Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle



Predigreihe zu Paul Gerhardt / 2007
"Ich bin ein Gast auf Erden" (EG 529),
Predigt verfasst von Regina Glaser


Liebe Gemeinde,
"Unser Leben währet siebzig Jahre,
und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre,
und was daran köstlich scheint,
ist doch nur vergebliche Mühe;
denn es fähret schnell dahin,
als flögen wir davon.",
so heißt es in Psalm 90,10.

Das Lied "Ich bin ein Gast auf Erden" von Paul Gerhardt, dessen erste drei Strophen wir gerade gesungen haben, klingt wie eine Auslegung dieses Verses aus Psalm 90: "Was ist mein ganzes Wesen von meiner Jugend an als Müh und Not gewesen?" das sind Paul Gerhardts Worte. Und weiter noch: "Mich hat auf meinen Wegen manch harter Sturm erschreckt." - "Sie hat immer viel arbeiten müssen," so heißt es immer wieder in Trauergesprächen. "Er hat halt immer viel schaffen müssen," so fassen Angehörige immer wieder das Leben eines Verstorbenen zusammen. Sie sagen nichts anderes, als was der Psalmbeter schon in Worte gefasst hat.

"Ich bin ein Gast auf Erden" ist eines der weniger bekannten Lieder von Paul Gerhardt. Gesungen wird es vor allem auf dem Friedhof, bei Beerdigungen und am Ende des Kirchenjahres, am Ewigkeitssonntag. Zu Beginn der Passionszeit, unterlegt mit der Melodie des bekannten Passionslied von Paul Gerhardt "O Haupt voll Blut und Wunden", will uns dieses Lied Raum und Zeit zur Klage geben: Ja, es gibt viel Schweres im Leben. Ja, das Leben bringt viel Sorgen und Kummer mit sich und so manche schlaflose Nacht.

"Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne", so heißt es in Prediger 1,3. Paul Gerhardt teilt diese nüchterne Einsicht über das Leben. Das Leben ist oft schwer. Diese Erkenntnis schwingt in vielen seiner Lieder mit.

"Ich bin ein Gast auf Erden" - Paul Gerhardt weiß aus eigener Erfahrung, wovon er schreibt und singt: Der Dreißigjährige Krieg hatte seine grausamen Spuren hinterlassen, auch in seinem Leben. Am 12. März 1607 geboren, hatte Paul Gerhardt die 30 langen Kriegsjahre selbst miterlebt. Viele Städte, Felder und Wälder waren zerstört; ganze Landstriche entvölkert. 30 Jahre hatte der Krieg sein grausames Unwesen getrieben.

"Ich bin ein Gast auf Erden" - dieses Lied von Paul Gerhardt ist 1666/67 in der Gesamtausgabe seiner Lieder von Johann Georg Ebeling erschienen. Er hat es geschrieben, als er ungefähr 60 Jahre alt war. Paul Gerhardt spricht aus seiner eigenen Erfahrung, wenn er davon singt:
"Solang ich denken kann, hab ich so manchen Morgen, so manche liebe Nacht mit Kummer und mit Sorgen des Herzens zugebracht."
Fünf Kinder wurden dem Ehepaar Gerhardt geboren. Nur ein Sohn hat die Eltern überlebt, zwei Töchter und zwei Söhne starben im ersten oder zweiten Lebensjahr. Freilich, die Kindersterblichkeit war damals hoch. Viele Menschen haben dieses Schicksal mit dem Ehepaar Gerhardt geteilt. Sie waren damit nicht allein. Und doch werden Paul Gerhardt und seine Frau am Tod jedes Kindes schwer getragen haben. - Wie schwer ist es doch, ein solch kleines Menschenleben wieder herzugeben. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass kleine Kinder gesund auf die Welt kommen und dass diese Kinder groß werden, auch heute nicht. Der Tod eines geliebten Kindes gehört wohl zum Schwersten, was ein Mensch erleben kann.

"Ich bin ein Gast auf Erden" - Man spürt es den Liedern Paul Gerhardts ab, dass er diese schweren Erfahrungen in seinem Leben durchlebt und durchlitten hat. Das Besondere an seinen Liedern aber ist, dass sie eine Sprache sprechen, die vielen Menschen ermöglicht, das eigene Leiden und die eigenen Schmerzen in das Singen, Beten und Lesen dieser Lieder mit hinein zu nehmen. Seine Lieder drücken aus, was viele Menschen nicht selber zu sagen vermögen. Das "Ich" des Liedes wird zum eigenen "Ich" und mit diesem kann ich mit den Worten Paul Gerhardts, meine eigenen Zweifel, meinen Kummer und meine Schmerzen aussprechen. Sie werden zu einem Sprachrohr für mein eigenes Erleben. Bisher nicht Gesagtes wird endlich in Worte gefasst und schon alleine dadurch ein bisschen leichter.

So kommt es nicht von ungefähr, dass Paul Gerhardt in den Strophen 4 und 5 darauf verweist, dass auch die "Alten", das heißt auch die Glaubenszeugen, auch diejenigen, die vorangegangen sind im Glauben, ähnliches erlebt und durchlitten haben. Das macht das eigene Leid nicht ungeschehen. Damit geht Paul Gerhardt nicht über die eigenen Erfahrungen hinweg. Aber er reiht sie ein in die Erfahrungen anderer und sagt, dass ich damit nicht alleine bin. Ich lese die 4. und 5. Strophe dieses Liedes:

"So ging's den lieben Alten, an deren Fuß und Pfad
wir uns noch täglich halten, wenn's fehlt am guten Rat;
sie zogen hin und wieder, ihr Kreuz war immer groß,
bis dass der Tod sie nieder legt in des Grabes Schoß.

"Ich habe mich ergeben in gleiches Glück und Leid;
was will ich besser leben als solche großen Leut?
Es muss ja durchgedrungen, es muss gelitten sein;
wer nicht hat wohl gerungen, geht nicht zur Freud hinein."

Die folgenden drei Strophen, die wir nun gemeinsam singen werden, führen diesen Gedanken fort:

3. Lied: 529,6-8 So will ich zwar nun treiben

4. Predigt Teil II

Aufgrund dieser Erfahrungen weiß Paul Gerhardt: Wir Menschen sind nie ganz zuhause in dieser Welt. Wir bleiben fremd in dieser Welt:
"So will ich zwar nun treiben mein Leben durch die Welt, doch denk ich nicht zu bleiben in diesem fremden Zelt." (Str. 6), dichtet er. "Ich bin ein Gast auf Erden" mit diesem Zitat aus Psalm 119,19 hat er dieses Lied begonnen und sagt damit: Wir werden hier nie vollkommene Freude erleben. Freilich Momente des Glücks werden aufscheinen, Freude werden wir erleben. Aber es wird nicht alles heil werden in diesem, unserem Leben. Es wird nicht alles ganz werden. Wir bleiben Fremde in dieser Welt, unser Zuhause ist nicht hier.

In den Strophen 9 und 10 führt er dies noch weiter aus bis hin zum Sterben, bis hin zum Tod von uns Menschen. Ich lese diese beiden Strophen:

"Die Herberg ist zu böse, der Trübsal ist zu viel.
Ach komm, mein Gott, und löse mein Herz, wenn dein Herz will;
komm, mach ein seligs Ende an meiner Wanderschaft,
und was mich kränkt, das wende durch deinen Arm und Kraft."

"Wo ich bisher gesessen, ist nicht mein rechtes Haus.
Wenn mein Ziel ausgemessen, so tret ich dann hinaus;
und was ich hier gebrauchet, das leg ich alles ab,
und wenn ich ausgehauchet, so scharrt man mich ins Grab."

Die Jenseits-Sehnsucht in diesem Lied von Paul Gerhardt ist groß - die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben bei Gott. Und so liegt auch die Gefahr nahe, die jede Sehnsucht nach dem Jenseits in sich birgt: Wir könnten uns aus dem Leben mit allem Schweren herausmogeln wollen. Wir könnten uns nur noch aus dem Diesseits herauswünschen wollen und auf ein besseres Jenseits vertrösten lassen. Wir könnten das Diesseits dadurch aus dem Blick verlieren. Dann aber wäre die Hoffnung auf das Ewige Leben kein Trost mehr, sondern nur noch eine Flucht aus dem, was das Leben so schwer macht, aus diesem Jammertal.

Wir müssen deshalb die anderen Lieder von Paul Gerhardt dazu nehmen. Wir müssen diese Lieder mitsingen, wenn wir dieses Lied "Ich bin ein Gast auf Erden" von ihm singen. Dann wissen wir: Paul Gerhardt vertröstet mit seinen Liedern nicht. Denn er weiß nicht nur von den schweren Dingen des Lebens zu singen, darüber zu klagen und darum auf die ewige Heimat bei Gott zu hoffen. Trotz aller schweren Erfahrungen weiß Paul Gerhardt auch von der Freude in und am Leben zu singen, hier und jetzt:

"Ich singe dir mit Herz und Mund,
Herr, meines Herzens Lust;
Ich sing und mach auf Erden kund,
was mir von dir bewusst " (EG 324,1)

Und in dem wunderbaren Sommerlied weist er uns an die Welt, an Gottes gute Schöpfung, die zum Grund der Freude wird:
"Geh aus, mein Herz, und suche Freud,
in dieser lieben Sommerzeit
an deines Gottes Gaben;
schau an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben." (EG 503,1)

Trotz allem Schwerem, trotz allen Leides fordert uns Paul Gerhardt immer wieder auf, genau hinzusehen und das Schöne im Leben zu sehen. Freude, so weiß er, Freude stellt sich nicht ohne Weiteres ein; sie will gesucht werden. Der Blick muss darauf gelenkt werden. Ohne Weiteres entdecken wir sie nicht in unserem Leben. Immer wieder findet Paul Gerhardt Gründe, warum er von Gott singen muss, warum er ihn von Herzen loben will, warum seine Freude so überschwänglich ist:

"Du meine Seele, singe, wohlauf und singe schön
dem welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn.
Ich will den Herren droben hier preisen auf der Erd;
Ich will ihn herzlich loben, so lang ich leben wird." (EG 302,1)

Und doch, der Blick über das irdische Glück und die menschliche Freude reicht bei Paul Gerhardt weiter:

"Mein Herze geht in Sprüngen
und kann nicht traurig sein,
ist voller Freud und Singen,
sieht lauter Sonneschein.
Die Sonne, die mir lachet,
ist mein Herr Jesus Christ;
das, was mich singen machet,
ist, was im Himmel ist." (EG 351,13)

Mit dieser letzten Strophe aus dem Lied "Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich" sind wir wieder bei unserem Lied "Ich bin ein Gast auf Erden" angelangt. Das vollkommene Glück auf Erden zu suchen, die vollkommene Freude hier zu finden, überfordert uns Menschen. Es überfordert uns Menschen, alles hier im Leben erreichen zu wollen und alles in diesem Leben zu erwarten. Es überfordert uns, wenn wir alles aus unserem doch so kurzen Leben geradezu heraussaugen wollten. Wir können das Glück nicht machen. Dass unser Leben gelingt, haben wir oft so wenig selbst in der Hand.

Wenn wir auf unser Leben zurückblicken und innehalten, so wissen wir: Vieles ist nicht so, wie wir es uns gewünscht und vorgestellt haben. Vielleicht konnten wir den Beruf nicht lernen oder ausüben, den wir uns wünschten. In unseren Beziehungen und Partnerschaften haben wir nicht die Geborgenheit gefunden, die wir erhofften. Aus den Kindern ist nicht das geworden, was wir uns für sie erdachten. Von wie vielen Lebensträumen und -hoffnungen müssen wir uns doch im Laufe unseres Lebens verabschieden!

Paul Gerhardt verweist uns deshalb an etwas anderes. Er führt uns die großen Hoffnungsbilder vor Augen. Er erinnert uns an unsere christliche Hoffnung. Er erinnert uns daran, dass noch etwas aussteht. Er singt davon, dass dieses Leben noch nicht alles gewesen ist. Und dass wir deshalb in diesem Leben auch nicht alles erreichen müssen. Unsere Freude liegt letztlich woanders begründet. Unsere Freude und unser Trost gründet in Gott.
"Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen ... Siehe ich mache alles neu!" (Offenbarung 21,4+5), so heißt es im Buch der Offenbarung. Darin liegt unsere Hoffnung begründet.

Paul Gerhardt wird nicht müde solche Hoffnungsbilder mit seinen Worten zu zeichnen. In vielen seiner Lieder lenkt er den Blick darauf, dass die Hoffnung auf das, was kommt, schon heute uns trägt und uns durch manches Schwere hindurch trägt. Er lädt uns ein, mit ihm von diesen Hoffnungsbildern zu singen.

Und so schließt auch das Lied "Ich bin ein Gast auf Erden" mit der Freude über das, was kommen wird - nicht, um uns zu vertrösten, sondern um uns wahrhaftig zu trösten:

"Du aber, meine Freude, du meines Lebens Licht,
du ziehst mich, wenn ich scheide, hin vor dein Angesicht
ins Haus der ewgen Wonne, da ich stets freudenvoll
gleich wie die helle Sonne mit andern leuchten soll."
AMEN.


Pfarrerin Regina Glaser
Walterstr. 22
72119 Ammerbuch-Breitenholz

E-Mail: Pfarrramt.Breitenholz@elk-wue.de

Bemerkung:
1. Es ist natürlich möglich, alle Liedstrophen zu singen.
2. Weitere Liedvorschläge für den Gottesdienst: EG 449,1-4.8 Die güldne Sonne voll Freud und Wonne; EG 302,1-2.4.8 Du meine Seele, singe.
3. Hilfreich als Lektüre war mir: Felizitas Muntanjohl, Michel Heymel: Auf, auf, mein Herz, mit Freuden. Gottesdienste, Gemeindearbeit und Seelsorge mit Liedern von Paul Gerhardt, Gütersloh 2006. Einige Gedanken dieser Predigt sind diesem Buch entnommen.


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