Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag/Feiertag: 1. Advent
Datum: 30.11.1997
Text: Jeremia 23, 5-8
Verfasser/in: Prof. Dr. Joachim Ringleben, Göttingen


Predigttext Jeremia 23, 5-8



Bewegte Vergangenheit

Predigt am 1. Advent im Universitätsgottesdienst (30.11.1997 mit Abendmahl) über Jeremia 23,5-8. St. Nikolai-Kirche Göttingen.

(5) Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß ich dem David einen gerechten Sproß erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. (6) Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: "Der Herr unsere Gerechtigkeit". (7) Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, daß man nicht mehr sagen wird: "So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!", (8) sondern: "So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte." Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.

Liebe Gemeinde!

Was hat es damit auf sich: Heute, am 1. Advent, heute, im Blick auf das Kommen Christi, erreicht uns die Stimme eines Propheten Israels, Worte von vor 2600 Jahren. Wo wir nach vorn blicken möchten, sollen wir zurückhören, in eine ferne Vergangenheit. Und doch liegt es auf der Hand: Diese Vergangenheit zielt auf uns, sie reicht bis hierher zu diesem Adventssonntag, und sie will sich heute vor unseren Ohren erfüllen (Lk 4,21). Diese Prophetenworte aus der Geschichte Israels, sie gehören in die Vorgeschichte des Advents, denn er hat eine äußerst bewegte Vergangenheit. "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?"

Das ist die Spannung unserer Gegenwart als christliche Gemeinde: Der Blick zurück in die Dämmerung der Zeiten, das Hören auf längst Vergangenes erleuchtet unser Heute. - Aber je herkunftsvergessener diese Gegenwart, desto unergründlicher das Vergangene. Jedenfalls ist klar: keine Ankunft ohne Herkunft und kein Advent ohne Vorlauf. Darum sprach man früher so schön und tiefsinnig von der "endlichen Ankunft" unseres Heilands. Aber die Ankunft zeigt auch erst, daß das Vergangene eine Herkunft war. So bewegt die Gegenwart auch die Vergangenheit.

I
Für Jeremia selbst wurde die Vergangenheit durch die Zukunft bewegt: "Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, daß man nicht mehr sagen wird: "So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!", sondern: "So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte." Und sie sollen in ihrem Lande wohnen."

Der Prophet blickt auf einen zweiten Exodus, eine zukünftige Herausführung seines Volkes aus aller Zerstreuung. Dieser zweite Exodus überholt und überbietet den ersten aus Ägypten, er wiederholt die Gründungsgeschichte des Gottesvolkes, und das sollte endgültig sein. Wir blicken auf einen ungeahnten neuen Exodus, auf einen neuen König der Juden, Jesus, mit dem Israel ein innerer Exodus widerfuhr: Mit Jesus wurde es innerhalb seiner selbst über sich hinaus geführt. "Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin" (Mt 21,5; Sach 9,9). Mit ihm war die Gerechtigkeit Gottes mitten unter uns. "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?" Unergründlich tief schon für Jeremia, den Propheten, und unergründlich tief für die christliche Gemeinde.

Wir lesen das Alte Testament von Christus her, und Jeremia leitet hier dazu an. Dabei wird das Alte Testament uns immer wieder neu, denn wir betreiben so eine Spurensicherung: Spuren des lebendigen Gottes in der Wirklichkeit der Geschichte, des Gottes, der selber unterwegs ist mit der Geschichte.

Da ist dieses seltsame Volk, klein und unbedeutend inmitten der vorderorientalischen Welt; ein Volk, das mit so merkwürdigem Selbstbewußtsein auf den Geschichten seiner Vergangenheit beharrt, diesen nomadisierenden Vätern, diesen wankelmütigen Königen - darauf beharrt, als sei diese obskure Vergangenheit weltbedeutsam - und ist sie es denn nicht wirklich? Dieses Winkelvolk, durch seinen Gott abgesondert und umgetrieben, dessen Wort seine Geschichte bestimmt, auf ihr lastet, in ihr rumort. Von diesem Wort bewegt, beunruhigt, aufgewühlt, ein Stachel im Fleisch dieses Volkes.

Und dann diese großartigen Prophetengestalten, die eben dies betreiben, im Blick auf Vergangenheit und Zukunft des Volkes, zwischen Heil und Unheil schwankend, oft von hellsichtiger Wachheit, teils das kritische Gewissen ihrer Zeit, teils einer fernen Zukunft zugewandt, nach vorn, auf ein unvorstellbar neues aus. Oft haben sie die Wahrheit auf ihrer Seite, oft überholt sie das Geschehen radikal. Offensichtlich sagen sie immer mehr, als sie selber wissen können; ihr Wort reicht weit über sie hinaus - reicht bis zu uns.

So ist in der Vergangenheit dieses Volkes, seiner Geschichte und seiner prophetischen Wächter etwas Treibendes am Werk, eine tiefe Unruhe, eine Zukunftsöffnung, eine messianische Hoffnung in ihrem Erbe. Und dies alles unlöslich verbunden mit dem Namen ihres Gottes von fernher. "Siehe, es kommt die Zeit ... Zu seiner Zeit wird ..." (5 u. 6) - das ist der Tenor. Hören wir heute darauf, tasten wir uns heute in diese Vergangenheit zurück, so spüren wir wohl etwas von dem Geheimnis, das in dieser Geschichte am Werk ist, spüren wir die Bewegtheit dieser Vergangenheit, den Schimmer eines unsäglichen Versprechens über dem vergangenen Geschehen. "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?"

Erst wenn wir so fragen oder hören, nämlich: Was geht eigentlich vor sich in dieser Vergangenheit, was ist ihre treibende Problematik, was ist darin lebendig unterwegs zu sich, was arbeitet sich darin aus? - erst dann können wir überhaupt vernehmen, daß darin das Wort Gottes am Werk ist, das zu uns weitergegangen ist. Ähnlich kam schon den Propheten das Wort aus ihrer Geschichte entgegen - das Wort, das sie zur Sprache brachten. "Bewegte Vergangenheit": Gottes work in progress, Zukunft im Erbe. "Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen"!

Es geht um Gottes langen Marsch durch die Jahrhunderte, durch die Geschichte mit ihrem Auf und Ab. Die Propheten sind die Seismographen dieser heimlichen Bewegtheit, aus der im Sprung Neues kommt - wie bei einer Geburt.

Ein langsames und stilles Reifen, der neuen Gestalt entgegen, eine sukzessive Ablösung oder Auflösung der alten Welt, deren Wanken nur durch einzelne Symptome angedeutet wird, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten - das sind die Vorboten. Und diese allmählich Veränderung wird dann irgendwann plötzlich unterbrochen, wie durch einen Blitz (Lk 10,18), und mit einem Male steht das Gebilde einer neuen Welt da.

Ich rede nicht zufällig von der Geburt des Neuen. Der letzte König Judas, den Jeremia vor Augen hatte, ist ein Mann ohne Kinder gewesen (22,30). Er hieß "Zedekia", worin das hebräische Wort für Gerechtigkeit steckt; aber so hatte ihn nur der fremde Oberherr Nebukadnezer benannt (2 Kö 24,17). Auf diesen Abbruch hin spricht Jeremia von einem Neuanfang: Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß ich dem David einen gerechten Sproß erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: "Der Herr unsere Gerechtigkeit"."

Nach dem kinderlosen Pseudo-Zedekia will Gott selber Vater werden, und er will in Wahrheit den Namen geben: "Der Herr ist unsere Gerechtigkeit". Gott will Vater werden, d.h. er will einen neuen Sproß Davids erwecken: "seinen Sohn Jesus Christus, unsern Herrn, geboren aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch" (Röm 1,3). Und er will Vater werden, indem er selber sagt: "Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe" (Mt 3,17).

Dahin führte die lange Geschichte: zur Gottesgeburt in Israel, und die Vergangenheit dieses Volkes ist innerlich so bewegt, weil die Geschichte Israels mit etwas schwanger geht: "Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan" (Gal 4,4). Denn: "als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte" (Lk 2,6).

II
Liebe Gemeinde, kürzlich erschien ein Buch mit dem Titel: "Gott. Eine Biographie"; ein interessanter Titel, aber leider nicht mehr. Unsere persönliche biographische Vergangenheit, sie ist fast nur die Bewegung ins Vergangensein, sie entzieht sich uns mehr und mehr. Oder geht es Ihnen anders? - Aber Gott hat eine bewegte Vergangenheit, oder besser: er "hat" nicht eine Vergangenheit, sondern er bewegt sie: seine Vergangenheit und unsere Vergangenheit. Wie unrecht hat doch christlich Schiller mit dem "Ewig still steht die Vergangenheit"! Denn Gott ist der Lebendige, weil er der ist, der auch die Vergangenheit noch bewegt, und darum hat die Zukunft schon begonnen.

Wir stoßen Jeremias Prophetenwort auf Gottes bewegte Biographie, d.h. wir stoßen auf das Geheimnis der Ewigkeit. Diese bewegte Vergangenheit hat mit der lebendigen Ewigkeit, mit dem ewigen Leben zu tun, mit dem lebendigen Gott selber. Darum ist diese Vergangenheit in sich so bewegt daß sie unsere Zukunft ist: der ewige Advent.

Das ist Gottes schöpferisches Wort durch die Propheten: im Lichte der Verheißung das Unabgegoltene, die Offenheit des Vergangenen zu enthüllen. Immer wieder sagen diese Propheten: "So spricht der Herr", und sie machen damit die vergangene Wirklichkeit zu einer ganz neuen Möglichkeit. Die Geschichte Israels wird bewegt durch die göttlichen Akte ständiger Neuinterpretation: im Ereignis des Wortes - Zukunft im Vergangenen und Hoffnung im Gewesenen.

"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit." Sollte man ihn nicht unerschöpflich nennen? Ihn auszuschöpfen, dazu gehörte der lange Atem des Schöpfers selber: "Nachdem vor Zeiten Gott vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, welchen er gesetzt hat zum Erben ..." (Hebr 1,1f.). Damit ist Israels Vergangenheit umgeschrieben und neu formuliert, denn sie weist nun in eine ewige Zukunft.

Zu dieser langen Rede durch die Geschichte des Himmelreichs gehört wahrlich ein göttlicher Atem, der belebende Hauch des Schöpfers, damit der Redende nicht aus der Puste kommt, und so kann man den Anfang des Hebräer-Briefes auch einmal lesen: "Nachdem GOTT durch Natur und Schrift, durch Geschöpfe und Seher, durch Gründe und Figuren, durch Poeten und Propheten sich erschöpft, und aus dem Othem geredet hatte, so hat er am Abend der Tage zu uns geredt durch Seinen Sohn - gestern und heute! - bis die Verheißung seiner Zukunft - nicht mehr in Knechtsgestalt - auch erfüllt seyn wird -", so Hamann. "Er meint den in seinem Eifer um uns atemlos bemühten, auf uns einredenden, hinter uns herlaufenden Gott."

Dieser Gottesknecht wird zum "endlichen" König geboren, "der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen" (5f.).

III
Liebe Gemeinde, die Gottesgeburt geschah vor fast 2000 Jahren. Gott ließ sich als ein Mensch gebären, die Ewigkeit kam in die Zeit: die "endliche Ankunft" unseres Herrn und Heilands. Sein Advent veränderte die Zeit, und er bewegte noch einmal neu die Vergangenheit. Denn seine Gegenwart kehrt die Vergangenheit um: Der Sohn Davids ist zugleich der, den David im Geist seinen Herrn nennt (Mt 22,45), ja mehr noch, der mit der Ewigkeit in die Zeit kommt, überholt die Vergangenheit: "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich" (Joh 8,58).

"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?" Denn der kommende Ewige überholt das Vergangene. Ist das nicht voller Geheimnis: In der Geschichte selbst entsteht, was alle Geschichte vollendet? Von dem Kind in der Krippe her kommt der Richter am Ende der Welt, und aus dem Tode Jesu kommt für alle Zukunft der lebendige Herr.

Die Vergangenheit ist so unergründlich, daß sie noch die Zukunft enthält, daß wir in ihr dem begegnen, was auf uns noch zukommt: "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit".

Darum sprach Christus der Herr nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gab, nämlich am tiefen Brunnen Jakobs, vom lebendigen Wasser (Joh 4). "Brunn alles Heils, dich ehren wir ... O Segensbrunnen, der ewig fließt" (EG 140,1 u.5); O Brunnen unerschöpfter Güt" (EG 389,3).

Aus diesem lebendigen Brunnen entstand uns Christus, der neue König der Gerechtigkeit. Ihn gibt es nur, weil Gottes schöpferisches Wort weiterwirkt, und das mit ihm erfüllte Wort läßt uns das Wort der Vergangenheit neu hören. Von Christus aus wird uns das Alte Testament eben das "alte" Testament - und das gerade, weil wir es neu lesen.

Er regiert über die Vergangenheit, bewegt sie zu sich hin, sammelt sie in sich selber. Erst von der Erlösung her, in Christus, kommt die Vergangenheit seines Volkes ganz ins Reine, und unsere Vergangenheit wird uns erst als Erlösten wahrhaft zu eigen sein. Das ist die königliche Macht des Messias Jesus.

"Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit" (6b). In ihm und von ihm haben wir Gerechtigkeit vor Gott: darum ist er unser Name, heißen wir Christen. Christus selbst ist leibhaft unsere Gerechtigkeit, Vergebung unserer Sünde (I Kor 1,30). Im Mahl des Herren wird uns das leibhaft zuteil: "das tut zu meinem Gedächtnis". An ihn zu glauben, das heißt ja nichts anderes, als ihn meine Gerechtigkeit sein zu lassen und darin nun endlich "sicher zu wohnen" bei Gott (6a). Im empirischen Lande Israel läßt es sich bis heute nicht sicher wohnen.

Das Abendmahl feiern, es heißt, um unserer lebendigen Gerechtigkeit heute willen ein Vergangenes zu vergegenwärtigen: "Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und von diesem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt" (I Kor 11,26). Diese Vergangenheit bewegt unsere Gegenwart auf die Zukunft hin: ein ewiges Leben.

Jesus Christus hat mit seinem Advent, mit seinem Sterben und Auferstehen unsere Vergangenheit zur Hoffnung umgepolt und uns in eine neue Bewegung hineingerissen. Wir sind aus Todesverfallenheit und Sündenverstrickung in eine neue Schöpfung versetzt. Diese Korrektur unserer Vergangenheit ist nicht abgeschlossen. Denn Gott wird auch zukünftig, über unsern Tod hinaus, unser ganzes, dann vergangenes Leben neu machen, es schöpferisch in Bewegung bringen und uns in sein ewiges Leben hineinziehen.

Das absolut Neue, Christi Auferstehung, macht alles Alte neu. "Darum: ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden" (II Kor 5,17).

Amen

Prof. Dr. Joachim Ringleben, Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen