Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

1. Sonntag nach Weihnachten, 28.12.1997
1. Johannes 1,1-4
Heinz-Dieter Knigge: "Das Leben ist erschienen"!




Predigttext 1. Johannes 1,1-4

"Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsere Hände betastet haben, vom Wort des Lebens - und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist, - was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und das schreiben wird, damit unsere Freude vollkommen sei."

Predigt:

Liebe Gemeinde!

Wir kommen von Weihnachten her. Wir gehen auf Silvester und Neujahr zu. "Zwischen den Jahren" nennt man diese letzten Tage eines Jahres, zu denen auch der heutige Sonntag gehört. Das große Fest ist vorüber. Aber noch stehen die geschmückten Weihnachtsbäume in unseren Zimmern, in den Kirchen, auf unseren Plätzen. Noch zünden wir die Weihnachtskerzen an, und noch singen wir Weihnachtslieder. Und vielleicht ist auch noch etwas übriggeblieben von der Weihnachtsgans, vom Weihnachtsbraten oder vom Weihnachtsgebäck. Aber schon stehen uns neue Feiern bevor. Andere Gefühle kommen in uns auf. Ein Jahr geht zu Ende.

Schon wieder ist ein Jahr vorüber, mag mancher denken. Was wird das neue Jahr uns bringen? "Zwischen den Jahren". Wir erleben uns in einer Situation des Übergangs. Deutlicher als sonst wird uns bewußt, daß Zeit zu Ende geht, daß uns Zeit neu geschenkt wird, daß zu der Zeit, in der wir leben, das Werden gehört und das Vergehen.

"Zwischen den Jahren", in diesen Tagen des Übergangs, hören wir den Predigttext für den Sonntag nach Weihnachten. Im 1. Johannesbrief, Kapitel 1, Vers 1 - 4 heißt es: (Verlesung des Textes).

Vielleicht kann uns das, was wir gehört haben begleiten bei unserem Hinübergehen von Weihnachten zu Silvester, von einem zum anderen Jahr. "Das Leben ist erschienen" heißt es in unserem Predigttext. Das ist eine schöne, eine helle, eine strahlende Zusammenfassung der Weihnachtsbotschaft, der ich auch am Sonntag nach Weihnachten gern noch nachdenken möchte. "Das Leben ist erschienen". Das erinnert mich an den Predigttext vom Heiligabend aus dem Titusbrief: "Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes", hieß es dort. Ich denke aber auch an Epiphanias, an das Erscheinungsfest, das wir am 6. Januar feiern, das bis heute das Weihnachtsfest der orthodoxen Kirche ist.

Wir sprechen davon, daß Bücher erscheinen oder Zeitungen. Erscheinung, Epiphanie - in der Bibel werden diese Worte benutzt, um das Sichtbarwerden Gottes in unserer Welt zu bezeichnen. "Das Leben ist erschienen", das heißt also im biblischen Text: Gott ist erschienen.

Gott - wir wissen oft nicht mehr, was wir anfangen sollen mit diesem Wort. Aber unser Predigttext hilft uns weiter; Gott, das ist der, der das Leben ist und der das Leben schenkt, das eigentliche Leben, das Leben, dem nichts mehr fehlt.

Unser Predigttext spricht vom ewigen Leben. Da müssen wir aufpassen. Das ewige Leben ist nicht das jenseitige Leben, das Leben nach dem Tod. Ein theologischer Lehrer (Ernst Fuchs) hat mal gesagt, es sei im Grunde gottlos gedacht, wenn wir aus dem einen Leben zweierlei Leben machten, ein diesseitiges und ein jenseitiges Leben. Das hieße, Gott selber zu teilen, ihn ins Jenseits abzuschieben und ihm das Diesseits vorzuenthalten.

"Das Leben ist erschienen." Gott ist erschienen. Ewiges, wahres, bleibendes, erfülltes Leben. Im Diesseits tritt es in Erscheinung, weil Gott sich nicht abdrängen lassen will ins Jenseits. Gott wird Mensch. Lukas erzählt vom Krippenkind, Matthäus vom Stern, der die Magier herbeiholt aus fernen Landen, Johannes spricht vom Schöpfungswort Gottes, das Fleisch, das Mensch geworden ist und unter uns wohnte. So verschieden kann man von der Epiphanie, von der Erscheinung des göttlichen Lebens, von Jesu Geburt, reden. Aber jeweils ist die Welt, in der wir leben, der Ort dieser Erscheinung: Das Leben schlechthin, Gott, erscheint in unserem Leben - in der Gestalt Jesu von Nazareth, der im Johannesevangelium einmal genannt wird "Brot für das Leben der Welt" (Joh. 6,51).

"Das Leben ist erschienen." Das ist wohl die Mitte, der zentrale Satz unseres Predigttextes. Aber zur Mitte gehört etwas, das vorausgeht und etwas, das folgt. Sonst wäre da keine Mitte. Ich kann es auch anders sagen: Und wenn ich mich selber nun ganz am Rande fühlte, wie käme ich denn da hinein in diese Mitte? Und wenn ich mit dieser Mitte in Verbindung gekommen sein sollte, welche Konsequenzen hätte das dann für mich?

Der Verfasser unseres Predigttextes spricht von dem "was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir betrachtet haben und unsere Hände betastet haben..." Unwillkürlich denke ich an den greisen Simeon, von dem vorhin in der Lesung die Rede war, der das Jesuskind in seine Arme nehmen konnte und der dann sagte: "Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, ... denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen."

Solch' einen Jesus wünsch ich mir ja im Grunde auch - einen Jesus zum Anfassen und Rumtragen und Rumzeigen. Aber da bin ich nun wirklich 2000 Jahre zu spät geboren. Aber sicher hat das auch seinen Sinn. Ob ich wohl, wenn ich damals gelebt hätte, vor der Krippe Jesu anbetend stehengeblieben wäre? Wahrscheinlicher ist doch, daß ich achselzuckend vorübergegangen wäre und gedacht hätte: Das arme Kind! Dieser zugige Stall und eine Futterkrippe ist seine Wiege. Es gibt wirklich zu viel Not und Elend in der Welt! Hoffentlich wird das Kind überleben.

Aber auch der Verfasser des 1. Johannesbriefes war wohl zu spät geboren, um Jesus persönlich hören, betrachten und anfassen zu können. Um 100 oder um 120 nach Christus hat er wahrscheinlich seinen Brief geschrieben. Mir fällt nun auch auf, daß er gar nicht von einer Person spricht, sondern wie von einer Sache. Er sagt nicht: Der von Anfang an war, den wir gehört haben, den wir gesehen haben mit unseren Augen, den wir betrachtet haben und unsere Hände betastet haben - nein, er spricht immer vom Was: was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben usw.. Das paßt zum Schluß des Verses, der dann vom Wort des Lebens redet.

Ich finde das wichtig. Was führt uns in die Mitte unseres Predigttextes, hin zu dem Satz: Das Leben ist erschienen? hatte ich gefragt. Offenbar das Wort, das dieses Leben verkündigt, das davon spricht, daß Gott in Jesus für uns, in unserer Welt, als das Leben erschienen ist, das das, was wir Leben nennen und Tod, umschließt und umgreift - Vielleicht sind wir jetzt enttäuscht. Wir leben in einer erfahrungshungrigen Zeit. Worte gelten als Schall und Rauch, Fakten zählen. Aber wie können Fakten anders veröffentlicht, weitergegeben und mitgeteilt werden als durch Worte?

Das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist, will und muß verkündigt werden. So steht es auch in unserem Predigttext: Der Satz, der die hymnisch-feierlichen Verse unseres Predigttextes trägt, heißt: "Wir verkündigen euch " . Zum Wort aber gehören Menschen, die es verkündigen und weitersagen.

Wir alle werden uns an Menschen erinnern können, durch die wir mit dem christlichen Glauben und mit der Kirche in Berührung gekommen sind. Wenn es sie nicht gegeben hätte, wären wir jetzt nicht hier. Johannes, der Verfasser unseres Briefes, schreibt seiner Gemeinde voller Sorge. Er warnt sie vor Mitchristen, die den christlichen Glauben in eine Idee aufzulösen versuchen, für die es nicht mehr wichtig ist, daß Jesus Mensch wurde und unter uns lebte und starb. Damit verlieren wir den Kontakt zur Wirklichkeit, sagt der Briefschreiber, zur Geschichte, zu den Menschen, die uns dann auch gleichgültig werden, an denen wir dann lieblos vorübergehen können.

Das Wort ward Fleisch, wahrer Mensch, heißt es über Jesus im Johannesevangelium. Aber dieser Jesus ist für uns auch wieder zum Wort geworden, damit er uns und wir ihm nahe sein können. Er ist zu einem Wort geworden, in dem wir bleiben und wohnen können, zu einem Licht-, Leucht- und Anfaßwort, das uns begleitet, das vor uns hergeht, das bei uns ist, wenn wir Weihnachten feiern (und auch, wenn wir dabei Enttäuschungen erleben).

So nahe rückt uns das Wort der Verkündigung den fleischgewordenen Jesus, daß z. B. Paul Gerhard (anno 1653!) dichten konnte: "Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben, ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und laß dir's wohlgefallen." Das hört sich an, als ob es keinen garstig breiten Graben der Historie mehr gäbe, als ob uns keine 2000 Jahre von jenem Geschehen trennten, das wir eben wieder gefeiert haben.

Ich denke, dieses Wort des Lebens kann uns auch begleiten, wenn wir hinübergehen von einem Jahr zum anderen. Es wird uns auch im neuen Jahr Kraft zum Leben schenken. Worte sind Schall und Rauch, denken wir vielleicht. Aber es kommt darauf an, was das für Worte sind - und wer sie uns sagt. Durch sein Wort hat Gott Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Tiere und Menschen geschaffen. Mit seinem Wort will er auch bei uns sein:

"Das Leben ist erschienen." "Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsere Nacht nicht traurig sein" heißt es in einem neueren Weihnachtslied. Martin Luther hat in einer Predigt über unseren Text einmal gesagt: "Dieses Leben (das da erschienen ist) ist mächtiger als alle Tode und Höllen. Es wird angeboten und erscheint, laßt uns nur die Herzen öffnen, dann haben wir den, der mächtiger ist als Tod und Sünden!"

"Das Leben ist erschienen." Gott ist Mensch geworden in Jesus von Nazareth. Das wird uns verkündigt als lebendigmachendes Wort - und wozu führt uns das? Wir wollen noch in den Schlußteil unseres Predigttextes hineinhören. Sein Leitwort heißt: Gemeinschaft! Es geht um die Gemeinschaft untereinander, die in der Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus gründet. Da merken wir schon, was mit der Gemeinschaft gemeint ist, die zu dem Leben gehört, das für uns erschienen ist. Gemeinschaft heißt zunächst: Selber Anteil haben an der Epiphanie dieses Lebens, dazuzugehören, sich zum Teilhaber Gottes und Jesu Christi machen zu lassen. Gemeinschaft heißt aber dann sofort auch: anderen daran Anteil geben.

Was in der Vorrede zum 1. Johannesbrief, in unserem Predigttext, nur erst andeutend gesagt ist, wird im nachfolgenden Brief immer wieder entfaltet. Da heißt es z. B. im 4. Kapitel: "Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm." Und wenig später: "Laßt uns lieben, denn er (Gott) hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott und haßt seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder (und für die Schwester gilt das natürlich genauso) nicht liebt, den (oder die) er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Und dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß er auch seinen Bruder (und seine Schwester) liebe." Und woran erkennt man die Liebe? An der Freude! (E. Fuchs) Denn wer liebt, freut sich.

Es ist gut, denke ich, solche Worte zwischen den Jahren zu hören. Sie sagen uns, woher wir kommen und wohin wir gehen. Gott ist ein Liebhaber des Lebens. Er will Leben in unser Leben bringen, Leben das bleibt. Er will, daß wir an das Leben glauben, auch an unser Leben, das uns geschenkt ist. Denn Leben hat man nicht einfach, genauso wenig wie Gott. Er will, daß wir entsprechend handeln, daß wir "in der Liebe bleiben." So wird aus einem Jesus zum Anfassen unversehens ein Glaube, den man sehen und anfassen kann.

Möge uns die Gewißheit beim Wechsel der Jahre begleiten, daß wir im Leben, in Gott, in der Liebe wohnen können - und daß die Wohnung so groß ist, daß wir noch abvermieten, auch andere noch hineinlassen können.

Amen


Zum Text:

Statt des üblichen Briefanfangs mit Präskript und Proömium beginnt der 1. Johan-nesbrief mit einer hymnisch gestalteten Einleitung, die eine wohl beabsichtigte Entsprechung zum Eingangsprolog des Johannesevangeliums darstellt. Allerdings meint der "Anfang", von dem unter Verwendung verschiedener Präpositionen hier wie dort gesprochen wird, einen jeweils verschiedenen Zeitpunkt; dem Uranfang in Joh. 1, 1. wird jetzt der Anfang der Verkündigung oder des Glaubens gegenübergestellt, wie z. B. Joh. 15,27; 1.Joh. 2,7; 2,24 und 3,11 m. E. deutlich zeigen. Dazu paßt die Situation, in der der Brief geschrieben ist. Der Verfasser wendet sich gegen Häretiker, die die Inkarnation bestreiten, wie z. B. 1. Joh. 4,2f. deutlich zeigt. Sie aber ist "von Anfang an" verkündigt worden: "Was ihr gehört habt, von Anfang an, das bleibe in euch" (1. Joh. 2,24). Die neutrische Ausdrucksweise hier ist auch im Briefeingang (1,1) benutzt. Sie soll m. E. in Verbindung mit den gehäuft gebrauchten Verben der sinnlichen Wahrnehmung einschärfen, daß die Verkündigung den fleischgewordenen Logos, den "Jesus zum Anfassen", repräsentiert: Die neutrische Ausdrucksweise, der Bezug auf das "Wort des Lebens" und die wahrscheinlich späte Abfassungszeit des Briefes (Ende des 1., Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr.) lassen eine (oft versuchte) Deutung auf Augenzeugen m. E. nicht zu. Die Aussage: "Das Leben ist erschienen" im 2. Vers markiert das inhaltliche Zentrum des Textes. Leben wird als ewiges Leben gekennzeichnet, was wie im Evangelium das durch den Glauben an Jesus jetzt schon vermittelte Verhältnis zu Gott bezeichnet (vgl. z. B. Joh. 5,24). Im 3. Vers dominiert das Stichwort "Gemeinschaft". Sie wird als Gemeinschaft mit den Adressaten interpretiert, die in der Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus gründet. Der Brief entfaltet breit, daß diese Gemeinschaft Gottes- und Bruderliebe bedeutet ( vgl. z. B. 4,16;21). Wo diese Übereinstimmung mit Gott und dem Bruder (und der Schwester) geschieht, ereignet sich vollkommene Freude (V. 4).

Zur Gemeinde:

Ich habe die Christophorusgemeinde in Göttingen vor Augen, in der ich viele Jahre Pastor war. Eine große Gruppe von Optanten, Studenten, Akademiker, einfache Leute, Behinderte aus den benachbarten Christophorushäusern - die Mischung könnte kaum bunter sein. Aber wer wird am Sonntag nach Weihnachten kommen? Wahrscheinlich nur wenige, aber die kommen, bringen wahrscheinlich auch bestimmte Erwartungen mit, die - wenn möglich - aufzunehmen sind.

Heinz-Dieter Knigge