Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Predigt am 2. Weihnachtsfeiertag 1997
Rudolf Rengstorf, Superintendent in Stade
Hebr. 1,1-4


Liebe Gemeinde!

Wenn man diese ersten Sätze des Hebräerbriefes an sich vorbeiziehen läßt, dann geht einem das leicht wie bei der Fernsehsendung "Am laufenden Band". Ich meine die frühere Show von Rudi Carell. Da lief am Ende einer Sendung am Gewinner ein Band vorbei mit einer Reihe von Gegenständen, oft nur symbolisch dargestellt. Die Gegenstände, die der Gewinner sich merken konnte, bekam er. Was er am Ende zu nennen vermochte, konnte er mitnehmen.

Was zieht in diesen wenigen Sätzen alles an uns vorüber: Gott - die Väter - Propheten - der Sohn - Erbe des Weltalls - Abglanz seiner Herrlichkeit - Abbild seines Wesens - machtvolles Wort - Reinigung von den Sünden - zur Rechten der Majestät in der Höhe - höher als die Engel... Wer kann das behalten und in der Schnelle auch noch etwas damit verbinden?

Doch hier will keiner ein Gedächtnistraining mit uns veranstalten. Und diese Worte sind nicht aufgeschrieben, um möglichst schnell von unseren Köpfen aufgenommen zu werden. Nicht zum Denken, zum Kombinieren oder zum Spekulieren sind sie aufgeschrieben, sondern zum Singen. Zum Mitsingen im Chor derer, die hingerissen sind von dem, der da zu Weihnachten Mensch geworden ist. Denn Weihnachten läßt sich nicht neutral von außen betrachten - es geht ja darum, daß Gott selbst zur Welt kommt und umgekehrt damit die Welt auch zu ihm kommt und keiner, auch nicht der moderne Mensch, davon unberührt bleibt, mag er sich noch so unbeeindruckt zeigen. Denn, mit allem Respekt, es geht in dieser Welt und in diesem Leben nun einmal nicht darum, was der einzelne Mensch von Gott hält, sondern allein darum, wie Gott zu dieser Welt und zu uns Menschen steht: Liebevoll - uns nachgehend bis zur Geburt in Stall und Krippe - davon sind unsere Weihnachtslieder ja voll.

Doch bisweilen wird in diesen Liedern vergessen: Nicht die Niedrigkeit und unsere Rührung darüber ist das Ziel der Wege Gottes, sondern den Himmel aufzuschließen und alles mit seiner Herrlichkeit zu durchdringen, darum geht es. Und darum blickt dieses Weihnachtslied genau in die entgegengesetzte Richtung - nicht in Krippe und Stall, nicht zu dem Kind, nicht zu den Hirten oder zu den Weisen aus dem Morgenland, sondern direkt auf zu dem, der hinter dem allen steht. Es sieht auf zu dem Platz, der dem Kind in der Krippe bei Gott, sozusagen im Zentrum der Macht, eingeräumt ist.

Ein Hymnus, ein Lied der Anbetung ist das - ein Hymnus in vier Strophen, dessen Mitsänger sich selbstvergessen ganz dem öffnen, ganz den auf sich zukommen lassen, der nicht für sich bleiben, sondern sich mitteilen will.

Strophe 1:
Gott hat vor Zeiten vielfach und auf vielerlei Weise
geredet zu den Vätern durch die Propheten.

Damit fängt alles an, daß Gott redet, zu Menschen redet und durch Menschen redet. Durch Menschen, die nicht nur behaupten, für Gott im Auftrag Gottes zu reden - das kann jeder - sondern durch Menschen, die mit ihrem Reden Recht behalten haben, weil sie Gottes Recht zur Geltung brachten. Er redet durch Menschen, die nicht sagen, was die andern hören wollen, sondern die sagen, was Gott uns hören lassen will.

Vielfach hat Gott geredet und auf vielerlei Weise - so, daß die Herrschenden ihn ebenso hören mußten wie die kleinen Leute, die dachten: auf mich kommts ja sowieso nicht an. Und er hat nicht allen das Gleiche gesagt, denn die Menschen sind ja nicht alle gleich, leben nicht unter den gleichen Verhältnissen. Den Unterdrückern hat er etwas anderen gesagt als ihren Opfern, den Überheblichen anderes als den Verzagten, den Reichen etwas anderes als den armen Schluckern. Und nie hat Gott in seinem Reden daran gedacht, sich aus der Politik herauszuhalten. Wer das heute fordert, weiß nicht, wie Gott zu den Vätern durch die Propheten geredet hat: immer und ausschließlich als der, dem diese Welt gehört und dem wir Rechenschaft darüber schuldig sind, wie wir mit seiner Welt umgehen.

Damit fängt alles an, daß Gott redet und sich nicht darum schert, daß viele religiöse Menschen, vor allem die Esoteriker, daran Anstoß nehmen und sagen: Das ist viel zu menschlich von Gott gedacht, viel zu naiv - da sind wir weiter, halten uns an eine göttliche Macht, die jenseits dessen ist, was wir uns vorstellen, sagen und denken können - allein im Schweigen, in der mystischen Versenkung können wir uns ihm nähern. Nein, was uns zu Menschen macht, daß wir hören und reden können - das geht an Gott nicht vorbei, das haben wir von ihm, weil er mit uns reden will.

Strophe 2: In diesen letzten Tagen hat er zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat.

In diesen letzten Tagen - das heißt, wir leben in der Endzeit der Welt. Zwar zieht sich das Ende schon lange hin seit damals, und was ist da nicht alles an Neuem passiert. Vom Menschen aus hat sich das Gesicht der Welt seit der Zeit Jesu gründlich verändert. Von Gott aus gesehen aber hat sich Neues nicht ereignet. Er hat sein letztes Wort zu dieser Welt gesagt, und dieses Wort heißt Jesus Christus. Mit ihm hat Gott seinen Erben eingesetzt. Nicht, natürlich nicht, für den Fall seines Todes, sondern weil alle Welt wissen muß, für wen sie gemacht ist und wem sie gehören soll. Denn er war auch schon dabei, als Gott die Welt geschaffen hat. Als Gott die Welt durch sein Wort schuf, da hat er seinen Sohn im Auge gehabt, damit alles ihm auch entspricht.

Das Kind in der Krippe, der Wanderprediger am See Genezareth, der wunderliche König, der mit dem Esel in Jerusalem eingeritten ist, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben um das Jahr 30 - für Gott ist er der Dreh- und Angelpunkt der Welt, ja des Kosmos im ganzen.

Daß die Welt zu einer Einheit wird - wir erleben das jetzt unter dem Stichwort Globalisierung. Das hat ja einen eher bedrohlichen Klang, denn es gibt keinen isolierten und vom einzelnen überschaubaren Wirtschaftsraum mehr. Was wo produziert wird, wo Arbeitsplätze entstehen und wo sie abgebaut werden - darüber entscheiden globale, weltweite Marktgesetze. Und die einzelnen Staaten haben immer weniger Möglichkeit, dem gnadenlosen Wettbewerb humane und soziale Grenzen zu setzen. Denn das dafür notwendige Geld wird ihnen durch die weltweit operierenden Konzerne entzogen. Desto aufregender ist dieser Hymnus auf den, dem in Wahrheit die Welt gehört und der sich allein mit ihr auskennt - von Anfang an: Jesus Christus. Letztlich regiert nicht Geld, sondern Barmherzigkeit die Welt!

Strophe 3:
Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens
und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort
und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden
und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe.

Abglanz, Ebenbild - so sieht das aus zwischen Gott und Christus. In Christus zeigt Gott, wer er ist: kein abstraktes Prinzip, keine unpersönliche, namenlose Macht. Nein, wie das Kind in der Krippe und wie der Mann am Kreuz - so ist Gott. Und umgekehrt ist Jesus nicht nur mein Freund und Bruder, nicht nur der Sympathieträger aller Menschen guten Willens. Er ist Abglanz der Herrlichkeit das allmächtigen Gottes.

Und darum hat er auch eine unglaubliche Tragekraft. Die ganze Welt trägt er mit seinem kräftigen Wort. Daß Menschen in ihrem Leid nicht einfach versinken; daß sie aushalten und tragen können; daß sie einander Lasten abnehmen und sich gemeinsam dem entgegenstellen können, was das Leben kaputtzumachen droht; daß sie gegen den Tod anarbeiten; alles tun, um Leben zu retten; gegen ihn rebellieren und die Hoffnung nicht aufgeben bis zum letzten Atemzug; daß Schwerstbehinderte ihr Leben wollen und ihm bisweilen mehr Freude abgewinnen können als die Gesunden - darin zeigt sie sich, die Tragekraft Jesu Christi und die Überzeugungskraft seines Wortes. Daß er die auf Geld und Macht und Gesundheit Setzenden nicht überzeugt, sagt gar nichts. Weil ihre Fundamente doch keinen Bestand haben. Wer das letzte Wort hat, zeigt sich an denen, die von alledem nichts haben und die dennoch leben und getragen werden.

Und darin, in seinem Tragen, seinem Mitleiden und Mitsterben hat er vollbracht, wozu sonst keine Macht im Himmel und auf Erden fähig wäre, nämlich die Reinigung von den Sünden. Damit, daß Gott an meine Seite tritt und mir gegen den Tod hilft, werde ich frei und rein davon, selber Gott sein, selber alles bestimmen, selber das letzte Wort haben zu müssen. Wenn ER auf Gottes Thron sitzt, habe ich nichts mehr zu befürchten!

Strophe 4:
Und er ist so viel höher geworden als die Engel,
wie der Name, den er ererbt hat, höher ist als ihr Name.

Die Engel haben wir ganz schön runtergeholt von ihrer Höhe und haben uns das von ihnen genommen, was wir hier auf Erden brauchen können: die Erfahrung, in brenzligen Situationen Glück gehabt zu haben oder auch der Wunsch, daß da immer ein harmloses Wesen ist, das auf mich aufpaßt: mein persönlicher Schutzengel.

Dabei sind Engel Boten, die mir sagen, was ich nicht ändern kann, worauf ich mich einzurichten habe. Nicht harmlose Flügelmatze, sondern als Schreckensgestalten treten solche Boten häufig genug auf - als Würgeengel, Racheengel, Todesengel. Sie verkörpern das, was wir uns Schicksal zu nennen angewöhnt haben. Sie sagen dir, daß du an deiner Vergangenheit nichts mehr ändern kannst, sie dich aber immer wieder einholen wird. Sie sagen, daß wir uns die Zukunft schon längst verscherzt haben und diese Welt die Menschheit nicht mehr lange ertragen wird. Sie sagen, daß es undurchschaubare und anonyme Mächte sind, die diese Welt im Griff haben und daß du als einzelner sowieso nichts dagegen machen kannst. Sie sagen: Wo so viel Not herrscht, so viel Hunger, so viel Morden und Ungerechtigkeit, da kann kein Gott sein. Sie sagen: Dein Glaube ist nichts anderes als eine an den Himmel geworfene Projektion deiner Wünsche. Angst und Schrecken verbreiten sie, die Boten der unabwendbaren Realität.

Zu Weihnachten und Ostern allerdings mußten sie sagen: Fürchte dich nicht! Euch ist heute der Heiland geboren. Und was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?

Noch sind sie da, die deprimierenden Realitäten, die unser Leben im Griff haben. Aber einem sind sie untergeben, und gegen seinen Namen sind sie machtlos: Jesus Christus! Und darum haben wir Grund zu singen: Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis!

Amen


Rudolf Rengstorf, Superintendent in Stade