Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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1. Sonntag nach Epiphanias, 7. Januar 2007
Predigt zu Johannes 1, 29-34, verfaßt von Bernd Giehl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Gleich beim ersten Lesen dieses Textes bin ich gestolpert. „Am nächsten Tag steht Johannes abermals da“; mit diesen Worten beginnt unser heutiger Predigttext. Es war dieses „am nächsten Tag“, das mich stolpern ließ. Offensichtlich war da etwas vorausgegangen. Anscheinend sind wir mitten in eine Geschichte eingestiegen, von der wir den Anfang noch nicht kennen. Gott sei Dank können wir aber hier, anders als bei einem Film, bei dem wir zu spät einschalten, noch einmal zurückblättern. Und da erfahren wir dann den Anfang der Geschichte. Johannes der Täufer steht am Jordan, und es kommen Führer des Volkes, um ihn zu fragen: Wer bist du? Was machst du hier? Das, was du hier tust ist dem Messias vorbehalten oder allenfalls seinem Vorläufer. Also sag uns bitte: Bist du der Messias? Oder zumindest der Prophet Elia, von dem erzählt wird, dass er zum zweiten Mal auf die Erde kommt, um den Messias anzukündigen. Und Johannes sagt: Ich bin zwar nicht Elia, aber ich bin tatsächlich der Vorläufer des Messias. Die Tatsache, dass ich hier taufe, weist darauf hin, dass der Messias im Kommen ist.

Irgendwie ist das merkwürdig. Irgendwie ist mir das alles zu glatt. So wie hier hat sich der Täufer sonst nicht eingefügt.

*

Erinnern wir uns noch? Aber natürlich erinnern wir uns noch. Johannes der Täufer, das war immer eine faszinierende Gestalt. An so einem konnte man sich direkt ein Vorbild nehmen. Das war noch ein Mann; einer, der keine Rücksicht nahm, der nicht den Finger nass machte, um zu prüfen, woher der Wind weht. Das war einer, der in die Wüste ging, der sich von einfachster Nahrung ernährte und nur das sagte, wovon er felsenfest überzeugt war. Und wie er es sagte – ein Echo seiner Wucht klingt immer noch bei Matthäus und Lukas durch. „Ihr Schlangenbrut, wer hat euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen würdet?“ So einer fürchtet sich vor nichts und niemand. Und wie er dann später zu Herodes, dem Fürsten geht und ihm sagt: Du treibst Ehebruch mit der Frau deines Bruders, das hat schon was. Diesen Mut würde man sich selbst und sicher auch dem einen oder anderen Politiker wünschen.

Und dann schaut man sich den Täufer des Johannesevangeliums an und denkt: was für ein braver Mann. Treu und pflichtbewusst. Einer, der nichts für sich selbst will. Einer, der sich völlig zurücknimmt. Nichts, aber auch gar nichts wird erzählt von seinem wilden Zorn. Nichts davon, was er mit der Taufe, die er ja selbst erfunden hat, ausdrücken will. Dieser Mann ist nichts aus sich selbst heraus. Seine Funktion ist einzig und allein eine dienende. Er weist auf den hin, der da kommt. Selbst die Taufe Jesu, die ja nun nicht ganz unwichtig ist, wird hier nur im Vorübergehen gestreift. Sie könnte ja schließlich dem Täufer eine – wenn auch nur vorübergehende – Stellung über Jesus geben.

Nein, das ist er nicht mehr. Das ist nicht mehr Johannes der Täufer. Das ist eigentlich nur noch eine blutleere Gestalt.

*

Eigenartig, nicht wahr? Auch die anderen Evangelisten sind ja viel mehr an Jesus als an Johannes interessiert. Aber sie machen ihn nicht ganz so klein. Sie zumindest erzählen noch die Geschichte von der Taufe Jesu. Und sie erzählen sie als eigenständige Geschichte.

Auf der anderen Seite ist das aber gar nicht so uninteressant. Hier bekommen wir nämlich einen – womöglich unfreiwilligen Einblick in die Werkstatt dieses Evangeliums. Das Johannesevangelium hebt Jesus weit heraus. Er überragt sie alle. Und er überragt sie weit. Selbst eine so herausragende Figur wie der Täufer hat hier nur noch dienende Funktion.

„Zeugen“ nennt sie der Evangelist. Und es ist nicht nur der Täufer, der diese Rolle spielen muss, es ist auch Nathanael, den Jesus unter dem Feigenbaum sieht und der ihm dann nachfolgt und wohl auch noch einige andere.

Schon erstaunlich, mit welch souveräner Geste der Evangelist Johannes über die Taufe Jesu durch den anderen Johannes hinweggeht. Er erwähnt sie nur noch im Rückblick, allerdings mit der nicht ganz unbedeutenden Offenbarung, dass der, der da getauft wurde, Gottes Sohn ist. Aber betonter ist doch, so scheint es mir wenigstens, dass er das Lamm Gottes ist, das die Sünde der Welt trägt.

Aber mit Verlaub, lieber Evangelist, ganz so weit bin ich noch nicht. Und womöglich geht es meiner Gemeinde, die sich heute hier in der Kirche zum Gottesdienst versammelt hat, ja ganz ähnlich. Vor 14 Tagen haben wir Weihnachten gefeiert. Gut, der Glanz von Weihnachten ist ja auch schon wieder verblasst, aber vielleicht lässt du uns noch ein klein wenig Zeit. Wir werden schon noch auf das Kreuz blicken. Bald schon werden wir das tun. Aber bevor wir in diese Richtung blicken, möchte ich doch noch einmal kurz auf den reflektieren, der hier das „Lamm Gottes“ genannt wird. Bei diesem Vorhaben möchte ich auch noch einmal seine Taufe in den Blick nehmen.

*

Und hier werfen wir dann gleich noch einmal einen Blick in die Werkstatt des Evangelisten. Vorhin habe ich gesagt: Bei Johannes überragt Jesus sie alle. Jetzt sage ich: Es gibt bei Johannes auch keine Entwicklung. Es gibt nur die eine, wie in Stein gemeißelte Wahrheit.

Im Grunde ist das auch gar nicht verwunderlich. Wenn ein Evangelium mit dem Satz beginnt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“, und wenn es mit diesem Satz Jesus von Nazareth meint, dann ist mit diesen Worten eigentlich schon alles gesagt. Wenn ich es einmal polemisch ausdrücke, dann ist alles, was noch gesagt werden muss, nur unserer Begriffsstutzigkeit geschuldet. Jesus ist die sich offenbarende Seite Gottes; wer ihn sieht, der sieht Gott selbst. Insofern braucht das Johannesevangelium auch keine Geschichte zu erzählen, sondern es wird diesen Satz: „Jesus ist das Wort“ nur endlos variieren.

Aber so ist das Leben doch nicht. Leben entwickelt sich nun einmal und beim Glauben ist es so ähnlich. Glauben, den man in Stein meißeln kann, gibt es den? Aber selbst wenn es ihn gäbe; was würde er austragen? Aber wie auch immer: bei den anderen Evangelisten wird die Geschichte ein bisschen anders erzählt. Da kommt Jesus zu Johannes und lässt sich taufen, und dann heißt es: „Und er sah den Geist wie eine Taube auf ihn herabkommen.“ Es ist nicht ganz klar, wer mit diesem „Er“ eigentlich gemeint ist, ob es der Täufer ist oder ein anderer, aber ich vermute: Mit diesem Satz ist Jesus selbst gemeint. Jesus selbst ist es, der da plötzlich seine Berufung spürt. Alle Evangelisten – mit Ausnahme von Johannes – erzählen dann, dass Jesus in die Wüste geht und vom Teufel versucht wird. Egal, was man vom Teufel hält; ich denke, es kann gar nicht anders sein. Zuerst einmal muss Jesus verstehen, was diese Berufung zum Sohn Gottes überhaupt bedeutet. So etwas begreift man nicht in zehn Minuten, womöglich noch unter der Anteilnahme einer großen Öffentlichkeit. Dafür muss einer erst einmal in die Stille gehen und mit den eigenen Dämonen ringen. Dass das kein einfacher Weg wird, dürfte Jesus schon bald klar geworden sein. Aber dann geht er ihn mit einer Klarheit und einer Konsequenz, die einen nur staunen lässt. Und es ist ein anderer Weg, als der Täufer ihn geht. Zwar fängt Jesu Botschaft, genau wie die des Täufers, mit dem Ruf zur Umkehr an. Aber anders als der Täufer malt Jesus den Menschen nicht das drohende Gericht Gottes vor Augen. Er droht nicht mit dem heiligen Zorn, sondern er wirbt mit der Liebe. Ja wirklich, er wirbt um die Menschen. Er traut ihnen zu, dass sie sich ändern. Er sagt aber auch nicht: Ihr müsst euch ändern, damit ihr Gottes Liebe überhaupt erst einmal verdient. Er sagt es umgekehrt: Gott liebt euch. So habt ihr die Chance, das zu ändern, was an eurem Leben nicht gut ist.“

*

Aber noch einmal zurück zum Evangelisten Johannes. Für ihn ist alles ganz klar und eindeutig. Schon in dieser recht frühen Geschichte ist die Wahrheit Jesu wie unter einem Brennglas gebündelt: Er ist das Lamm Gottes. Er tauft mit dem Heiligen Geist. Er ist der Offenbarer. Bei Johannes gibt es keine allmähliche Erkenntnis Jesu, wie sie in den anderen Evangelien immer wieder einmal geschildert wird, wie im Bekenntnis des Petrus, wo Jesus die Jünger fragt, was die Leute von ihm sagen und Petrus antwortet: Du bist der Christus, der Sohn des allmächtigen Gottes oder wie in der Verklärungsszene auf dem Berg, bei der nur der engste Jüngerkreis Zeuge wird. Bei Johannes gibt es kein Fragen und allmähliches Erkennen; alles ist entweder sofort da oder eben nicht; und von daher ist die Schroffheit, mit der zwischen den Glaubenden und der „Welt“ unterschieden wird, auch verständlich.

Jesus ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Wer sich ein wenig mit der Bibel auskennt, wird an das Passahlamm denken, das für den Auszug aus Ägypten steht. Mit seinem Blut wurden die Türpfosten der israelitischen Häuser bestrichen, damit der Todesengel an diesen Häusern vorübergehe. Ein ambivalentes Zeichen also, das sowohl für Tod wie für Leben stehen kann. Aber natürlich überwiegt aus der jüdischen Perspektive das Zeichen des Lebens. Wir werden verschont; für uns gibt es neue Hoffnung.

Es ist ein merkwürdiges Bild, das hier gezeichnet wird. Auf der einen Seite ist Jesus das Lamm, das geopfert wird. Ein Lamm kann sich nicht wehren. Es ist völlig passiv; ob es lebt oder stirbt hängt nicht von ihm ab. Und auf der anderen Seite ist Jesus Gottes Sohn. Er ist der, der von oben kommt. Er ist der erhöhte Herr. „Erhöhung“; vielleicht ist das das Wort, das am ehesten auf den Jesus zutrifft, den Johannes zeichnet. Auf der einen Seite ist er über allen. Mehr als ein Mensch. Auf der anderen Seite geht er den Weg zum Sklaventod am Kreuz. Und genau diesen Tod wird der Evangelist Jesu „Erhöhung“ nennen. Das Kreuz ist die Rückkehr zum Vater, und zugleich erlöst es die, die an ihn glauben.

Paradoxer geht es eigentlich nicht mehr. Und doch kommt Johannes vermutlich der Wahrheit über Jesus von allen Evangelisten am nächsten.

*

Fast bin ich nun schon am Ende. Aber zuletzt möchte ich noch einmal kurz auf ein Bild kommen. Es ist das Bild des Isenheimer Altars in Colmar; Matthias Grünewald hat es vor 500 Jahren für ein Armenspital gemalt. In der Mitte des Bildes hängt Jesus am Kreuz. Es ist ein Bild, das dem Betrachter unter die Haut geht. Die Finger, die aussehen wie Knochen, der abgemagerte Leib, der riesige Nagel durch den Fuß, die Dornen um den Kopf, der sich zum Sterben senkt. Links davon die weinende Mutter und der Jünger, der sie stützt, beide im Schmerz versunken. Und rechts der Täufer als aufrechte Gestalt mit dem überlangen Zeigefinger und dem Lamm zu seinen Füßen. Er weist auf den Sterbenden hin. Und neben ihm in Lateinisch der Satz: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“

Als Matthias Grünewald dieses Bild gemalt hat, da hat er zwei sehr unterschiedliche Sujets miteinander vereinigt. Das eine ist das Thema des Schmerzensmannes. Mit diesem Mann konnten die Kranken des Hospitals sich identifizieren. Dieser Mann am Kreuz erlitt ähnliche Qualen wie sie selbst. Ihnen glich er. Und auf der anderen Seite sahen sie einen, der auf diesen Schmerzensmann hinwies. Wahrscheinlich hat Grünewald beim Malen seines Bildes nicht nur die Jesajastelle vom leidenden Gottesknecht vor sich gehabt, sondern auch den Text über die Begegnung zwischen Johannes dem Täufer und Jesus. In diesem Bild ist nicht nur der Schmerz der Kreuzigung sondern auch die Erhöhung, wie sie erst in der Auferstehung sichtbar wird. Jesus, der leidet, weil Gott durch sein Leiden Erlösung schafft. Für diesen Aspekt steht der Täufer mit seinem überlangen Zeigefinger. Er verkündet das, was zu sagen ist: In diesem Gekreuzigten ist Gott selbst zu finden. Ihm könnt ihr, die ihr hier leidet sagen, wie elend es euch geht. Er wird eure Klage vor Gottes Thron bringen. Durch ihn seid ihr nicht verlassen. Durch ihn fällt ein Glanz von oben auf euer Leben.

Nachbemerkung: Wer ein Bild vom Isenheimer Altar zeigen will, findet ihn zum Beispiel sehr ausführlich mit vielen Abbildungen bei „wikipedia“ im Internet. Weitere Hinweise bei google.

Pfr. Bernd Giehl
Kirchspiel 34
65205 Wiesbaden
E-Mail: bernd.giehl@t-online.de

 


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