Göttinger Predigten im Internet,
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Sonntag/Feiertag: Volkstrauertag
Datum: 16.11.1997
Text: Matthäus 25, 31-46
Verfasser: Heinz Behrends, Göttingen / Nikolausberg


Wegweiser

  1. Predigttext
  2. Exegetisch-homiletische Überlegungen
  3. Predigt


Predigttext Matthäus 25,31-46

"Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehn und sind zu dir gekommen?

Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehn oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben."

Exegetisch-homiletische Überlegungen

Der Text ist aus dem Sondergut des Matthäus. Er schließt an der Nahtstelle zur Passionsgeschichte den in den Seligpreisungen eröffneten Weg Jesu ab. 50 Jahre nach Ostern muß von dem Autoren das Verhältnis zu den Heiden neu definiert werden. Kriterium des Evangelisten ist der "Weg der Gerechtigkeit", der sich im Tun der sieben Barmherzigkeiten Ausdruck verschafft.

Für Hörer unserer Tage ist das Faktum eines Gerichts ein ungewohnter Gedanke, im Denken Jesu und des Neuen Testamentes aber eine Realität. Der Predigt über den Text darf nicht Drohrede sein, sondern will ermutigen, die latent im Hörer verborgene Frage nach Zukunft und Gerechtigkeit zu bewegen. Leben hat immer Konsequenzen. Die Antwort Jesu aber durchbricht unsere Maßstäbe des Rechtes und führt uns auf die Substanz unseres Mensch-Seins zurück: die Barmherzigkeit und den Zusammenhang und die Würde allen menschlichen Lebens.

Predigt

"Sie sitzt in ihrem Zimmer. Der Lebensraum ist eng geworden im Alter. Ihr Hüftleiden zwingt sie, zu Hause zu bleiben. Sie ist nicht mehr gut zu Fuß. Um so mehr geht sie in Gedanken immer wieder den Wegen ihres Lebens nach. Was hat sie getan und gelebt, als sie noch gehen konnte? Sie ist beseelt von der unbändigen Frage, ob sie Spuren hinterlassen hat. "Früher habe ich von Sommer zu Sommer gelebt", sagt sie. "Ich hatte die Gewißheit, daß ich den nächsten Sommer sehe. Heute ist das alles anders, und ich frage, ob ich eine Spur sehen kann, die ich hinterlassen habe." Die Frage stellt sich ihr extremer als sonst. Denn wer nicht mehr gehen kann, so fürchtet sie, kann keine Spuren mehr hinterlassen.

Um die Frage nach Sinn und Ziel geht es. Das Beispiel Jesu gibt darauf eine Antwort. Ich muß zunächst einen Umweg zu dieser Antwort machen und erzählen, daß kluge Exegeten die Geschichte enger als ich heute deuten. Sie weisen darauf hin, daß mit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 das Judentum seine Identität verlor und mit ihr die von ihr abgespaltene Sekte der Christen ins Abseits geriet, ja sogar verfolgt wurde.

Matthäus als Mitglied der Gemeinde erinnert sich an ein Wort Jesu, als er fragt, wie es den ihnen gegenüberstehenden Heiden im Gericht vor Gott ergehen wird. Jesus, sagt er, hat die Frage folgendermaßen beantwortet: Die Heiden werden nach ihrer Liebestat beurteilt. Wie die Heiden sich den geringsten Brüdern, den Christen gegenüber, verhalten haben, so werden sie dereinst vor Gott stehen.

Nun ist diese Konfrontation nicht unsere gegenwärtige Situation. Wir sind als Christen nicht verfolgt, uns bewegt auch nicht die Frage nach dem Ergehen der Heiden. Die Perspektive hat sich eher umgekehrt. Der kirchlich Distanzierte, der von Gott Unberührte weist uns in der Kirche darauf hin: das Wichtigste ist die gute Tat. Ich lasse diese Horizonte heute einfach so stehen und schaue auf uns: Wenn von den Heiden gefordert ist, daß sie sich den geringsten Brüdern zuwenden, dann ist das von uns Christen allemal gefordert. So gilt für uns: Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

Habe ich in diesem Sinne eine Spur hinterlassen? Ich denke, nicht der Wunsch nach Lob durch Gott oder nach Ewigkeit drängt diese Frage auf. Vielleicht ist es eher der verborgene Wunsch nach Anerkennung und Bestätigung und hat etwas narzistisches, selbstverliebtes. Wie dem auch sei. Die Frage nach dem Sinn liegt offen oder verborgen für jeden Menschen auf dem Tisch. Und damit die Frage nach Spur, Weg und Ziel.

Die Antwort Jesu auf die Frage nach dem Ziel ist klar: Es ist das Gericht. Das mag mancher ablehnen. "Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mir Gott sowieso nicht vorstellen," sagt der Distanzierte. "Das paßt nicht in mein Gottesbild", sagt der andere, "für mich ist Gott immer Güte und Liebe." Ehrenwerte Antworten sind das und ehrlich, aber für mich ist der Gedanke des Gerichtes in der Verkündigung Jesu sehr wichtig. Ich übersetze ihn für mich so: Es ist nicht alles gleichgültig, was ein Mensch in seinem Leben gelebt hat. Ich muß mein Leben verantworten. Ohne eine Art Bestandsaufnahme am Ende, ohne ein Anschauen meines Lebens durch ein objektives, aber verstehendes Auge wäre doch alles egal, was ich getan und gelebt habe. So stelle ich die Frage nach dem Gericht nicht aus Angst mit einem Gefühl der Bedrohtheit, sondern aus Liebe und Achtung vor dem Leben. Es wird ernst genommen, was ich gelebt habe.

Gericht heißt nun nach dem Bild Jesu Scheidung. Im Bilde: Die Schafe werden von den Böcken geschieden. Die weißen Schafe waren mit den Ziegenböcken auf der Weide. Am Abend wünschen die Schafe frische Luft, die Ziegen ziehen sich nachts lieber ins warme zurück. Deshalb scheidet der Hirte sie. Andere meinen, Jesus beziehe sich in seinem Bild auf seine Kenntnis, daß abends die weiblichen Schafe von den männlichen getrennt würden, um gemolken zu werden. Wie dem auch sei: Es ist keine Scheidung in sowohl als auch, sondern in entweder oder. Entweder rechts oder links. Und das endgültig. Wo ich dastehe, hängt von meinen Spuren ab.

Eine Spur hinterläßt gewiß jeder. Denn an keinem geht das Leben spurlos vorüber. Fragt sich nur, welche Spur. Christus beschreibt diese Spur eindeutig: Dem Kranken sich zuwenden, den Hungrigen sättigen, den Gefangenen besuchen. Das hinterläßt eine Spur. Allen Spuren gemeinsam ist die Zuwendung zum anderen Menschen. Sie mögen jetzt vielleicht ihre Spur prüfen. Dem Wort Jesu gemäß kann diese Prüfung nur von einem anderen als von uns selbst vorgenommen werden. Denn alles hat mit dem anderen Menschen zu tun, in den sich meine Spur eingegraben hat. Und das Überraschende an der Geschichte Jesu ist: Sie haben zwar Hungrige gesehen und gesättigt, aber sie haben in ihnen nicht Christus erkannt. Sie haben nicht mit Absicht, nicht mit Berechnung gehandelt. Beruhigt Sie das? Oder heißt das, alles, was ich bewußt an Barmherzigkeit gegeben habe, zählt nicht? Ich weiß es nicht. Jedenfalls zerstreut Jesus als Richter alle Gewißheit eines berechnenden Handelns.

Ich habe natürlich Menschen vor Augen, die ohne Aufhebens helfen und da sind. Das sind selten die großen Geister dieser Welt oder auch Pastoren. Diese habe es gerade schwer, das Reich zu beerben, weil sie zuviel wissen. Spannender noch ist die Perspektive der Böcke. "Wann haben wir dich durstig gesehen oder hungrig oder nackt?"- "Was ihr nicht einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr auch mir versagt." Sie haben nichts Böses getan. Gute Bürger waren sie. Nur, sie haben nicht genau hingeschaut. Darauf möchte man reagieren. "Ja, ich habe gewiß etliches übersehen. Aber, wie sollte ich auch alles sehen. Die Welt ist so komplex geworden!" Wenn der Richter sein Urteil spricht, gibt es keine Diskussion mehr. Sie haben nur einfach nicht gehandelt. Da ist es so wie in dem Gleichnis von den drei Knechten. Der eine erhält fünf Zentner Silber, der andere drei, der dritte ein Zentner. Zwei wuchern damit, der dritte vergräbt es, um es unbeschädigt wieder zurückgeben zu können. Das Vergraben war seine einzige Tat. Da denke ich doch: Wenn Gottes neue Welt anbricht, möchte ich lieber mit schmutzigen Händen dastehen als mit sauberen, leeren Händen, lieber verwundet als aalglatt.

Das ist der Maßstab: Was ich aus Glauben in Liebe getan habe, wo ich barmherzig war. Damit ist die Frage nach dem Sinn beantwortet: Barmherzigkeit zu leben, zu sehen, daß wir Menschen in Zusammenhängen leben, nicht für uns sind - und das über alle Grenzen von Nationalität und Religion hinaus. Sprachforscher weisen uns darauf hin, daß das Wort "Sinn" althochdeutsch von "sent" abzuleiten ist. Und "sent" bedeutet: den Zusammenhang sehen, das Ziel sehen. Jesus selbst hat nicht anders gelebt, als er Kranke heilte und sie wieder in den Lebenszusammenhang der Menschen holte, als er Ausgespuckte berührte und ihnen zusprach, sie wieder in einen sozialen Zusammenhang stellte. Die Barmherzigkeit ist friedenstiftend und heilt die Welt. Nur sie kann an diesem Volkstrauertag oder Friedenssonntag in unserem Land der einzige Maßstab der gehaltenen Gedenk-Reden sein. In ihnen ist kein Platz für Verehrung von Heldentum im Kampf oder für latenten Anti-Semitismus oder gar für banale, unverbindliche Sonntagsrede. Sinn liegt in der Erfahrung von Barmherzigkeit, die mich in den Lebenszusammenhang von Menschen stellt oder zurückholt.

Ich habe das am eigenen Leibe erfahren, als der jüngste Sohn vor nun schon zwölf Jahren an Leukämie erkrankte. Das Erschrecken saß tief, aber nach dem ersten Entsetzen und dem Wälzen der Schuldfrage wurde mir bald klar: Die Krankheit an sich hat keinen Sinn. Den Sinn erfuhr meine Familie in der Zuwendung von Menschen, die einfach da waren, die schwiegen und zuhörten. Bonhoeffer hat diese Art der Erfahrung auf einen Spitzensatz gebracht: Da wird der Bruder dir zum Christus. Die Frage nach meinen Spuren bleibt ein elementares Anliegen. Die Frage, wo ich im Gericht stehen werde, ist damit nicht beantwortet. Aber auf eines freue ich mich angesichts der Situation, daß Gott mein Leben ansieht: Ich werde die Wahrheit über mein Leben erfahren, die Wahrheit, nach der ich so lange gesucht habe.

Wird Ihnen das alles zu eng? Dann versuchen Sie doch einmal, sich auf die andere Perspektive der Geschichte einzustimmen. Auf die Perspektive des geringsten Bruders. Das Unglaubliche an dem Vertrauen auf Christus ist, daß er sich mit dem geringsten Bruder identifiziert. So wert geachtet bin ich. So oder so: Mein Leben wird von Gott ernst genommen und damit gewürdigt.

Pastor Heinz Behrends, In der Worth 7, D 37077 Göttingen, Tel. 0551-21222


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