Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Altjahresabend (Silvester), 31. Dezember 2006
Predigt zu Johannes 8, 31-36, verfaßt von Paul Kluge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Geschwister,

vom Licht der Welt hatte Jesus gesprochen und davon, dass er selbst es sei. Im Tempel hatte er so gesprochen, am Opferstock, wohin immer viele Menschen kamen. Verwunderung hatte er ausgelöst, Empörung auch. Hatte mit Pharisäern diskutiert, Tempelbesucher hatten zugehört, neugierig und gespannt, wer den Disput gewinnen würde. Schwankend, wem sie zustimmen könnten, den angesehenen Pharisäern oder dem unbekannten Wanderprediger.

Die Pharisäer, ans Rechthaben gewöhnt, brachten ihren Gesprächspartner in Rage. „Was rede ich überhaupt noch mit euch?“ hatte Jesus schließlich gefragt. Bei den umstehenden hatte ihm das viel Sympathie eingebracht und Anerkennung für den Mut, viele hatten applaudiert. Er hatte sie eingeladen, und einige von den vielen waren seiner Einladung gefolgt. Nach knappem Gruß an die Pharisäer hatte er zusammen mit ihnen und den Jüngern den Platz verlassen, eine ruhige Ecke gesucht und gefunden. Die Jünger setzten sich auf den Boden, die Neuen scharten sich um Jesus, gespannt, was nun käme.

Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei. (Joh 8, 31 – 36)

Er sei bald wieder zurück, sagte er, und ließ die kleine Schar der Neuen stehen. Ein wenig ratlos standen sie herum, einander fremd, und keiner wagte etwas zu sagen. Einer setzte sich zu den Jüngern, andere folgten dem Beispiel. Von denen, die noch standen, meinte einer, das sei zu hoch, sei überhaupt nichts für ihn. Etwas enttäuscht stapfte er davon, und noch einige mehr verkrümelten sich. Die übrig Gebliebenen setzten sich nun auch.

„Was hat er denn nun gesagt?“ fragte einer. „Dass er uns frei machen will,“ kam die Antwort, und jemand ergänzte: „Aber wohl nicht von diesen römischen Besatzern. Das wäre mal was!“ – „Pst!“ mahnte ein anderer und zeigte mit dem Kinn in eine bestimmte Richtung. Dort schlenderte gerade zwei Besatzungssoldaten Patrouille, näherten sich auffällig zufällig der Gruppe.

Einer der Sitzenden erzählte schnell und etwas laut von seinem Souvenirladen und davon, wie gute und zuverlässige Kunden die Römer seien, und dass es überhaupt ein Segen sei, sie im Lande zu haben. So sicher hätte man schon lange nicht mehr gelebt. Die Gruppe nahm das Thema auf, die Patrouille drehte ab. Erleichtertes Aufatmen ging durch die Gruppe. „Wenn die nur das Wort ‚Freiheit“ hören, wittern die schon Aufruhr,“ bemerkte einer, aber Jesus habe ja nur Befreiung von Sünden gemeint. „’Nur’ ist gut,“ konterte ein anderer, „ist es nicht eine Schande, eine Sünde gegen den Allerhöchsten, wie manche sich mit den Römern gemein machen; hat Mose uns nicht dem Umgang mit unreinen Gojjim untersagt?“ – „Nun ja,“ begann einer abzuwiegeln, doch weiter kam er nicht. Abrupt stand der Souvenirhändler auf. Doch anstatt wegzugehen, wie alle annahmen, stellte er sich in die Mitte. „Du hast recht,“ begann er, „Mose hat es untersagt. Denn mit ihnen zusammenzuarbeiten, wie zum Beispiel die Zöllner es tun, bedeutet auch Kontakt mit ihren Göttern. Du sprichst mit den Römern, und wenn du ihnen zuhörst, hörst du ihre Götter, nimmst ihre Gedanken in dich auf. Ich weiß, wovon ich rede.“

Der Händler machte eine Pause, rang die Hände, rang mit sich. Die anderen schwiegen, etwas lag in der Luft. „Kennt einer von euch meinen Laden?“ wollte er wissen, bekam stummes Kopfschütteln als Antwort, holte tief Luft und fuhr fort: „Der Laden ist Tarnung. Hinter meinem Haus, zur anderen Straße hin, gibt es einen Lebensmittelladen, garantiert koscher. Der gehört mir auch, ist auch Tarnung. Doch dazwischen“ - er blickte zu Boden, als die anderen ihn erwartungsvoll ansahen, knetete wieder seine Hände – „dazwischen liegt unsichtbar ein fensterloser Raum. Dort treffen sich römische Soldaten mit einheimischen Spionen. Ich bekomme sogar Geld dafür. Das werfe ich regelmäßig in den Opferstock hier im Tempel. Schmutziges Geld, ich weiß, darum soll mit ihm Gutes getan werden. Die Priester achten mich wegen meiner Spenden, aber ich fühle mich als Verräter, bin es wohl auch.“ Er wischte sich die Augen, schnäuzte sich, sah in die Runde, Scham und Angst im Gesicht.

Alle in der Runde blickten zu Boden, keiner rührte sich. Kein Stein wurde gehoben, kein Stock, keine Faust geballt. Eines Tages, erzählte der Händler weiter, seien ein paar Römer gekommen. Einer habe gefragt, ob die beiden Häuser miteinander verbunden seien und dass sie das überprüfen müssten. Dann das Angebot, verbunden mit der Drohung, andernfalls die Tochter für die Offiziere mitzunehmen, den Sohn als Sklaven. „Konnte ich anders als ‚Ja’ sagen?“ fragte der Händler in die Runde. Allgemeines Kopfschütteln als Zustimmung oder Unverständnis, einige zuckten die Schultern.

„Setz dich zu mir,“ sagte, der vorhin von Sünde und Schande gesprochen hatte, „ich verstehe dich. Ich hab vorhin so scharf formuliert, weil ich, nun ja, also, weil ich – auch für die Römer arbeite. Ich habe mich selbst angeklagt. Ich kann Latein und arbeite als Übersetzer, vor allem bei Verhören und Gerichtsverhandlungen. Manchmal kann ich unseren Landsleuten helfen, meistens aber nicht. Denn die Römer verhören so, dass sie ihren Verdacht bestätigt bekommen. In dubio pro reo ist Theorie, die Praxis der Besatzer sieht anders aus. Von mir erfahren die Angeklagten dann ihr Urteil, hart zumeist, sehr hart. Und ich sehe dann ihre entsetzten Blicke, ihre Angst, ihre Vorwürfe. Dann fühle ich mich jedes mal wie ein -, nein, als Verbrecher und jeder Abscheu würdig.“

Einer aus der Runde stand auf, spie auf die Erde und ging ohne ein Wort, ein zweiter folgte ihm, keine Zeit mehr zu haben als fadenscheinige Entschuldigung murmelnd. Auch Petrus erhob sich, er wolle mal nach Jesus sehen. Der habe sich wohl mal wieder in einen Disput begeben.

Doch Petrus war noch nicht weit gegangen, da traf er den Vermissten. Der saß, an eine Mauer gelehnt, und schlief. Petrus räusperte sich vernehmlich, Jesus schlug die Augen auf. „Was gibt’s,“ fragte er etwas ungehalten. Petrus hockte sich neben ihn und flüsterte ihm ins Ohr, was er soeben von zwei der Neuen gehört hatte, und ob er die nicht besser wegschicken solle. So unverhofft schnell setzte Jesus sich auf, dass Petrus umfiel. „Wer zu mir kommt,“ sagte Jesus ziemlich scharf, „der ist willkommen. Und wer gehen will, der kann gehen.“ Er stand auf, reichte Petrus die Hand, um ihm auf zu helfen. „Wenn jemand eine Schuld, eine drückende Last auf seiner Seele offen ausspricht, dann reiche ihm die Hand. Richte ihn auf, damit er wieder Boden unter den Füßen spürt und merkt, dass er sich frei bewegen kann. Dem, der sein Herz erleichtert hat, soll man es nicht wieder schwer machen. Merk dir das.“

Dass Jesus ihn so maßregelte, ärgerte Petrus, er hätte gern aufbegehrt. „Du musst noch viel lernen,“ hörte er Jesus sagen; Petrus reagierte nicht, doch im Stillen gab er ihm recht. Dass er den Ruf Jesu genutzt hatte, um Frau und Kinder zu verlassen, das lastete noch auf seiner Seele, darüber wollte er schon lange mal mit Jesus reden. „Besser wohl mit allen,“ dachte er, als sie bei der Gruppe ankamen. Alle saßen im Kreis, hielten sich an den Händen und sangen, der Händler und der Übersetzer strahlten. Jesus und Petrus setzten sich dazu, stimmten ein in den Psalm 32*: „O Glück dessen, dem Abtrünnigkeit getragen, Versündigung zugehüllt ward! O Glück des Menschen, dem eine Verfehlung nicht zurechnet ER, da in seinem Geiste kein Trug ist! Als ichs verschweigen wollte, morschten meine Gebeine von meinem Geschluchz alletag, denn tages und nachts wuchtete auf mir deine Hand, verwandelt war mein Saft in Sommerdörrnisse. Meine Sünde wollte ich dir kundtun, mein Fehlen verhüllte ich nicht mehr, ich sprach: »Eingestehen will ich IHM meine Abtrünnigkeiten!« - und du selber trugst den Fehl meiner Sünde. Um dies bete jeder Holde zu dir in der Stunde des Findens! Beim Anspülen vieler Wasser, gewiss, an ihn gelangen sie nicht. Du bist mir ein Versteck, vor der Drangsal bewahrst du mich, mit dem Jubel des Entrinnens umgibst du mich. »Ich will dir eingeben, ich will dich unterweisen im Weg, den du gehn sollst, raten will ich, auf dich ist mein Augenmerk. Nimmer seid wie ein Pferd, wie ein Maultier ohne Verstand, mit Zaum und Halfter muss man bändigen seine Wildheit, sonst dürfte nie es dir nahn!« Viele Schmerzen hat der Frevler, wer aber sich sichert an IHM, den umgibt er mit Huld. Freut euch an IHM, jauchzt, ihr Bewährten, jubelt auf, all ihr Herzensgeraden!“ Amen

Gebet: Guter Gott, am Abend dieses Jahres gehen unsere Gedanken zurück zu dem, was war. Doch nicht alles, was war, liegt hinter uns. Wir nehmen manches auf unserem Weg durch die Zeit mit. Einiges hat uns Kraft gegeben, Hoffnung und Zuversicht; es geht mit uns in das neue Jahr und wird uns weiterhin tragen. Dafür sagen wir Dank. Anderes tragen wir mit uns, das uns belastet, uns das Leben schwer macht. Uns fehlt der Mut, uns davon frei zu machen. Wir bitten um deine Hilfe.

Guter Gott, am Vorabend eines neuen Jahres gehen unsere Gedanken nach vorn. Was kommen kann, macht uns bangen und hoffen. Beides aber kann uns einengen und unfrei machen, dass wir für deine Wege mit uns nicht frei sind und auf Abwege geraten. Jeder Schritt weg von dir führt uns in Unfreiheit und Knechtschaft. Aus deren Tiefe zu dir zu rufen, dass auch andere es hören, macht uns frei. Dies lass uns tun, bevor wir ganz unten sind. Denn wir wissen, dass du uns die Hand reichst, bevor wir versinken.

Guter Gott, was wir aus diesem Jahr mitnehmen in das neue, was uns trägt und woran wir zu tragen haben, bringen wir vor dich und beten gemeinsam: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen

* Psalm 32 in der Übersetzung von Martin Buber

Paul Kluge, Diakoniepfarrer i. R.
Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de

 


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