Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
Sonntag/Feiertag: 4. Advent
Datum: 21.12.1997
Text: Philipper 4, 4-7
Verfasser/in: Pastorin Doris Gräb, Göttingen


Predigttext Phil 4, 4-7

"Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte laßt kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen laßt eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus."

Predigt

Liebe Gemeinde!

Freut euch! Seit Wochen liegt es nun schon in der Luft. Überall klingt es mit. Freut euch! Bald ist Weihnachten! Wirklich bald. Sehet die vierte Kerze brennt. Hier, in der Kirche - und zu Hause meistens auch. Und draußen, in den Straßen, erst recht. Noch mehr Lichterglanz, noch mehr Betriebsamkeit als in den ersten Tagen des Advent. Die Spannung wächst: noch drei, noch zwei, noch einen Tag bis Weihnachten - und dann, dann steht das Christkind vor der Tür. So haben wir's als Kinder gesungen.

Also: Freut euch! Freut euch? - Ja, einerseits schon. Die Adventszeit war lang genug. Genug deswegen des Wartens, genug der Vorfreude. Genug des Laufens und Einpackens. Freut euch? - Die Geschäfte rüsten bereits wieder um. Weihnachtsartikel gibt es zu Sonderpreisen. Silvester muß schon geplant und vermarktet werden.

Freut euch? Ja, die Spannung wächst. Nicht nur bei den Kindern. Manches ist noch zu tun und zu besorgen. Alles soll schön werden und rundum harmonisch. Von allem soll genug, mehr als genug da sein. Damit die Freude vollkommen - oder zumindest fast vollkommen wird. Freut euch! Ja.

Aber andererseits gibt es so viele Menschen, denen läßt sich die Freude beim besten Willen nicht verordnen und erst recht nicht befehlen. In ihnen wird es in diesen Tagen eben nicht noch heller, nicht noch betriebsamer, nicht noch fröhlicher. Ganz im Gegenteil.

Im Krankenhaus zum Beispiel. Da wird es in diesen Tagen immer ruhiger. Die manchmal recht laute Geschäftigkeit läßt nach. Die Zimmer leeren sich. Weniger Besucher auf den Fluren; weniger Operationen und Untersuchungen. Wer nicht unbedingt muß, verschiebt auf das nächste Jahr. Freut euch? - Alles andere als Jubel ist hier zu vernehmen. Und doch: eine eigentümliche Spannung, eine unvergleichliche vorweihnachtliche Erfahrung auch hier. Vielleicht gerade hier: fernab vom Lichterglanz, vom Glühweinduft und Budenzauber diese merkwürdige Erfahrung: Dieses Fest zieht alle in seinen Bann. Weihnachten kann man offenbar nicht nicht feiern. Dieses Kind, auf dessen Ankunft wir warten - jeder, jede auf die eigene Weise - ist mächtig. Es fordert an den unterschiedlichsten Orten und in den verschiedensten Lebenssituationen, daß wir uns auf seine Ankunft vorbereiten: die einen unter lautem Jubel und nicht aufhörender Geschäftigkeit. Und die anderen werden eben immer stiller und immer melancholischer.

An manchen Orten liegt gerade in der sich ausbreitenden äußeren Ruhe die Spannung. Denn da ist dann erst Zeit. Zeit zur Erinnerung an frühere Weihnachtsfeste. An die ganz besonderen Heiligabende im Elternhaus - als die Kinder noch klein waren - im Krieg - auf der Flucht - in den ersten bescheidenen Nachkriegsjahren.

Ja, das Kind in der Krippe ist mächtig. Schon jetzt. Es fordert uns heraus, uns auf sein Kommen vorzubereiten. Jeden, jede innerhalb ihrer eigenen Lebenssituation. So gilt also doch: Freut euch! Der Herr ist nahe. Ja, aber eben in der ganzen Spannung, die zur Freude - und zur Vorfreude - gehört. Und diese Spannung - zwischen aufgeregter Freude und tiefer Traurigkeit, zwischen lautem Jubel und melancholischen Erinnerungen - sie durchzieht in Wahrheit nun auch den Aufruf des Paulus zur Freude über das Kommen des Herrn. Freut euch in dem Herrn allewege Und abermals sage ich: Freut euch!

Wirklich? Und warum? Wir wissen es ziemlich genau: Paulus hatte damals nur wenig Grund zur Freude. Aus dem Gefängnis hat er an die ihm liebgewordene Gemeinde in Philippi, der ersten auf europäischem Boden, geschrieben. Im Gefängnis, abgeschnitten vom normalen Leben. Auf sich selbst zurückgeworfen und doch volIer Sehnsucht nach den anderen. Derer sehnsüchtig gedenkend, die ihm besonders nahestanden. Vermutlich in Angst um das eigene Leben - und doch den anderen draußen mit letzter Kraft zurufend: Sorget nicht! Ängstet euch nicht! Im Gegenteil: Freut euch! Der Herr ist nahe.

Aus zugeschnürter Kehle - so möchte ich vermuten - kommt dieser Ruf zur Freude. Bald, bald wird dieses Elend hier ein Ende haben, denn: Der Herr ist nahe. Er wird kommen - auf den Wolken des Himmels wird er wiederkommen - und aller Angst, allem Leid ein Ende machen. Sehr real, und eben noch zu seinen Lebzeiten, hat Paulus darauf gewartet - auf Ihn gewartet, der alle Angst in Freude, den Streit in Frieden, alle Heillosigkeit in Heil würde verwandeln können. Warum sollten wir Angst haben? Worum sollten wir uns sorgen? Weswegen sollten wir mit anderen streiten? Der Herr ist doch nahe. Er wird uns Freude, er wird uns Güte, er wird uns Frieden schenken. Deswegen, eben deswegen: Freut euch!

Wirklich? Keiner von uns wartet so real wie Paulus auf den wiederkommenden, nahenden Herrn. Wir hören es doch anders, wenn wir den Ruf des Paulus hören. Und wir verstehen es auch anders. Der, der kommen wird, der ist ja schon gekommen: "in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut" singt Martin Luther. Mit unseren Worten vielleicht so gesagt: Gott ist nun mit dabei in diesem unserem angsterfüllten, von den Sorgen gefesselten, erbarmungswürdigen Leben. Deswegen: Freut euch! Deswegen: Freut euch? Warum denn nur?

Wie sollen wir's erfahren in den Traurigkeiten unseres Lebens? Wie merken wir's denn, daß das uns gilt - uns verändern will und verändern kann? Der, der kommen wird, auf den Paulus gewartet hat, der ist schon gekommen Über dem Stall von Bethlehem hat sich der Himmel geöffnet - und von jenem hellen Glanz liegt seither auch etwas auf meinem Leben. Ein heller Schein. Abglanz der strahlenden Herrlichkeit Gottes. Bleibendes Zeichen des geöffneten Himmels: "in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut": Seit damals gehört Gott mit hinein auch in mein Leben. Und manchmal erfahren wir es auch unmittelbar, daß er dabei ist in unserem Leben: in den ganz geglückten, kostbaren Augenblicken. Wo wir eins sind mit uns selber. Wo der Himmel sich öffnet und spürbar auf die Erde kommt. Wo wir auf dem tiefen Brunnengrund unserer Seele nichts als Freude und Dankbarkeit spüren, und das "Freut euch" keiner Anstrengung bedarf.

Doch: Wenn das andere übermächtig ist - so, wie bei Paulus im Gefängnis? Wenn wir gefangen sind - in unseren Ängsten, in unseren Sorgen um die Zukunft, in den Schmerzen, die nicht weniger werden wollen? Auch dann noch: Freut euch?

Erinnert euch doch, so möchte ich in Paulus' Namen sagen, erinnert euch doch, als sich für euch der Himmel einmal geöffnet hat. Erinnert euch doch an den Glanz, der euer Leben einmal ganz erfüllt hat und wo ihr es gespürt habt: Gott ist da, ist bei mir in diesem meinem kleinen und doch so großen Leben. Strahlt nicht noch etwas herüber - herein in die augenblickliche Dunkelheit?

Ich möchte annehmen, daß Paulus im Gefängnis von eben diesem Ganz erfüllt war. Daß er erfüllt war von seinen Begegnungen mit dem Auferstandenen, dessen Leben dort im Stall begonnen hat. Und daß er aus diesen Begegnungen Kraft gewinnen konnte. So viel Kraft, daß sie ihm auch in Zeiten der Not noch als Lebensreserven zur Verfügung standen. Es heißt, daß ihn bei seiner Bekehrung vom Saulus zum Paulus vor Damaskus - vielleicht erinnern wir uns noch - plötzlich ein Licht vom Himmel erleuchtete, das ihn zu Boden warf. Ähnlich wie die Hirten auf dem Felde, als sie die Stimme des Engels hörten, und die Klarheit des Herrn sie umleuchtete.

Glanz, der uns umgibt und ins Herz dringt. Zuweilen hell und strahlend- manchmal nur ganz spärlich. Letzte Reserven dann aus den überwältigenden Lichterfahrungen unseres Lebens.

Und eben aus solchen Reserven heraus mag der Ruf des Paulus zur Freude, zur Sorglosigkeit, zur Güte ergangen sein - um uns heute ins Herz gesagt zu werden. Denn, "Sehet, die vierte Kerze brennt. Gott selber wird kommen, er zögert nicht. Auf, auf ihr Herzen, und werdet licht". Gerade denen offenbar gesagt, die im Dunkeln sind, die keinen Grund zur Freude haben. Werdet licht! Erinnert euch an die lichten Zeiten, in denen Gott ganz nahe war. Erinnert euch, daß der Ganz, der über den Feldern von Bethlehem aus dem geöffneten Himmel über die Welt kam, nie mehr ganz verloschen ist. Daß er auch heute über eurem Leben liegt. Daß er auch das allerdunkelste Leben erleuchten kann.

Wie kein anderer hat dies Jochen Klepper gesagt. Er, dem die Angst die Luft zum Leben nahm. Er, der in seinen Tagebüchern im Advent 1941 von den schweren Zeiten schreibt, aus denen es keinen Ausweg gibt. Er, der unter Qualen nach den letzten Lichtreserven sucht. Leise, ganz leise wagt er zu singen: "Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein, der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein."

Eine wunderbare Auslegung jenes "Freut euch!" aus dem Philipperbrief. Alles andere eben als ein Appell zur fröhlichen Sorglosigkeit. Viel, viel mehr eine tröstende Zusage: Es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind.

Amen

Doris Gräb, Pastorin am Klinikum Göttingen, Raseweg 2, 37124 Rosdorf, Tel. 0551-7813 72

Anmerkungen zur Predigt

Aus dem Gefängnis in Ephesus ruft Paulus die Gemeinde in Philippi zur Freude angesichts des baldigen Wiederkommens Jesu Christi auf. Seine Wiederkunft relativiert die Leiden und Ängste dieser Zeit. Die reale Parusieerwartung des Paulus möchte ich so umformulieren: Der, der kommen wird, der ist schon gekommen.

Der Inkarnationsgedanke soll so übersetzt werden: Seit Weihnachten ist Gott mit dabei im Leben eines jeden Menschen. Die Botschaft vom geöffneten Himmel über den Feldern von Bethlehem und vom Glanz, der damals die Nacht hell gemacht hat, kann deswegen in die individuelle Lebenserfahrung hinein ausgelegt werden: Wo hat sich für mich der Himmel geöffnet? Wann ist es in den Nächten meines Lebens hell geworden? Solche Erinnerungen bilden die Lebensreserven und die Quellen der Freude, die nichts zu tun haben mit jubelnder Sorglosigkeit.

Als Klinikpastorin ist es mir ein besonderes Anliegen, die Spannung deutlich zu machen, die in der Freude auf das Weihnachtsfest verborgen ist. Unnachahmlich kommt diese Spannung m.E. im Adventslied Jochen Kleppers "Die Nacht ist vorgedrungen..." zum Ausdruck.

Doris Gräb, Pastorin am Klinikum Göttingen, Raseweg 2, 37124 Rosdorf, Tel. 0551-7813 72


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