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Sonntag/Feiertag: Volkstrauertag
Datum: 16.11.1997
Text: Genesis 1, 26-27
Verfasser: Prof. Dr. Wolfgang Steck, München


Michelangelo

Titelbild: aus Michelangelo, Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle, 1508-1512

Gott - der Leibhaftige (Gen. 1, 26-27) Markuskirche München - 16. November 1997

Gott - der Leibhaftige, Gott, ein Abbild des Menschen und der Mensch ein Spiegelbild Gottes, so hat Michelangelo die beiden Männer an der Decke der Sixtinischen Kapelle porträtiert, so wie er es auf den ersten Seiten der Bibel gelesen hatte.

Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau (Gen 1, 26-27).

1. Was waren das noch für Zeiten, als Michelangelo an einem strahlenden Morgen mit seinen Farbkübeln in die Sixtinische Kapelle kam, sein Gerüst zusammenbaute, in die Kuppel hinaufkletterte und zum Pinsel griff. Über sich die Leere, ein gestaltloser Baldachin aus nassem Putz; und im Kopf das fertige Bild: auf der einen Seite Gott, auf der anderen der erste Mensch, für jeden die Hälfte der Fläche, so mußte es sein, Gott und Mensch in Analogie zueinander.

Aber dann zögert er: Warum die Vorlage nur im Kopf, als vages inneres Vorstellungsbild, als Imagination? Er legt den Pinsel weg und steigt noch einmal die Leiter hinunter. Aus der Sakristei schafft er einen mannshohen Spiegel heran und postiert ihn direkt neben sich auf der Plattform. Eigentlich ist er ja Bildhauer. Jetzt hat er sein Bild plastisch vor Augen. Er braucht während der Arbeit nur immer wieder in den Spiegel zu schauen; da sieht er sie leibhaft vor sich, die Imago Dei.

Michelangelo war 33, als er mit seiner Arbeit begann, im besten Mannesalter. Er stellt den Spiegel in die Mitte; den linken der beiden Männer machte er ein bißchen jünger, den rechten ein paar Jahre älter und beide natürlich einen Strich schöner als das Original im Spiegel. Aber vertuscht wurde nichts; alles sollte stimmen. Und war er schon nicht in seinem Metier, so sollte man den plastischen Künstler doch auf dem Deckengemälde wiedererkennen. Also versuchte er, die Fläche zu überlisten, Gottes Körperfülle zu modellieren, nicht schemenhaft und mit heiliger Scheu, sondern in pastosem Strich aus dem Farbkübel in den feuchten Gips, satt aufgetragen. Und nicht nur die Gesichtszüge sollten zu erkennen sein, die Haarpracht und der Ausdruck der Augen; den ganzen Körper sollte der Betrachter sehen, ein durchtrainierter Körper, ein Sportler, könnte man denken, muskulös, voller Energie, Dynamik und Potenz. Aber da merkte Michelangelo erst, daß er gerade auf der linken Seite arbeitete. Er wußte gar nicht mehr, wo er angefangen hatte; war Gott zuerst da oder war es Adam; oder hatte er beide zugleich porträtiert, womöglich mit beiden Händen? Die Bilder verschwammen ihm vor den Augen.

Er sah genau hin. Die Ähnlichkeit war verblüffend; der eine dem anderen wie aus dem Gesicht geschnitten; wie zwei Brüder, vielleicht auch wie Vater und Sohn: Adam wie ein junger Gott und Gott wie Adam senior. Und beide schauten sich an, als träfen sie auf sich selbst. 'Das bin ja ich in jungen Jahren', sagt der eine; 'und so wirst du einmal aussehen, wenn du noch ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel hast', der andere.

Michelangelo sah sich um. Jetzt waren sie zu viert. Oben auf dem Malerpodest: der Maler, der Spiegel und die beiden Männer an der Decke. Michelangelo tippte mit dem Finger an den Spiegel, um zu testen, ob das Bild wirklich da war und nicht nur das Original. Da hatte er die Idee. Er machte es an der Decke genauso. Und wie die beiden sich mit ihren Fingern berührten, da kam Leben in die Körper. Der Senior räkelte sich genüßlich in seinem Himmelbett, der Junior strotzte voller Manneskraft, wie ein junger Adonis, barocker Körperkult; da mag jede und jeder denken, was wohl auch dem Künstler durchs Blut schoß. Das war der Schöpfungsakt.

Michelangelo legte den Pinsel aus der Hand. Er hängte ein Tuch über den Spiegel und ließ die beiden dort oben mit sich allein. Ein letzter Blick in die Kuppel. Er betrachtete alles, was er gemacht hatte; und siehe, es war sehr gut geworden, das Spiegelbild an der Decke. Auf dem Heimweg mußte er kurz lachen: Gott schuf den Menschen nach seinem eigenen Bild, so hätte er es ausdrücken können, wenn es ihm nicht ein bißchen zu blasphemisch vorgekommen wäre. Da ließ er es lieber beim Gegenstück: Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde. Und damit hatte er, ohne es zu wissen, den religionskritischen Nagel auf den Kopf getroffen.

Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde, so war es und so mußte es sein: Gott in Menschengestalt, mit einem Herz, das innig liebt und unendlich leidet; mit Augen, die herzhaft lachen und traurig weinen; mit einem Mundwerk, das munter erzählen kann, frech fragen und ausgelassen scherzen; mit Händen, die kraftvoll zupacken und zärtlich streicheln. Gott - der Leibhaftige. Gott - der Lebendige. Gott, wie er leibt und lebt.

2. Michelangelo war nicht der erste, der Gott mitten in seinem Leben porträtierte, ihm Manneskraft zutraute und weiblichen Charme, Gefühl für die anderen und Empfindsamkeit für sich selbst. Er war nicht der erste, der die tiefsinnigen Spekulationen über Gottes Existenz mit einer Handbewegung vom Tisch wischte, um im Geist der Renaissance eine neue Vorstellung von Gott zu kreieren.

Den Anfang der schöpferischen Gotteskritik finden wir in einem Buch, das schon vor Michelangelo viele gelesen hatten, auf den ersten Seiten der Bibel. 'Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde' ...; wir wissen, wie es weitergeht. Aber in der religiösen Szene des alten Orients war das eine kleine Revolution. Nicht ein grandioser Schöpfungsmythos wird dort entfaltet, der Kampf der Außerirdischen um die Macht über die Überwelt und die Unter-welt, Science Fiction in Reinform. Die Schöpfung aus dem Nichts läßt sich auch ganz anders erzählen, unprätentiös und natürlich, als eine kleine Geschichte von der Entstehung der Arten, der Tiere und des Menschen, ein kleiner Brehm also. Die alttestamentliche Schöpfungserzählung ist zugleich ein Ausriß aus einem Tagebuch, 7 Tage im Leben Gottes, oder besser: es sind ein paar Seiten aus dem Skizzenbuch eines bildenden Künstlers, im Rückblick auf die allererste Weltwoche aufgeschrieben. Denn vorher gab es nichts, keine Welt, kein Leben, keinen Himmel und keine Erde, nur Gott. Und der machte sich nun an die Arbeit.

Die 1. Hälfte der Woche arbeitete Gott draußen, im Freien. Er schuf zuerst die Zeit und den Raum; Dienstag kultivierte er dann die Vegetation; am Mittwoch Nachmittag zog er sich schließlich in seine Töpferwerkstatt zurück. Zuerst modellierte er verschiedene Fische, später eine Serie Vögel. Er formte sie in den Händen, bemalte sie und hauchte ihnen das Leben ein. Dann öffnete er die Hände und sah den Vögeln mit offenen Augen nach, wie sie durch das Fenster nach draußen flatterten.

Die Woche verging wie im Flug. Am Freitag, dem letzten Werktag der jüdischen Woche, modellierte Gott noch bis in die Mittagszeit Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes. Dann legte er die lehmigen Hände in den Schoß. Es kam ihm so vor, als sei nun alles fertig. Nichts war ihm mißlungen. Aber irgendwie war doch noch kein Feierabend. Nach der Mittagspause ging er - oder war es eine sie? - voller Tatendrang noch einmal in die Werkstatt. Und Gott sprach - so lesen wir in Vers 26 - 'Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, menschliche Geschöpfe, die über die Fische des Meeres herrschen, über die Vögel unter dem Himmel, über das Vieh, über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht'. Und dann das Protokoll: 'Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und als Frau; und Gott sah an, was er gemacht hatte; und siehe, es war sehr gut.'

Jetzt erst ist der Schöpfer mit seiner Arbeit zu Ende. Er hat sich seine Welt geschaffen, die Welt, in der er atmen kann, arbeiten und ruhen, nachdenken und phantasieren, hören und fühlen, schmecken und sehen. Die Wirklichkeit ist genauso, wie er sie sich vorgestellt hat. Im Augenblick gibt es nichts mehr zu tun. Also läßt der Künstler sein Werk auf sich wirken. Und da geschieht am heiligen Sabbat genau dasselbe wie gestern um die Mittagszeit, nur umgekehrt. Gestern sah er sich selbst im Spiegel an und formte das Spiegelbild, die leibhafte Gestalt Gottes. Jetzt erkennt er sich in den beiden Menschen wieder. Er sieht die beiden draußen sitzen, mit den Tieren an einem Tisch. Aber sie sind von anderer Gestalt. Der Mann und die Frau, das bin ja ich, sagt Gott zu sich selbst. Sie sind meine Geschöpfe und zugleich mein Abbild - ein göttlicher Anblick.

3. Was waren das für Zeiten, in denen der eine in ungebrochener Naivität von Gottes Handwerk erzählen und der andere mit ungebändigter Lust einen leibhaftigen Gott malen konnte. Der Mensch: ein Spiegelbild Gottes? Und Gott: ein Spiegelbild des Menschen? Und nicht in der Idee, sondern in der sinnlichen Anschauung - das taugt nicht für die aufgeklärte Gottestheorie der Moderne. Die Anthropomorphismen der alttestamentlichen Religion wirken archaisch, wie die Eierschalen einer frühen religiösen Entwicklungsstufe. Die philosophische Gotteslehre hat sich daraus Zug um Zug befreit; es hat den Schweiß edler Denker gekostet, bis der abstrakte Gott der Philosophen installiert war, der Gott der reinen Vernunft. Die lustvolle Präsentation von Gottes Körper in der Kunst der Renaissance kommt einem geschmacklos vor, schwülstig und der Gottesidee ganz unangemessen. Gottes Leib wurde im Feuerbach der neuzeitlichen Religionskritik beigesetzt.Was geblieben ist, das ist der Geist Gottes, so wie er einst über den Wassern schwebte, leblos und gestaltlos. Wir verehren ihn, indem wir unsere Phantasie zügeln und emotionslos über Gott räsonieren.

Fromm gestimmte Bürgerkinder mögen gelegentlich noch dem großen Michelangelo nacheifern. Sie schauen sich im Spiegel an und malen dann Gott in Menschengestalt, mit breiten Beinen und ausgestreckten Armen, manchmal auch mit dem berühmt-berüchtigten Gesichtsschmuck, dem langen grauen Bart des alten Mannes. Die Großen lassen die Kleinen schmunzelnd gewähren; wenn die Kinder älter werden, legt sich der frühkindliche Anthropomorphismus von selbst. Dann werden sie genauso vernünftig, wie wir es längst sind. Man darf sich Gott nicht bildlich vorstellen, man muß ihn abstrakt denken: als das unabänderliche Schicksal, als den majestätischen Weltenlenker oder als überirdischen Uhrenmacher, 'der künstlich sein Werk gefügt'. Und nun läuft das Räderwerk und läuft und läuft. Und keiner weiß, wie es Gott ergeht, ob er mit uns hadert, oder über unsere Gedankenspiele lacht, ob er mit seiner Weisheit am Ende ist, oder seine Geschöpfe immer noch so liebt wie am Anfang.

Er braucht es gar nicht zu wissen, denn der aufgeklärte Mensch hat sich von den sinnlichen Gottesbildern längst verabschiedet. Gott: das ist ein großer Gedanke, der äußerste, den ein Mensch je zu denken vermag, ein riskantes Gedankenexperiment, eine logische Operation jenseits der Grenzen unseres Vorstellungsvermögens. Gott ist nicht wie ein Mensch, verletzlich, launisch und unentschlossen. Gott - das ist das ganz andere, der Inbegriff der Allwissenheit, der Allmacht und der Allgegenwart. Irren ist menschlich; Gott irrt sich nie. Müdigkeit ist menschlich; Gott schläft und schlummert nicht. Sterben ist menschlich; Gott bleibt in alle Ewigkeit.

Deshalb kann kein Mensch so sein wie Gott. Denn keiner kann die Grenzen seines Leibes überschreiten. Sein Denken bleibt auf sein Gehirn beschränkt, seine Kraft auf seine Muskeln begrenzt, sein Leben auf die Summe seiner Herztöne. Und Gott kann nicht so sein wie der Mensch. Endlich, seinem Körper ausgeliefert, in eine Geschichte verstrickt, von der er nicht loskommt. Gott ist unendlich und unsterblich, unwandelbar und unsichtbar. Nur wenn Gott all das zugesprochen wird, was der Mensch nicht hat, und nur wenn Gott über all das in unbegrenztem Maße verfügt, was den Menschen ausmacht, nur dann kann er als Gott gedacht werden. Sonst wäre Gott nichts anderes als ein Ebenbild des Menschen und der Mensch ein Ebenbild Gottes. Man sieht: Die Rechnung geht auf.

Wenn uns Michelangelo eben zugehört hätte oder der alttestamentliche Geschichtenerzähler, dann hätten sie über den Fortschritt unserer Gottesgedanken sicherlich ihre Köpfe geschüttelt. Ihr dreht euch im Kreis, hätten sie gesagt, wie aus einem Mund. Denn alles, was ihr euch ausdenkt, sind nicht Gottes Gedanken, sondern eure, nicht aus der Sorge um Gott geboren, sondern vom menschlichen Eigensinn getrieben. Ihr habt die Schöpfungsgeschichte nicht fortgeschrieben, sondern eine neue aufgesetzt. Sie erzählt vom Raubzug des beutegierigen Menschen durch Gottes Welt. Und der Plan, den ihr dafür ausgebrütet habt, ist eine Raubkopie. Sie stammt aus einem alten Buch, aus dem Tagebuch Gottes.

Erst habt ihr Gott seinen Raum genommen und den Himmel den Engeln und den Spatzen überlassen; Gott ist nicht im Himmel, so lehrt eure begrenzte Vernunft; er ist überall, also nirgends. Dann habt ihr Gott seine Zeit gestohlen; Gott hat keine Geschichte, er ist immer und ewig; deshalb kann man auch nicht so einfach sagen, daß es ihn gibt. Und das Schlimmste: Ihr habt auf eurem Beutezug auch vor Gott selbst nicht haltgemacht. Ihr habt ihn seines Körpers beraubt, ihr habt Gott getötet, nur damit ihr am Ende mit euch allein bleiben könnt, ungestört eure Wege gehen, in Muße euren Gedanken nachhängen und listig eure Pläne schmieden. Jetzt gibt es nur noch euch, die Neunmalklugen, die über Gott reden und dabei an sich selbst denken.

Nachdem ihr Gott aus seiner Welt ausgewiesen und in ein undefinierbares Refugium abgeschoben habt, werft ihr euch zu seinen Nachlaßverwaltern auf und bringt alles, was Gott mit seinen eigenen Händen geschaffen hat, in eure fein sortierten Warenlager. In eurer Selbstherrlichkeit habt ihr Gott seine Fische geraubt und seine Vögel; jetzt wird der kleine Brehm immer kleiner. Am Ende bleibt nur noch ein Blatt übrig. Es zeigt die ganze Schöpfung in einer Gestalt. Aber es ist nicht der Mensch, wie wir ihn aus der alttestamentlichen Erzählung und aus der Sixtinischen Kapelle kennen. Was bleibt, ist der Leibhaftige in Reinformat, so wie wir ihn am Ende des Textes bewundern können: Gott und Mensch und Tier in einer Figur, das Fell der erbeuteten Tiere um den Körper, die Jagdtrophäe auf dem Kopf, das Szepter in der Hand. Der Mensch hat seine Gestalt verloren. Nun sitzt er als teuflischer Wolpertinger auf der Kante der Wirklichkeit; und keiner weiß, wie lange er sich in seinem Spagat zwischen Himmel und Erde halten kann.

Teufel

Man hört den Häuptling von Seattle und denkt: Wenn wir uns wieder mit den Tieren an einen Tisch setzen und die Pflanzen dort stehen lassen, wo sie gedeihen, dann haben wir Gottes Schöpfung saniert. Und wer sollte das tun, wenn nicht wir, die Überlebenden Gottes? So könnten wir wenigstens den Geist Gottes in Ehren halten, Gott in den Lebewesen verehren, in den Steinen und den Bächen, so wie wir unsere Verstorbenen ehren, indem wir sie in lebendiger Erinnerung bewahren. Jedes Geschöpf: eine geheimnisvolle Repräsentanz seines göttlichen Ursprungs; und der Mensch mitten unter ihnen, allgegenwärtig, allwissend und allmächtig, kreativ und einfach göttlich.

Und dann entdecken wir, daß wir uns in den alten Steinen nicht wiedererkennen können; sie sind nicht wie wir, sie wissen nichts von uns, auch wenn wir uns noch so tief in sie versenken. Wir entdecken, daß wir uns mit den Tieren nicht solidarisieren können; sie suchen unsere Nähe nicht, auch wenn wir ihnen unsere ganze Zuwendung schenken. Wir entdecken, daß wir uns in den Bächen nicht spiegeln können; das Wasser sieht uns nicht, es treibt sein Spiel mit sich selbst und manchmal auch mit der Sonne; aber wir kommen in den Lichtspielen nicht vor. Nur wenn wir den Teufel an die Wand malen und Gottes Schöpfung zum apokalyptischen Szenario stilisieren, dann entdecken wir unsere Handschrift wieder, die zitternde Hand des von allen guten Geistern verlassenen Menschen.

5. Gott - ein Ebenbild des Menschen? Und der Mensch - ein Abbild Gottes? Wenn wir den Spiegel zerbrechen, geht uns nicht nur das Bild Gottes verloren; wir verlieren dann auch unsere eigene Gestalt, die Imago Dei. Deshalb haben die Christen die Geschichte Gottes und die Geschichte des Menschen von Anfang an andersherum geschrieben. Nicht vom Ende her, von der Gottesferne des Menschen, sondern so, wie sie es aus den alttestamentlichen Erzählungen kannten: von der ursprünglichen Gottesnähe des Menschen und von der Menschenfreundlichkeit Gottes, beide in Körperkontakt zueinander, so wie Michelangelo die beiden im Bild festgehalten hat. Und sie haben beide Bilder, den menschennahen Gott und sein Gegenstück, den gottesnahen Menschen, in einer Figur vereint, in der Gestalt des Menschen, dessen Namen die Christen tragen.

Die Geschichten, die sich die Christen bis heute erzählen, porträtieren den lebendigen Gott als leibhaftigen Menschen. Wir sehen ihn in unserer Kirche vor uns, am Ende seines Lebens, als Kruzifixus, am Ende seiner Leidensgeschichte. In einigen Wochen sehen wir ihn am Anfang seines Lebenslaufs, als neugeborenes Kind in der Krippe; das göttliche Kind braucht die Menschen um sich, seine Mutter und seinen Vater; und es hat auch nichts dagegen einzuwenden, wenn die Tiere in den Stall hereinkommen. Zwischen Lebensanfang und Lebensende liegt die Geschichte eines Mannes, der jedes Jahr ein Jahr älter wurde, der wie alle anderen Hunger hatte und Durst, der die Menschen, mit denen er seine Geschichte teilte, liebte und auch haßte, so wie Gott sich über seine Abbilder freut und sich über sie ärgert und sie das auch spüren läßt.

Und weil die Christen ihren Gott am Leben glauben, als ein lebendiges Wesen mit einem klopfenden Herzen, mit wachen Augen und griffbereiten Händen, deshalb haben sie sich auch die Wirklichkeit, die Gott für sich und seine Abbilder geschaffen hat, lebendig vorgestellt, als eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende. Die biblische Erzählung, über die heute, am zweitletzten Sonntag des Kirchenjahres, in den evangelischen Kirchen gepredigt wird, nimmt sich wie ein Gegenbild zur Schöpfungsgeschichte aus. Sie beginnt so, wie die anderen Religionen damals das Weltende beschrieben: 'Wenn Gott kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron der Herrlichkeit und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet'. Aber dann nimmt das apokalyptische Szenario eine eigentümliche Wende. Den Weltenrichter nannten die Christen den Menschensohn; und die Gerichtsszene, in der die Ebenbilder Gottes von ihren Zerrbildern unterschieden werden, erzählten sie so, als spiele sie sich mitten im Leben ab.

'Kommt her', sagt Gott zu denen, die er als seine Ebenbilder erkennt, 'nehmt die Welt, die ich am Anfang für euch geschaffen habe, als euer Erbe'. 'Warum gerade wir?' fragen sie ungläubig. 'Ich bin hungrig gewesen', antwortet der Menschensohn, 'und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.'

Ecce homo; was für ein Gott!

Amen.

Prof. Dr. Wolfgang Steck, Schellingstr.3/VG, 80799 München Tel. 089/2180-3483; Fax 089/3823

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