Göttinger Predigten im Internet
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Neujahrstag, 1. Januar 2007
Predigt zur Jahreslosung 2007, verfaßt von Paul Kluge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Jahreslosung 2007, Jesaja 43,19a:
Gott spricht: Siehe, nun schaffe ich Neues, schon sprosst es, gewahrt ihr es nicht?       

Liebe Geschwister,

dieses Wort aus dem zweiten Teil des Jesajabuches will uns als Jahreslosung durch das noch neue Jahr begleiten, und dazu scheint es gut geeignet: Von Neuem ist die Rede und dass es schon sprosst. Noch kaum wahr zu nehmen, aber doch: Es sprosst. So wie zu dieser Jahreszeit Schneeglöckchen und Krokus sprossen Wir sehen nichts davon, doch bald schon werden sie es uns zeigen, und wir werden uns daran erfreuen. Nun könnte ich mit Ihnen phantasieren, was sonst noch alles so sprosst, um uns im neuen Jahr zu erfreuen. Doch ganz so einfach geht das nicht, das würde dem Text nicht gerecht und wäre zudem ziemlich platt. Derlei Plattitüden überlasse ich gern den Esoterikern unserer Zeit.

Die Jahreslosung entstammt einer längeren Rede des zweiten Jesaja. Er wird heute so genannt, weil sein Name unbekannt ist; seine Predigten stehen in den Kapiteln 40 bis 55 des Jesajabuches. Er lebte mit seinen gefangenen und verschleppten Landsleuten in Babylon; rein hypothetisch und mit viel Phantasie könnte es Baruch sein, der persönliche Referent Jeremias. Ich nenne ihn heute Baruch, den Gesegneten. In einer seiner Predigten sagt er unter anderem: (VV 14 – 21 ...)

Die das zu hören bekamen, trugen das schwere Los babylonischer Umsiedlungspolitik. Nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 586 vor Christus hatte Nebukadnezar nur die Arbeiter und Bauern im Land gelassen; mit denen war eh kein Staat zu machen. Mit den Alten und Kranken auch nicht, auch sie durften im Lande bleiben. Die Bürgerlichen aber und die Gebildeten, die Priesterschaft und den Adel hatte Nebukadnezar aus ihrer Heimat verschleppt; sie, die über genügend Bildung und Erfahrung verfügten, ein Staatswesen zu organisieren, sie hatte er sich als Arbeitssklaven ins Land geholt. Die zurückgelassenen Arbeiter und Bauern hatten vor allem die Besatzungstruppen zu versorgen, die Verschleppten aber mit ihrem Wissen und Können den neuen Herren zu dienen.

Das war mehrfach bitter: Da war der Verlust der Heimat, der Verlust von Hab und Gut, von Freunden und Verwandten. Da war der Verlust genossenen Ansehens und empfangener Ehren, der Verlust des guten, über Generationen aufgebauten Namens der Familien auch. Da war der Verlust eigener Kultur und Sprache, der Verlust von Identität. Und da war der Verlust des Tempels als dem Ort, der das Volk geeint hatte. Jetzt waren die Söhne und Töchter Abrahams, frei geboren und nur ihrem Gott untertan, fremder Leute Knechte und Mägde. Mussten gehorchen, wo sie zuvor angeordnet hatten, mussten säen ohne davon zu ernten, Häuser bauen ohne darin zu wohnen, mussten weben ohne den Stoff zu tragen. Das war entwürdigend, und deshalb fiel alles Schwere doppelt schwer.

Unter den Verschleppten war auch Baruch. Er hatte für den Propheten Jeremia gearbeitet, viel von ihm gelernt und war ihm vertraut gewesen. Jeremia durfte wegen seines Alters im zerstörten Jerusalem bleiben. Baruch litt wie seine Mitgefangenen, und es war vor allem ein Leiden der Seele. Doch während viele mit Gott haderten und vorwurfsvoll fragten, wie Gott das habe zulassen können, während andere an Gott zweifelten und ihren Glauben verloren, auch wegwarfen, hielt Baruch seinen Glauben fest. Der gab ihm Kraft, gab ihm Hoffnung, sogar Zuversicht. Damit wurde das Leiden etwas erträglicher, der Blick freier für ein Leben unter den herrschenden Bedingungen, so schlimm sie auch waren.

Baruch begann, von seinem Glauben zu erzählen, von seiner Hoffnung. Griff auf das zurück, was er von Jeremia gelernt und was der ihm als Vermächtnis ins Exil mitgegeben hatte. Anders aber als Jeremia, der vergeblich vor dem gewarnt hatte, was nun eingetreten war, erkannte Baruch, dass die Menschen Trost brauchten, dass er sie aufbauen, ihnen Leben eröffnen und Hilfe zum Leben anbieten musste.

Dafür nahm er sich zweierlei vor: Zum einen wollte er die Hoffnung auf Rückkehr wach halten und nähren. Denn kein Zustand auf Erden ist von ewiger Dauer. Zwölf Jahre mag ein Unrecht dauern, vielleicht auch 40, doch es vergeht. Zum anderen wollte er die Menschen anregen, sich in ihrer Gegenwart einzurichten. Denn was war, ist gewesen, lässt sich nicht wieder herstellen, auch der schönste Augenblick verweilt nicht und auch nicht der schlimmste. Doch der Blick in die Vergangenheit kann helfen, in der Gegenwart die Zukunft vorzubereiten. Das Leben aber spielt in der Gegenwart und soll so angenehm wie möglich sein.

Baruch begriff die Menschen nicht, die mit verklärtem Blick von früher sprachen, dadurch ihr Leiden an der Gegenwart noch verstärkten. Ihnen galt seine besondere Sorge, denn weder die Möglichkeiten der Gegenwart sahen sie noch sahen sie überhaupt eine Zukunft. Sie lebten ohne Perspektive und ohne Realitätsbezug. „Blickt zurück in euer Leben,“ forderte Baruch sie auf, „blickt auf das Schwere, das ihr durchgemacht habt, auf Gefahren, die ihr überstanden habt, blickt auf alles, was euer Leben bedroht hat: Ihr habt all das überlebt, ihr lebt und werdet weiter leben. Blickt zurück in die Geschichte: Als unser Volk zwischen dem Roten Meer und dem ägyptischen Heer in auswegloser Lage war, hat Gott ihm da nicht einen Weg durch die Fluten eröffnet, hat er da nicht die drohende Vernichtung vernichtet? Und hat er nicht, als Körper, Geist und Seele vor lauter Wüste zu verdursten drohten, lebendiges Wasser sprudeln lassen? Blickt zurück in euer Leben, blickt zurück in die Geschichte: Gott hat uns nicht immer vor Schlimmem bewahrt, denn das meiste davon kommt von Menschen. Aber er hat uns stets daraus, stets davon befreit. Aus jeder Angst, Not und Gedränge hat er euch auf geraume Bahn geführt – und deshalb können wir darauf rechnen, dass er auch fürderhin so handeln wird. Verlasst euch drauf, und nehmt euer Schicksal an.“

Manche derer, die ihn so reden hörten, schüttelten die Köpfe über ihn, fanden sein Vertrauen unglaublich, zweifelten gar an seinem Verstand. Einige verdächtigten ihn gar der Kollaboration mit den Babyloniern, unterstellten ihm, in deren Auftrag für bessere Stimmung unter den Gefangenen zu sorgen, um Aufruhr zu verhindern. Noch andere wurden nachdenklich, denn sie sahen im Rückblick manche Bewahrung, manche Befreiung, die sie erlebt hatten. Erkannten, dass nicht Not und nicht Gefahr das Wichtigste in ihrem Leben waren, sondern die Bewahrung in, die Befreiung aus Not und Gefahr.

Je länger sie darüber nachdachten, auch miteinander darüber sprachen, um so mehr veränderte sich ihr Blick auf die Gegenwart, ihr Blick in die Zukunft. „Das Leben ist nun mal schwer, was soll ich es mir selber durch Jammern und Klagen noch schwerer machen!“ stellte einer fest, und ein anderer ergänzte: „Wenn ich mich an der Gegenwart nur reibe, reibe ich mir die Seele wund und am Ende mich selber auf. Damit kann ich keinem Menschen nützen.“ Woraufhin ein dritter einwarf, das bedeute aber nicht, alles hinzunehmen und zu schlucken, Unrecht und Ungerechtigkeit zum Beispiel. Das aber, meinte der zweite, sei nur möglich, wenn man offene Augen für die Gegenwart habe. Dann könne man sehen, was für die Zukunft geändert werden müsse. „Wir müssen das Beste draus machen,“ stellte der erste fest. „Von der Vergangenheit zu träumen, macht zwar unzufrieden, aber nicht satt.“ – „Baruch hat schon recht,“ bestätigte der dritte, „als Volk und als Menschen sind wir immer wieder in tiefstes Dunkel geraten, und besonders aus dunkelsten Tiefen haben wir dann zu Gott gerufen. Immer wieder sind wir durchgekommen und herausgekommen. Das wird wohl auch so bleiben: Gott wird Neues schaffen. Vermutlich sprosst es schon, und wir werden es nur nicht gewahr. Lasst uns die Augen offen halten.“ Amen

Gebet: Guter Gott, wenn wir auf das zurückblicken, was war, können wir erkennen, dass und wie du uns geführt hast: Aus manchem, das uns gefangen halten wollte, hast du uns befreit; in mancher Gefahr hast du uns bewahrt, in mancher Not geholfen, hast uns aus manchem Dunkel wieder ins Licht geführt. Dafür wollen wir dir heute danken.

Manchmal aber blicken wir zurück und sehnen uns nach dem, was war, sehnen uns nach Verloren- und Untergegangenem. Oft fällt es uns dann schwer, unsere Gedanken zu lösen und auf unser Heute zu richten. Oft auch verklären wir Vergangenes und erleben dadurch die Gegenwart als nur schlecht und böse. Darum bitten wir dich heute: Lass uns die Gegenwart und unser Los in ihr annehmen, lass uns Gutes dankbar annehmen und gegen Böses angehen.

Guter Gott, was das neue Jahr, was die Zukunft bringt, wissen wir nicht. Doch da du uns bis hierher gebracht hast, vertrauen wir darauf, dass du auch mit uns in die neue Zeit ziehst. Darum können wir getrost und zuversichtlich nach vorn blicken und dir unsere Wege befehlen. Was wir erhoffen und was wir befürchten, bedenken wir in der Stille ...

Hoffnungen und Ängste der Menschen in Nord und Süd, in Ost und West bringen wir vor dich, indem wir gemeinsam beten: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen

Herr, nun segne uns und behüte uns. Lass du leuchten dein Angesicht über uns und sei uns gnädig. Erhebe dein Angesicht auf uns und gib uns deinen Frieden. Amen

Gesänge: 58, 1 – 5; 295, 1 - 4; 72, 1 – 3; 164, 1

Paul Kluge, Diakoniepfarrer i. R.
Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de


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