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Karriere und Biographie. Oder wir verlegen unsere Träume in unsere Kinder hinein – sie sind gewissermaßen die Zukunft, für die es sich zu leben lohnt. Diese individualisierte Form der Zukunftsvision ist heute die gängigste Form. Sie ist ohne politischen Horizont und in ihren Erwartungen sehr bescheiden auf das eigene, individuelle Leben konzentriert.

(3) Damit komme ich zum dritten, zum jesajanischen Umgang mit der Zukunft. Die Vision ist ungemütlich, weil sie uns herausfordert, nicht nur bei den Hoffnungen für unser ganz kleines Leben stehen zu bleiben, sondern uns als Teil der umfassenden Welt Gottes zu verstehen. Die Vision des Jesaja mutet uns zu, uns nicht abzufinden mit dem Unheil und der Katastrophalität dieser Welt. Sie fordert uns heraus, uns nicht zu bescheiden mit dem persönlichen „pursuit of happiness“. Aber sie tut dies nicht mit erhobenem moralischem Zeigefinger, sondern indem sie aus Bildern neuen Mut wachsen lässt.

Mit eindringlichen Worten wird der Blick aus dem Denken, das einem vorspiegelt, dass global betrachtet nichts zu machen ist, herausgelenkt. Jesaja stellt uns Bilder vor Augen, die nur Gott zeigen kann – Bilder, die einem nicht das Unheil, nicht das Ende der Welt vor Augen halten und auch nicht das eigene Nichtkönnen, sondern die zeigen, was möglich ist und wie eine heilvolle Zukunft aussehen kann. Es sind Bilder, die es uns verwehren, das verzweifelte Kämpfen für eine bessere Welt und die Aidsprobleme Südafrikas nur als Aufgabe von einigen Gutmenschen zu betrachten.

Da wächst ein Zweig aus einem Stamm hervor, der in völlig ungeahnter Weise Frucht bringen wird. Dieser Zweig wird einen Geist verbreiten, den diese Welt dringend bedarf: Den Geist der Weisheit und des Verstandes, des Rates und der Stärke, der Erkenntnis und der Gottesfurcht. Schon diese Erde, nicht erst das Jenseits ist Ort der Heilsgegenwart Gottes. Genau das verbindet die Vision mit Weihnachten. Inmitten der kalten und dunklen Welt wird das Christuskind geboren und erhellt die Nacht. Das zarte und zerbrechliche Kind wird zur Hoffnung für die Hirten auf dem Feld und damit für diejenigen, die abseits des Lebens stehen. Maria, eine junge Frau, wird unter äußerst prekären Umständen die Mutter dieses Kindes. Und sogar die Tiere im Stall sind zugegen – die Schöpfung nimmt Anteil am Kommen Gottes in die Welt. Selbst ein Stern leuchtet weithin sichtbar über Bethlehem.

Ich will eine Erzählung aus unseren Tagen, die von der Heilsgegenwart Gottes zeugt, hinzufügen. Sie war am 4. Dezember (unter dem Titel „Himmlischer Lärm“) in Spiegel online zu lesen. Vor wenigen Wochen war im bayrischen Miltenberg ein großer NPD-Aktionstag geplant. Die Kundgebung wurde zuerst nicht genehmigt, später aber hat das Verwaltungsgericht in Würzburg die Veranstaltung dann doch erlaubt. Als die Anhänger der NPD in Miltenberg eintreffen, werden sie mit Trillerpfeifen eines Protestzuges empfangen. Der Lärm schwillt an. Der erste NPD-Redner setzt das Megafon an. Da entscheidet sich der katholische Pfarrer Ulrich Boom, 59 Jahre alt, zum ersten Mal in seinem Leben für eine Tat, die ihn straffällig werden lässt. Er und sein Küster verständigen sich kurz und gehen hinüber zur Kirche. Er weiß jetzt, was er zu tun hat. Sechs Glocken hängen in den beiden Türmen der St. Jakobus Kirche. Miltenberg besitzt nach Würzburg das schwerste Geläut der Diözese. Alle sechs Glocken kommen nur an Hochfesten zum Einsatz. Boom schaltet die Glocken ein, alle sechs. Boom ist beeindruckt von der Gewalt, die sich in den Türmen entwickelt. Eine wilde Freude erfasst ihn. Die Glocken lassen die Stimme Gottes sprechen. Und Gott kann laut werden. Und die Neonazis müssen verstummen. Zwanzig Minuten lässt Boom es donnern, dann schaltet er die Glocken ab. Wenig später trotten die Rechtsextremen davon. Boom bekommt ein Ermittlungsverfahren wegen Störung der Versammlungsfreiheit an den Hals, aber das war es ihm Wert.

Diese Erde ist Ort der Heilsgegenwart Gottes. Gott bleibt nicht in sicherer Distanz oben, sondern kommt selbst zu uns herab, um Unsicherheit und Angst zurückzudrängen und Menschen eine neue Zukunft zu eröffnen. Im Christuskind erscheint Gottes klares und wirksames Nein gegen allen Fatalismus und gegen bleibende Dunkelheit. Und das Christuskind entzündet die Herzen der Menschen und befähigt sie, auch in scheinbar ausweglosen Situationen Hoffnung zu verbreiten und zu handeln. Man kann etwas tun!

Das war auch die entscheidende Erkenntnis des kleinen Trenk. Der kleine Trenk findet sich nicht mit der Resignation und Verzweiflung seiner Mutter ab. Ihn packt eine unbändige Wut über soviel Ungerechtigkeit. Obwohl er es selbst kaum glaubt, flüstert er seiner Schwester zu: „Man kann etwas tun!“ Und da packt Trenk seine Sachen und macht sich auf einen langen und gefährlichen Weg, ein Wegn, der ihm und seiner Familie am Ende die Freiheit bescheren wird. Trenk hat dabei oft Angst und will immer wieder aufgeben. Aber innere Bilder der Hoffnung halten ihn aufrecht. Am Ende wird Trenk Ritter und schafft als erstes die Leibeigenschaft ab.

Wir brauchen solche Bilder – die Bilder von Jesaja und die Bilder der Weihnachtserzählung – um unsere Sehnsucht nicht zu vergessen, um unseren Schmerz an dieser Welt zu spüren und um nicht zu resignieren, sondern Gott – und uns – mehr und Nachhaltigeres zuzutrauen und dazu beizutragen, dass sich in dieser Welt Heil und Gerechtigkeit verbreiten. Das Kreuz Jesu zeigt uns, dass es dabei nicht um ein idyllisches und gefahrloses Leben geht. Es zeigt aber auch, dass diese Welt des Unheils von Gott des Heils gewürdigt worden ist und immer wieder neu zum Ort der Heilserfahrung werden kann. Amen.

Prof. Dr. Isolde Karle
Ruhr-Universität Bochum
isolde.karle@rub.de

 

 


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