Göttinger Predigten im Internet
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Heiliges Christfest II, 26. Dezember 2006
Predigt zu Jesaja 11, 1-9, verfaßt von Hansjörg Biener
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Starke Männer sucht das Land” – jedenfalls immer dann, wenn es am Boden liegt. Oder wenigstens, wenn es nach dem Urteil der Menschen immer weiter abwärts geht. Das alte Israel unterscheidet sich in dieser Hinsicht kaum von unseren modernen Ländern . Allerdings hat Israel in seiner Geschichte lernen müssen, dass viele Könige es gerade nicht gerichtet haben. Natürlich hatte Israel einige legendäre Herrscher. Aber in der Regel war es mit seinen starken Männern nicht so gut gefahren. (Jedenfalls im Urteil der Nachwelt.) Die Goldenen Zeiten Davids und Salomos waren nur noch ferne Erinnerung, als die Verheißungen gesprochen wurden, die zum Predigttext für den zweiten Weihnachtsfeiertag geworden sind. Sie stehen im Jesaja-Buch im 11. Kapitel:

„Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.
Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.
Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.
Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, daß ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.
Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.” (Jesaja 11,1-9)

Kluge Führung, Durchsetzungskraft, Gerechtigkeit für die, die Gerechtigkeit brauchen, und Frieden in der Natur verheißen diese Worte für Jerusalem und Israel. Und die Hoffnungen richten sich auf einen späten Sohn aus dem Stammbaum Isais: Jemand aus dem Königsgeschlecht der Davididen soll wieder an die Spitze des heruntergekommenen Landes treten und mehr tun, als die guten alten Zeiten wiederherstellen. Legendär waren die politischen und militärischen Erfolge eines David, legendär die Weisheit und Regierungsführung eines Salomo, legendär die Frömmigkeit eines Joschija. Aber wie eingangs gesagt: Israel hatte auch die gegenteilige Erfahrung mit seinen Führern gemacht. Ein Echo davon finden wir auch im Predigttext, denn es geht hier nicht nur um politische Verheißungen. Geradezu kosmische Umwälzungen werden für die Zeit beschrieben, wenn der späte Davidsspross seine Regierung angetreten hat: „Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern.” Da geht es nicht nur um Weisheit, Verstand, Rat und Stärke bei der Regierung, und auch nicht „nur” um Gerechtigkeit für die „Armen und Elenden”, für die sonst niemand eintritt. „Lämmer und Wölfe”, „Löwen und Kälber”, Raubtier und Haustier leben friedlich beieinander. Solche Zustände sind offensichtlich nicht mehr das Werk der Politik. (Jedenfalls, wenn man die Gentechnik noch nicht kennt.) Die gelingende Verbindung von Macht und Gerechtigkeit ist nicht mehr das Werk eines normalen Sterblichen. Es müssten schon grundlegendere Umwälzungen der Welt geschehen, wie die Naturbilder anzeigen. Und so sind diese Verse auch als „messianische Weissagungen” in den christlichen Sprachgebrauch eingegangen, als Worte über eine Zeit, in der ein Gottesmensch die Menschenwelt und die Natur neu ordnet.

Das ist die Linie, die die frühe Christenheit aufgenommen hat. Sie hat Weissagungen wie diese schon bald auf ihren Messias Jesus bezogen. Vor allem der Beiname Christus zeigt das an. Der ist ja nichts anderes als eine griechisch-lateinische Übersetzung des hebräischen „Messias”. Und in der Tat wird unser Predigttext an mehreren Stellen des Neuen Testamentes aufgenommen. Mit dieser Auslegung bekannte die Christenheit: In Jesus ist jener Gottesmensch in die Welt gekommen, mit dem die so grundlegend anderen Zeiten begonnen haben. Jesus, nach dem Zeugnis des Neuen Testaments später Nachfahre jener legendären Könige David und Salomo, - er ist begabt mit „dem Geist der Weisheit und des Verstandes, dem Geist des Rates und der Stärke, dem Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn”, wie es keinen vor ihm gab und keinen mehr nach ihm geben kann. Und mindestens das gestanden ihm nach dem Zeugnis der Evangelien ja auch seine Gegner zu: Dass er wenig darauf schaute, wen er vor sich hatte, wenn er um Gottes willen kritisierte. Ebenso wenig nahm er Rücksicht auf das Hörensagen, wenn er einen Menschen um Gottes willen in sein Herz schloss und die von ihm verkündigte Nähe Gottes in ein Leben brachte. Jesus schaute nicht auf das, was vor Augen war, sondern durch alle Fassaden hindurch auf die Herzen. Und dann praktizierte er seine eigene Gerechtigkeit. Es war eine Form von Gerechtigkeit, die darauf schaute, dass Menschen eine neue Zukunft eröffnet wurde und sie ihren Platz in der Gemeinschaft einnehmen konnten. Mindestens in der Gemeinschaft, die von ihm geführt wurde und nach dem Glaubensbekenntnis der Christenheit bis heute geführt wird. Das birgt Hoffnung für die Menschheit bis heute: Wer in seinem Leben der Gestalt Jesus begegnet, hat seine Chance für eine gute Zukunft und, wenn es nötig ist, für einen grundlegenden Neuanfang. Keiner ist schon von vorneherein durch Ruf und Stand ausgeschlossen. Heute würden wir vielleicht sagen: Keiner wird von ihm wegen seiner Herkunft und seiner Lebensgeschichte, wegen Rasse, Religion oder Geschlecht diskriminiert. Es geht vielmehr um das Leben, dem Jesus Zukunft geben will. Dass Jesus damals kein irdisches Friedensreich errichtete, geschweige denn die Natur der Welt veränderte, war zwar auch der frühen Christenheit ein Problem. Auch sie erlebte seine Herrschaft als verborgen und die Welt als widerständig. Andererseits gab es für die grundlegende Veränderung von Menschenwelt und Natur ja noch die Zeit seiner Wiederkehr, jenen zweiten Advent, „zu richten die Lebenden und die Toten” und aufzurichten einen neuen Himmel und eine neue Erde. In dieser Zukunft war dann immer noch Zeit für die Beweise der „Kraft und Herrlichkeit in Ewigkeit”. Sei es im jüngsten Gericht über das Leben der Menschen. Sei es in der Umgestaltung der Natur zu jenen Friedensbildern von Raubtier und Haustier auf derselben Weide. Für die erste Christenheit war „heute der Tag des Heils”. Jetzt galt es, sich dem Messias anzuschließen und mit ihm das Leben zu gestalten und durchzuhalten. Ich bin mir sicher, dass uns die Christenheit der ersten Stunde das auch für unsere Zeit auftragen würde. Denn das kann es ja wohl nicht sein: dass man die Gerechtigkeit und die blühenden Landschaften ganz in die Zukunft verlegt und sich mit Träumen über die Zukunft von der Verantwortung in der Gegenwart befreit. Auch wir haben heute zu leben.

Ich möchte noch eine zweite Linie des Predigttextes ausziehen. Wegen ihrer politischen Anspielungen ist diese messianische Weissagung nicht nur ein Zukunftstext, von dem die Urchristenheit eine Linie in ihre Gegenwart gezogen hat und den verheißenen Messias in Jesus, dem Christus, bekannte. Die messianische Weissagung war auch eine Kritik an ihrer Gegenwart. Und wenn man so will, steht das „Reich nicht von dieser Welt”, in das sich die Christenheit durch Jesus hineingenommen sah, in dieser kritischen Tradition. Gerechtigkeit, Weisheit, Stärke – das waren Eigenschaften, wie man sie damals von Königen erwartete, in Israel ebenso wie in seinen Nachbarländern. Und natürlich haben sich die Könige der damaligen Zeit auch gerne so gesehen. Aber beißender kann Kritik ja wohl nicht sein, als wenn man den Königen ihre Eigenschaften nimmt und in die Zukunft verlegt und auf einen Gottmenschen. Nun sind die Worte unseres Predigttextes, was das betrifft, nicht reine Vergangenheit. Gerechtigkeit nach dem Unrechtsstaat und „blühende Landschaften”, das waren Verheißungen, mit denen die Vereinigung der beiden deutschen Staaten begleitet wurde. Bis hinein in die Verheißung der Naturveränderung ähneln sich da alter Text und Politikerzitat; und wenn man die schöne neue Welt der Gentechnik überzeichnen wollte, dann könnte man vielleicht auch Löwen zu Grasfressern umprogrammieren. Obwohl: Gelegentlich werden selbst reiche Länder von Heuschrecken heimgesucht, die hinterher nur Arbeitslosigkeit hinterlassen. „Starke Männer sucht das Land” – jedenfalls immer dann, wenn es am Boden liegt. Oder wenigstens, wenn es nach dem Urteil der Menschen immer weiter abwärts geht. Nur dass man heutzutage nicht nur nach Männern, sondern auch nach starken Frauen ruft. Unsere Erfahrung zeigt: Eine echte Führungskraft ist auch heutzutage selten und eine glückliche Hand beim Regieren sowieso. Auch in diesen Weihnachtstagen ist uns diese Erfahrung nicht fremd und dringen die Klagen derer an unser Ohr, die durch Machthunger und Ungerechtigkeit anderer und durch strategische Entscheidungen einzelner auf die Verliererseite gestellt wurden.

Was können wir also lernen, die wir als Christen und Christinnen durch den „Friedensfürsten” in ein Reich so gar nicht von dieser Welt hineingenommen sind und doch noch in ganz irdischen Verhältnissen leben. Zum einen werden wir daran erinnert, von wem wir die grundlegendsten Veränderungen in dieser Welt erwarten sollten: Vom Christkind, dem Christus. Und wenn wir damit gelernt haben, dass man von Menschen nichts Übermenschliches verlangen soll, dann kann man auch das zweite lernen: Dass man von Menschen das Menschliche verlangen darf, von sich und den Führern und Führerinnen dieser Welt: Ehrliches Bemühen um Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Amen.

PD Dr. Hansjörg Biener
Neulichtenhofstr. 7
DE-90461 Nürnberg
hansjoerg.biener@asamnet.de

 


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