Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Altjahresabend (Silvester), 31. Dezember 2006
Predigt zu Johannes 8, 31-36, verfaßt von Hermann Lichtenberger
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wahre Freiheit

Wir blicken heute zurück auf das vergangene Jahr mit seinen Freuden und Leiden, seinem Glück und seinem Schmerz, auf Geburt und Tod. Wir fragen uns an diesem Tag auch, was aus unseren Vorsätzen geworden ist, zum Beispiel dem, sich in diesem Jahr nicht mehr durch andere bestimmen zu lassen, sich nicht mehr den Terminkalender durch Fremde füllen zu lassen, nicht mehr nach der Pfeife anderer zu tanzen, sondern sich endlich Freiräume zu schaffen, um selbstbestimmt das berufliche und persönliche Leben zu führen, ja, endlich frei zu sein.

Was macht frei? Viele Rezepte begegnen auf dem Markt der Möglichkeiten: „Stadtluft macht frei“ lockte bereits im Mittelalter in die Städte, heute versprechen Lernen und Bildung Freiheit, Geld und Erfolg. Die einen erhoffen sich Freiheit im Erinnern, andere im Vergessen, und uns bleibt das Wort im Halse stecken, wenn wir an die zynischste Variante denken, die menschliche Bosheit ersann, und die über dem Tor zur Hölle von Auschwitz stand: „Arbeit macht frei“.

Es wird uns bewusst, dass Welten zwischen den unterschiedlichen Definitionen von Freiheit stehen, und die Art und Weise, wie sie erlangt wird, noch verschiedener sind. Jenseits einer solchen fast willkürlichen und darum orientierungslosen Beliebigkeit spricht Jesus im Predigttext des heutigen letzten Tages des Jahres 2006 in ganz pointierter Weise von Freiheit und wie sie zuteil wird.

Der Abschnitt steht in einem sich in der Polemik gegen Juden ins Unerträgliche steigernden Dialog. In der Gesprächsphase unseres Textes ist der Ton noch ruhig, geradezu werbend und zunächst an solche gerichtet, die zum Glauben an Jesus gekommen sind. Sie sind dann in Wahrheit seine Jüngerinnen und Jünger, wenn sie in seinem Wort bleiben. „Bleiben“ ist das sich in Anfechtung und Anfeindung vertrauensvolle Bergen in Christus und seinem Wort. Bleiben bei Jesus ist nur möglich, weil er in uns bleibt, wie im Bild vom Weinstock und den Reben (Kap. 15) vor Augen geführt wird, und das seinen Ausdruck in der Liebe Jesu zu den Seinen und in ihrem Bleiben in seiner Liebe und in der Liebe untereinander findet. Bleiben „in meinem Wort“ gleicht einem schützenden Raum, in dem Licht und Liebe begegnen. In ihm wird uns Leben geschenkt, das alles übertrifft, was wir uns als Leben vorstellen können. Hier wird die Wahrheit erkannt und in der Wahrheit die Freiheit geschenkt.

Wahrheit ist hier, wie überhaupt für das Johannesevangelium, nicht eine abstrakte Idee, sondern ganz konkret das in Jesus geschenkte Heil. Wie Wahrheit in der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung Inbegriff und Zusammenfassung des den Menschen geoffenbarten und zukommenden Heils Gottes ist, so ist Wahrheit im Johannesevangelium der Inbegriff des in der Inkarnation, im Wohnen des Wortes unter uns und in Kreuz und Erhöhung geschenkten Heils in Jesus Christus. Nur so erschließt sich all das, was in der Wahrheit erkannt wird: Der Heilswille Gottes für alle Menschen und die Sündenverfallenheit aller. Im Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt, erkennen wir Gottes Liebe in Christus und unsere Schuld zugleich. Die Erkenntnis der Wahrheit, die Jesus selbst ist, und das Gewahrwerden, wer wir sind, macht uns frei. Frei von dem Wahn, dass wir je unsres eigenen Glückes Schmied sein sollten oder könnten. Frei auch von dem Irrtum, wir könnten uns selbst mit guten Vorsätzen und festem Willen selbst befreien. Die Erkenntnis der Wahrheit führt zur Einsicht in unsere wahre Situation, dass wir nämlich, johanneisch gesprochen, ohne das Bleiben bei Jesus in der Finsternis leben. Wie tief diese Finsternis ist, wird erst erkennbar durch den, der das Licht des Lebens ist. Aus dem Wandel in der Finsternis trete ich in das Licht, das Leben ist.

Im Dialog, den Jesus in unserem Text führt, ruft das Stichwort vom „Befreien“ ein Gegenargument auf den Plan. Wovon, so fragen Jesu Gesprächspartner, sollen wir befreit werden? Als Kinder Abrahams sind wir doch nie Sklaven, sondern immer Freie gewesen! Nur Sklaven bedürfen der Befreiung! Wie wahr – aber Jesus korrigiert das Missverständnis: Er hat nicht von Leibeigenschaft und Sklaverei gesprochen, sondern von der Versklavung unter die Sünde. Wer sündigt, ist Sklave der Sünde. Paulus macht diese verzweifelte Situation des Menschen ohne Christus in dramatischen und höchst anschaulichen Bildern klar: Wie ein Sklave bin ich verkauft unter die Sünde, wie ein Kriegsgefangener werde ich im Gesetz der Sünde gefangen gehalten. Ich elender Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leibe retten? (Röm 7). Allein in Jesus Christus ist die Rettung: „Wenn euch der Sohn befreit, werdet ihr wirklich frei sein.“ Der Sohn kann wie der Vater den Versklavten die Freiheit geben: Die Freiheit von der Sklaverei des Bösen, die uns immer tiefer in Unfreiheit verstrickt. Aber auch die Freiheit von der Versklavung an uns selbst, die wir bei allem Guten, das wir beabsichtigen, immer nur die Gebrochenheit unserer eigenen Existenz erfahren. So befreit, brauchen wir keine Herren mehr zu fürchten, weder die, die sich uns aufdrängen, noch die, die wir uns selbst schaffen.

Am heutigen Tag blicken wir zurück. Wir sehen auf dies Jahr, was es uns bedeutet hat, was es uns gab, was es uns unverdient schenkte, was es uns vorenthielt, was es uns nahm. Ein Jahr, in dem wir viel Freundlichkeit und unerwartetes Glück empfangen haben. Ein Jahr, in dem auch wir vielleicht versuchten, etwas mehr Freundlichkeit in unsere Welt zu bringen, und in dem wir doch schuldig geworden sind.

Unser Predigttext richtet den Blick zunächst auch zurück. Nicht aber auf uns, sondern auf Jesus und den in Weihnachten offenbar werdenden Heilswillen Gottes in seinem Sohn. Das lenkt den Blick nach vorne in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes: „Wenn euch der Sohn befreit, werdet ihr wirklich frei sein“! In dieser Freiheit können wir getrost die Lasten des alten Jahres hinter und lassen und befreit von ihnen als Jesu wahre Jüngerinnen und Jünger in das Neue Jahr gehen, in dem bei uns zu bleiben er zusagt.

„Erhalt uns in der Wahrheit,
gib ewigliche Freiheit,
zu preisen deinen Namen
durch Jesus Christus. Amen.“ (EG 320,8)

Liedvorschlag: EG 58 vollständig auf den Gottesdienst verteilt singen

Prof. Dr. Hermann Lichtenberger
Evangelisch-theologische Fakultät
Liebermeisterstr. 12
72076 Tübingen
e-mail: hermann.lichtenberger@uni-tuebingen.de

 


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