Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Neujahrstag, 1. Januar 2007
Psalm 1, verfaßt von Konrad Stock
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Anleitung zum Glücklich-Sein

„Glücklich der, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen,
sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!
Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl.
Aber so sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu, die der Wind verstreut.
Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten.
Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht.“ (Ps.1)

I

Eine Anleitung zum Glücklich-Sein haben wir hier vor uns. Sie regt uns an, uns darauf zu besinnen, daß das Leben des Glaubens ein glückliches Leben ist. Sie stößt uns an, einmal darüber nachzudenken, daß der Glaube eine Lebenskunst ist:

gewiß eine besondere, eine eigenartige, eine manchmal schwierige und immer wieder auch äußerst schwierige Lebenskunst, aber doch eine Lebenskunst.

Er ist die Kunst, ein sterbliches Leben zu führen - also eine Lebenskunst, die bis in die Stunde des Todes reicht und durch sie hindurch!

II

Nun können wir uns heutzutage über einen Mangel an Anleitungen zum Glücklich-Sein nicht beklagen.

Die Werbung suggeriert es rund um die Uhr: es fehlt dir nur noch dieses eine Ding zu deinem Glück: die Schokolade aus der Milch der glücklichen Kühe oder das Konto bei der richtigen Bank oder das Parfum mit dem bezeichnenden Namen „Eternity“. Oder sollte es nicht besser das Parfum namens „Chance“ sein?

Das Glück der Erde liegt bekanntlich auf dem Rücken der Pferde. Und wem das Reiten zu riskant oder zu teuer ist, der kann mit einem Billig-Flug um 19 Euro zu den letzten Paradiesen dieser Erde vorlieb nehmen: dorthin, wo man dem Alltag entkommt, in dem wir doch den ganz normalen Katastrophen in den Krisengebieten dieser Erde und in den eigenen Lebensgeschichten nicht entkommen können.

Und wer es noch etwas anspruchsvoller mag, geht in die nächste Buchhandlung und kauft sich eine „Philosophie der Lebenskunst“ oder einen Band aus der „Bibliothek der Lebenskunst“. Die bildet uns garantiert darin aus, unseres Glückes Schmied zu sein und unser Leben mit dem Schmieden unseres Glückes zuzubringen.

III

Ich fürchte freilich, daß alle diese einfachen oder anspruchsvollen Anleitungen zum Glücklich-Sein etwas ausblenden, was doch auch zu unserem Leben gehört und was in der Erfahrung des Glaubens immer gegenwärtig ist.

Sie blenden zunächst das Unglück und das vielgestaltige Leiden aus.

Der Dichter, der den 1. Psalm gedichtet hat, übersieht das nicht. Er bringt es zwar nur nebenbei zur Sprache; aber er leitet mit diesem Psalm ganz grundsätzlich und ganz gezielt in das Buch der Psalmen ein, in den Psalter, in Israels Gebetbuch und Gesangbuch. Und darin kommt nun wahrlich bewegend und überwältigend das vielgestaltige Leiden zum Ausdruck, das einem Menschen immer wieder auferlegt wird:
das Leid vieler Entbehrungen, das Leid des Hungers und der Armut, das Leid der Flucht und der Vertreibung, das fünfzig Jahre lang öffentlich verschwiegen worden war;
das Leid einer langen und immer längeren und schließlich unheilbaren Krankheit;
der Tod der Eltern, der Tod des Mannes oder der Frau, der Tod eines Freundes, der Tod eines Kindes.

Das Buch der Psalmen lehrt zu klagen und zu trauern. Und wem es in seinem Unglück an Worten der Klage und der Trauer fehlt, der findet dafür in den Psalmen eine Sprache, eine genaue, eine ergreifende Sprache.

Ja, zur Lebenskunst des Glaubens gehört es, eine Sprache des Leidens zu lernen: eine Sprache, in der wir leiden können und in der wir fremdes Leid mitfühlend auf uns nehmen können. Eine Lebenslehre, die nicht auch dazu anleiten würde, wäre ihres Namens gewiß nicht wert.

IV

Aber in der Erfahrung des Glaubens ist noch etwas anderes gegenwärtig; etwas, was im 1. Psalm ganz stark in den Vordergrund rückt und ihm einen ernsten und eindringlichen Ton verleiht: das ist die Möglichkeit und die Gefahr, daß das Leben im wahrsten Sinne des Wortes scheitern und fehlgehen kann. Für das Leben des Glaubens ist es jedenfalls typisch, vor dieser Möglichkeit und vor dieser Gefahr nicht die Augen zu verschließen, nichts zu verdrängen, nichts zu beschönigen.

Bosheit ist nämlich etwas Reales. Und wo und wann immer sich Bosheit manifestiert, da ist das doch kein bloßer Zufall oder etwas ganz Natürliches wie das Zähneklappern in der Kälte. Nein, wo und wann immer Bosheit sich manifestiert, liegt ein Entschluß zugrunde. Böses wird gewollt und gewählt, weil es - jedenfalls im Augenblick der Wahl - etwas Gutes zu sein scheint. Und es scheint etwas Gutes zu sein, weil man sich im Augenblick des Wollens und des Wählens vom Leben entfernt. In einem solchen Augenblick geht einen das Leben in seiner Ganzheit und in seiner Fülle nichts mehr an.

In einem solchen Augenblick geht einen nichts mehr an, daß das Leben uns Menschen allen gemeinsam ist. Und es geht einen nichts mehr an, daß dieses uns Menschen allen gemeinsame Leben Gottes Leben ist: Leben, das in Gottes Leben gründet; Leben, mit dem Gott eine Geschichte hat und eine Geschichte gestaltet.

In einem Augenblick, in dem Böses gewollt und gewählt wird, als wäre es das Gute, geht einen dieser Zusammenhang des Lebens offensichtlich nichts mehr an.

Und nun ist es für das Leben des Glaubens offenbar typisch, daß es sich dieser Möglichkeit und dieser Gefahr - sich das Leben nichts mehr angehen zu lassen - hellauf bewußt ist. Und weil es sich dieser Möglichkeit und dieser Gefahr hellauf bewußt ist, sucht das Leben des Glaubens einen Weg, sich diesen Zusammenhang des Lebens immer wieder angehen zu lassen. Dazu leitet der Dichter des 1. Psalms an. Die Lebenslehre, die er mit einigen wenigen poetischen Bildern lehrt, ist wirklich ihres Namens wert.

V

Das Schlüsselwort in dieser Anleitung zum Glücklich-Sein lautet: Sinnen. Sinnen über dem Gesetz Gottes - und zwar bei Tag und bei Nacht, regelmäßig, kontinuierlich, in hellen Zeiten und in dunklen Zeiten.

Sinnen. Ein selten gewordenes, ein schönes Wort. Es erinnert uns an die Praxis der jüdischen Glaubensgemeinschaft, in der Bibel nicht stumm und schweigend, sondern halblaut murmelnd zu lesen, so als spräche das Buch mich direkt und unmittelbar an.

Sinnen bedeutet so viel wie das meditierende Lesen, das Wiederkäuen, wie es das Mönchtum in seiner Geschichte übte und noch übt. Sinnen meint so viel wie das angestrengte, das konzentrierte Suchen nach Sinn. Und natürlich nicht nach irgendeinem beliebigen oder willkürlichen, sondern nach dem authentischen, dem wahren Sinn. Es meint so viel wie das Suchen nach der Wahrheit, die im Buch der Heiligen Schrift geschrieben steht und die zu lesen und zu studieren und lesend und studierend zu finden ist. Ja, gegenüber aller gottlosen und boshaften und spöttischen Vergessenheit geht der Glaube von dieser begründeten Erwartung aus: es gilt, über dem Gesetz Gottes, wie es in der Heiligen Schrift gewiß in höchst irdischer Weise zur Sprache kommt, zu sinnen, wenn es uns mit dem Glücklich-Werden und dem Glücklich-Sein ernst ist.

Denn Gottes Gesetz oder - wie man heute gerne übersetzt - Gottes Weisung will ja in dieser gewiß ganz und gar irdischen Auslegung nichts anderes erreichen, als in den Zusammenhang des Lebens einzuweisen, von dem ich vorhin gesprochen habe. Es will in den Zusammenhang einweisen, in dem unser eigenes jetziges gegenwärtiges Leben mit dem Leben der Nächsten und der Fernsten steht, die mit uns gleichzeitig sind. Und es will uns in den Zusammenhang einweisen, in dem das Leben aller Menschen mit dem Leben Gottes des Schöpfers steht, der als ihr Schöpfer auch ihr Retter und ihr Vollender ist. Es will uns also einweisen in eine Lebenspraxis, die diesen Zusammenhang des Lebens als die großartige überschwängliche Gabe versteht, die immer schon gegeben ist.

Sinnen über dem Gesetz Gottes, wie es in der Heiligen Schrift gewiß auf eine immer wieder irdische Weise gesucht wird, heißt also so viel wie: über diesen Zusammenhang nachsinnen; und über diesen Zusammenhang nachsinnen heißt so viel wie: ein Leben führen, das sich angesichts der Möglichkeit und der Gefahr der Bosheit dem Guten widmet. Der Dichter des 1. Psalms stellt uns ein Lebensglück vor Augen, das sich der Lust und der Freude am Guten verdankt. Und die Lebenskunst des Glaubens besteht darin, auch in der Dunkelheit des Klagens und des Trauerns und auch im hellwachen Bewußtsein des Bösen in uns selbst dieser Lust und dieser Freude zu leben. Sie besteht - anders gesagt - darin, immer wieder die eigene Verantwortung in dem großen Zusammenhang des Lebens zu entdecken. Und diese Lebenskunst ist verheißungsvoll. Sie läßt das Leben zu einem Baum werden, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Das Sinnen ist also nicht vertane Liebesmüh; es trägt vielmehr Früchte, reiche Früchte.

VI

Leicht gesagt. Schwer getan.

Das Sinnen über dem Sinn der Heiligen Schrift als zuverlässiger Weg zum Sinn unseres Lebens und damit zu seiner Lebenslust und Lebensfreude war schon immer gefährdet. Heute jedoch scheinen die äußeren, die sozialen Bedingungen für einen solchen Prozeß des Sinnens objektiv schlecht zu sein.

Natürlich ist das Sinnen über dem Sinn der Heiligen Schrift und das Entdecken ihres Sinnes letzten Endes ein höchst persönliches und unverfügbar-freies Ereignis. Es läßt sich nicht erzwingen. Wo es gelingt und dauert, gelingt es und dauert es kraft der Gabe des göttlichen Geistes, des Heiligen Geistes.

Aber das Sinnen über dem Sinn der Heiligen Schrift und das Entdecken ihres Sinnes braucht auch die Unterstützung durch die Anerkennung und durch den Respekt, den dieses Sinnen in der Öffentlichkeit genießt.

Wie steht es damit heute und hier, in dieser Stadt und in dieser Gesellschaft? Wie steht es damit in der Wirtschaft und in der Wissenschaft, in der Kunst und in der Literatur, im Rechtswesen, auf dem Theater und im Show-Business?

Gewiß: in allen diesen Bereichen können die Sprecher der Kirche und der Theologie Gespräche führen, Dialoge pflegen, Brücken bauen. Aber im inneren Betrieb - in den Prozessen des Wirtschaftens, in den Diskursen der Wissenschaften, in den Szenen der Kunst und der Unterhaltung - kommt die biblische, die christliche Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des Glücks doch herzlich wenig vor. In diesem inneren Betrieb scheint sie ein schwer verständliches oder gar unverständliches Relikt aus fernen Kindheits- und Jugendtagen zu sein. Hier gibt es für sie keine eigene Sprache. Und wenn es für sie keine eigene Sprache gibt, dann kann es mit ihr keine eigene tragfähige und belastbare Erfahrung geben. Die biblische, die christliche Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des Glücks stößt hier auf Mauern des Schweigens.

Aber das Sinnen über dem Sinn der Heiligen Schrift ist nicht nur auf den öffentlichen Respekt angewiesen; es ist als zuverlässiger Weg zum Sinn unseres eigenen Lebens und zu unserem eigenen Lebensglück auch angewiesen auf die interne Anleitung zum Lesen - in der Gemeinde und in der kirchlich verfaßten Gemeinschaft der Gemeinden. Wie steht es damit heute? In dieser Gemeinde und in dieser Kirche? Leitet sie wirklich an zu diesem Sinnen, zu diesem Lesen-Können und zu dieser Lese-Lust in dem Gesetz Gottes, das uns auf eine gewiß sehr irdische Weise in der Schrift begegnet? Herrscht denn in den Familien, in den Kirchenorganisationen, auf den Kirchentagen und wo sonst auch immer eine Wißbegierde, jenes Interesse, jene unbändige Neugier darauf, was das heute sein könnte: das Leben im Guten, das Leben, das dem Leid und dem Unglück zum Trotz Lust und Freude am Guten hat?

VII

Solche Fragen sind uns heute, wenn wir uns wirklich für die message des 1. Psalms und seines Dichters interessieren, gestellt. Sie können uns in eine ratlose und resignierte Stimmung versetzen. Aber damit wäre niemandem geholfen. Geholfen ist uns nur, wenn wir in unserem kleinen oder größeren oder großen Wirkungskreis auf diese Zusammenhänge achten. Wenn es in einem Menschenleben zu jenem Sinnen über dem Sinn der Heiligen Schrift und damit zu jener Lust und Freude am Sinn unseres Lebens kommt, dann ist das zwar letzten Endes Gottes Wirken, erleuchtendes Wirken des göttlichen Geistes; Gott aber nimmt uns für dieses sein erleuchtendes Wirken in Anspruch. Gott nimmt uns heute dafür in Anspruch, uns die objektiv schwierigen und schlechten Bedingungen eines Lebens im Guten bewußt zu machen und an ihnen unsere Kräfte zu erproben.

Heißt das, daß die Lebenskunst des Glaubens doch wieder in Arbeit ausartet?

Nun, sie führt jedenfalls auch in die Mühe des Denkens, des Sorgens, des Beratens. Aber wir dürfen dessen gewiß sein, daß sie im Licht und in der Kraft jenes Friedens geschieht, der höher ist als alle irdische Vernunft. Amen.

Prof. Dr. Konrad Stock, Universität Köln
konrad.stock@uni-koeln.de


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