Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag/Feiertag: Neujahr
Datum: 1.1.1998
Text: Jakobus 4, 13-15
Verfasser/in: Domprediger Joachim Hempel, Braunschweig


"gut gesurft und nun gelesen "

'Ein Mann hatte einen großen Terminkalender und sagte zu sich selbst: Nun sind alle Termine eingeschrieben, aber noch sind die Tagung X und die Tagung Y, die Sitzungen der Ausschüsse und des Gemeinderates nicht eingeplant. Wo soll ich die nur alle unterbringen? Und er kaufte sich einen größeren Terminkalender mit Einteilungsmöglichkeiten der Nachtstunden. Er disponierte noch einmal, schrieb alle Tagungen und Sitzungen ein und sagte zu sich selbst: Nun sei ruhig, liebe Seele. Du hast alles gut eingeplant, versäume nur nichts. Und je weniger er versäumte, um so mehr stieg er im Ansehen und wurde in den Ausschuß Q und in den Ausschuß K gewählt, zweiter und erster Vorsitzender, Präsident!

Und eines Tages war es dann soweit und Gott sagte: Du Narr, diese Nacht stehst Du auf meinem Terminkalender!'

Und dabei sind doch Termingeschäfte unsere große Stärke; planen, verplanen, terminieren, verabreden und disponieren, - unser tägliches Brot im Zeitalter des "world-wide". Wer auch nur im Kleinen erfolgreich etwas projektieren und umsetzen will, der kommt doch ohne "time table" gar nicht aus. Mühsam genug, die Zeitzonen der Welt zu bedenken, die Feiertage richtig im Blick zu haben; Geschäfte mit der islamischen Welt am Freitag sind eben schwierig, wenn in Tokio oder New York die Börse wegen eines "National Holiday" geschlossen ist, gibt's eben keine aktuellen Daten.

Wer sich hier nicht auskennt oder wenigstens einen oder mehrere kennt, die sich einen Überblick verschaffen, verstrickt sich schnell im Gestrüpp. Und wer im kleinen Orientierungsrahmen seines eigenen persönlichen Lebens den Überblick verliert, wann und wo er sich mit wem und warum treffen wollte, dem geht es bald wie jenem "Herrn Zett, der sich einen Knoten ins Taschentuch machte, der ihn daran erinnern sollte, daß er am Abend mal früh ins Bett gehen wollte. Am Abend fand Herr Zett den Knoten in seinem Taschentuch, wußte aber nicht mehr, woran er ihn erinnern sollte. Er grübelte den ganzen Abend darüber nach, bis ihm kurz nach Mitternacht einfiel, daß er eigentlich an diesem Abend einmal früh schlafen gehen wollte ... "

Ja, ohne Terminkalender ohne Planen und Einteilen geht nichts mehr, ja mehr noch, ohne Planen, Terminieren und Einteilen geht vieles, manchmal sogar alles "in die Binsen".

Wir haben uns eingerichtet in unseren Plänen und geben uns alle redlich Mühe, sie zu erfüllen. Nur manchmal, wenn es zu unvorhergesehenen Turbulenzen kommt, gucken wir etwas überrascht: Da sagt einer einen Termin ab, weil er krank geworden ist, da erreichen wir einen geplanten Anschluß nicht, weil es zu einer Verspätung kam, - da gibt's Eisregen, und der Verkehr bricht zusammen, - da bricht ein nicht bedachter Zusammenhang auf, und einiges bricht zusammen. In härteren Fällen nennen wir solche Einbrüche "Herzinfarkt", "Schlaganfall" oder "Verkehrsunfall mit Folgen".

Dabei wird uns schlagartig deutlich, wie groß jene Welt ist, "die unverfügbar sich um uns weitet", auf die wir - immer noch - keinen Zugriff haben. Leben ist mehr, als vor Augen ist; Leben ist mehr als die Summe der Termine, Projekte, Taten; Leben ist mehr als die Auflistung einer persönlichen Vita.

"Und darum ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen -, und wißt nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet.

Dagegen solltet ihr sagen. Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun. " (Jakobus-Brief 4, 13-15)

Manchmal ist das ja nicht schlecht, wenn uns mal einer sagt, wie er uns sieht, wie wir auf ihn wirken, welchen Eindruck wir machen. "Fremdwahrnehmung" wird in vielfältigsten Analysen groß geschrieben und soll helfen, die "Eigenwahrnehmung" zu schulen oder auch zu korrigieren. In den ersten christlichen Gemeinden, in denen Menschen versuchten, als Christen im Alltag der Welt zu leben, stellt sich genau diese Situation ein; der Verfasser des Jakobus-Briefes versucht, helfend aber doch auch deutlich das Koordinaten-System zu befragen; richtige Selbsteinschätzung wird völliger Selbstüberschätzung gegenübergestellt; die Unverfügbarkeit des Lebens, seine Lebendigkeit und ständige Kreativität, seine schöpferische Kraft wird betont.

Christen bekennen Gott als den "Schöpfer des Himmels und der Erde, all des, das sichtbar ist und unsichtbar". Und darin eingebettet bleibt alles Leben, - das heißt eben auch, all meine Planspiele im Leben finden im Rahmen der von Gott geschaffenen Eck- oder Rahmendaten statt. Zwischen Geburt und Tod, zwischen Jugend und Alter, zwischen Tag und Nacht, zwischen Gestern und Morgen, - eben in Raum und Zeit - und nur in Raum und Zeit gibt es mein Leben.

Bei allen Erfolgen, die wir kreativen Menschen im Laufe der Geschichte verbuchen können: die Lebensdauer und die Lebensbedingungen sind positiv entwickelt worden, die Lebensqualität und Lebensgestaltung sind von vielerlei Zwängen befreit, Krankheiten besiegt oder wenigstens behandelbar, wir können Zwischenräume mit großer Geschwindigkeit und komfortabel dazu überwinden, - ja das Universum steht uns offen, - bei allen Erfolgen bleibt die Grunderkenntnis bestehen und wahr: Jeder Mensch ist ein einmaliges Geschöpf in Raum und Zeit. Das nicht aus den Augen zu verlieren, gerade angesichts aller Möglichkeiten und Erfolge, - das nicht aus den Augen zu verlieren, ist die biblische Aufforderung, die wir im Jakobus-Brief lesen.

"Biblischer Realismus" sieht den Menschen, wie er wirklich ist; es steckt zuviel Lebenserfahrung hinter den jahrtausende alten Texten, als daß Worte der Bibel durch Kurzsichtigkeit ausgehebelt werden könnten. "Biblischer Realismus" führt uns Menschen zurück auf den Boden der Tatsachen: Darum solltet ihr sagen: Wenn Gott will, werden wir leben und dies und das tun.

Hier bleibt Gott Gott, und wir Menschen werden vor allem Hybriden bewahrt; da, wo ich nicht Gott spielen muß, um mich zu beweisen, da wo ich weiß, welchen Wert ich von Gott zuerkannt bekommen habe, da kann ich in der "Freiheit der Kinder Gottes" wirklich "frisch, fromm, fröhlich, frei" aufleben und in aller nur möglichen Kreativität mein Leben gestalten, zur Ehre des Schöpfers und zur Freude der mir anvertrauten Menschen - und natürlich auch, um mir und anderen zu zeigen, was ich alles kann.

Jesus, dieser von Gott mit besonderer Liebe und Autorität ausgestattete Bruder, sagt uns: Ihr seid das Licht der Welt! Man zündet doch nicht ein Licht an, um es zu verstecken; sondern man stellt es auf einen Leuchter, dann sehen es möglichst viele Menschen. So auch ihr: Laßt euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und EUREN VATER IM HIMMEL LOBEN.

Eigenlob stinkt, das weiß auch der Volksmund; aber meinem Schöpfer zu danken, daß er mich so wunderbar gemacht hat, mit allem, was ich bin und habe, das ist gut und richtig.

Amen.

Joachim Hempel, Domprediger, Dom St. Blasii, Braunschweig

 

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