Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag/Feiertag: Epiphanias
Datum: 6.1.1998
Text: Eph 3, 2-3a. 5-6
Verfasser: Dr. Notger Slenczka, Göttingen


Vorbemerkung

Die Entscheidung der für die Perikopeneinteilung Verantwortlichen, V. 3b und 4 wegzulassen, ist zwar nachvollziehbar, macht aber den Zusammenhang von v. 3 und 5 unverständlich: Ohne v. 3b / 4 klingt der v. 2/3a wie ein maßloser Anspruch und bleibt das 'Geheimnis' inhaltlich leer, während der Verfasser des Briefes doch in v. 3b/4 auf den vorangehenden Text, die Kapitel 1 und 2 verweist, in denen er das 'Geheimnis' entfaltet und erklärt hat und in denen die Leser des Briefes überprüfen können, inwieweit der Verfasser Einsicht in dieses Geheimnis hat. Ich schlage vor, die Verse mitzulesen und vor der Verlesung des Textes die ersten beiden Kapitel des Briefes auf ihr Zentrum hin knapp zu resümieren. Einen Vorschlag für das Resümee finden Sie hier:

Resümee Epheser 1+2

Um ein Geheimnis geht es im Epheserbrief. Um ein Geheimnis, um die bisher verborgene und nun aufgedeckte Antwort auf die Frage, was denn nun eigentlich das Zentrum der Wirklichkeit ist, was die Weit und die Geschichte im Innersten zusammenhält, worauf es mit uns und mit der Welt hinauslaufen soll. Und der Verfasser des Briefes stellt in den ersten beiden Kapiteln dar, daß Christus die verborgene Mitte der Wirklichkeit ist, daß alles auf ihn hin geschaffen wurde, daß er über alles herrscht und alles ihm unterworfen ist, daß sich sozusagen die Welt - ohne es zu wissen - um Christus als Mitte der Welt dreht: Das Chaos von Herren und Mächten, das die Christen erleben, hat einen wahren Herrn, der über alles regiert und sich alles unterwerfen wird - das ist Christus. Das ist das eine. Und das andere: Er will der Gemeinde einschärfen, daß sie, daß jeder einzelne Christ zu diesem Zentrum der Wirklichkeit gehört. Die Christen gehören zu diesem verborgenen, geheimen Zentrum der Welt und nicht zu allen möglichen Mächten, die Unterwerfung und Anerkennung fordern. Die Freudenbotschaft insbesondere für die Nichtjuden in der Gemeinde: Sie sind in die Geschichte Gottes mit der Menschheit einbezogen. Gott hat mit dem jüdischen Volk einen Bund geschlossen, einen Bund der Hoffnung auf den Messias, der in Jesus von Nazareth erschienen ist; und nun nimmt er die Heiden in diesen Bund mit hinein, schließt Juden und Heiden zusammen zu einem Leib Christi und setzt so nach und nach die Herrschaft Christi über alle Wirklichkeit durch, bis ihm alles unterworfen sein wird.

Und diese zwei Kapitel schließt der Verfasser des Briefes ab mit den Worten, die unser heutiger Predigttext sind: (es folgt der Predigttext).

Predigt

Liebe Gemeinde!

Ein Geheimnis. Nicht verraten, was es ist, es für sich behalten, nur gerade einmal andeuten, daß es ein Geheimnis gibt - 'ich habe ein Weihnachtsgeschenk für dich gekauft, rate mal, was ...‘ - aber es dann für sich behalten. Zu Weihnachten eine Art Spiel; schön ist es, ein solches Geheimnis zu haben und zu bewahren, wunderbar ist es, als Kind vor einem solchen Geheimnis zu stehen. Vorfreude, Spannung, kleine Versuche, es doch herauszubringen, was da wohl auf dem Gabentisch liegen wird. Und alle müssen es mitspielen: Kinder, die sich für ihre Geschenke nicht interessieren oder anfangen, heimlich in den verbotenen Schränken zu stöbern und vor der Zeit das Geheimnis lüften, sind Spielverderber, ebenso die Eltern, die dem Drängen nachgeben und schon vor Weihnachten verraten, was es dieses Jahr gibt. Denn diese Geheimnisse leben davon, daß man nicht weiß, was das Geschenk ist - und sobald man es weiß, und das Geschenk vor einem auf dem Gabentisch oder unter dem Baum liegt, ist es kein Geheimnis mehr. Denn nun weiß ich es ja, ich habe es vor mir - ein paar Tage liegt es noch im Weihnachtszimmer - und dann wird das Geschenk ganz normal in das alltägliche Leben eingefügt. War es ein Spielzeugauto, so wandert es zu den anderen Spielsachen, waren es Manschettenknöpfe, so werden sie ans Hemd gesteckt, war es ein Schreibgerät, so wird es zum Schreiben verwendet - aber alles hat kein Geheimnis mehr, sondern nun ist es ja heraus, was es ist. Ein Geheimnis war es nur so lange, wie ich nicht wußte, was da auf mich zukam.

Von einem solchen Geheimnis redet der Verfasser des Epheserbriefes offenbar nicht. Zwei Kapitel lang hat er der Gemeinde erklärt, worin das Geheimnis besteht, er behält es gerade nicht für sich, sondern er breitet es aus: "Durch Offenbarung ist mir das Geheimnis kundgemacht worden, wie ich eben auf's Kürzeste geschrieben habe, und wenn ihr's lest (was ich geschrieben habe) könnt ihr meine Einsicht in das Geheimnis Christi erkennen." Alles ausgeplaudert - und doch bleibt es ein Geheimnis. Alle haben es erfahren - und doch spricht der Verfasser des Briefes weiter davon, daß es sich um ein Geheimnis handelt.

Solche Geheimnisse kennen wir auch: Sie haben sicher schon einmal 3-D-Bilder gesehen: Bilder mit einem lebhaften, relativ gleichmässigen Muster, auf den ersten Blick ganz nett, aber nicht weiter auffällig. Wenn Sie diese Bilder ansehen und die Augen so einstellen, als würden Sie durch die Bilder hindurch in die Ferne sehen, dann erkennen Sie plötzlich mitten im Bild eine dreidimensionale Figur, die sich aus der Buntheit. des Musters bildet und vor Ihnen steht. Mitten in diesem Bild liegt eine dreidimensionale Figur verborgen, ein Schiff, oder eine Rose, oder ein Krug oder viel kompliziertere Figuren. Verborgen in dem Bild - ein Geheimnis. Dieses Geheimnis bleibt ein Geheimnis, auch wenn Ihnen jemand verrät, was es da zu sehen gibt. Es nützt Ihnen gar nichts, nur zu wissen, daß da ein Schiff oder ein Krug oder eine Rose verborgen ist: Sie müssen dieses Schiff oder den Krug oder die Rose selbst sehen, sonst sind Sie nicht hinter das Geheimnis gekommen. Erst wenn Sie es selbst sehen, wenn Sie nach vielen Versuchen die Augen richtig eingestellt haben und sehen, wie sich das regelmässige Muster plötzlich zusammenfügt zu einer dreidimensionalen Figur, erst dann haben Sie das Geheimnis gelüftet und sehen und verstehen es.

Und dieses Geheimnis verliert nichts von seinem Reiz. Man kann es immer wieder entdecken, denn immer wieder verbirgt es sich hinter dem flächigen Muster, und immer wieder stehen Sie vor der Aufgabe, das Bild richtig anzusehen, um die Figur in diesem Bild zu entdecken, den Krug oder das Schiff oder die Rose oder was immer. Und immer wieder hat das Entdecken seinen Reiz, immer wieder freue ich mich am Erfassen des Zentrums dieses Musters, Es ist ein Geheimnis, das man nicht eigentlich verraten kann, das man nicht eigentlich entwerten kann, indem man sagt, was es da zu sehen gibt. Es kommt nicht darauf an, zu wissen, daß da ein Krug oder ein Schiff oder eine Rose verborgen ist, sondern es kommt darauf an, sie selbst zu sehen. Dabei kann man sich helfen lassen. Ich habe lange gebraucht, bis ich 3-D-Bilder sehen konnte,mir hat mein Bruder mit viel Geduld beigebracht, wie ich die Augen ausrichten muß, um etwas zu sehen.

Der Verfasser des Epheserbriefes steht in diesem Brief mit der Gemeinde sozusagen vor einem3-D-Bild. Das Bild ist die ganze Wirklichkeit, die Welt, die alle sehen, unser ganzes Leben, unsere Geschichte die Gesellschaft, die uns umgibt, unsere Familien, die Kirchen und Gemeinden, die politischen Verhältnisse, die sozialen Konflikte - alles. Und der Verfasser des Briefes verrät der Gemeinde sozusagen, was es in diesem Bild zu sehen gibt, er verrät die Figur, die man in diesem Bild erkennen kann: Diese Figur, die in aller Wirklichkeit lebt und auf die alle Wirklichkeit, die ganze Welt ausgerichtet ist, ist Christus, Das sieht auch der Verfasser des Briefes nicht auf Anhieb. Ihm ist es offenbart worden, wie er schreibt, er hat es mit Hilfe Gottes plötzlich und unwiderleglich erfaßt und gesehen: Da, im Zentrum des verwirrenden Musters der Welt, im Zentrum des chaotischen Geschichtsverlaufes, und über allen Mächten und Gewalten, die uns beherrschen wollen und die unsere Verehrung verlangen - über alledem herrscht in der Mitte der Wirklichkeit Christus. Auf ihn ist alles ausgerichtet.

Schwer erkennbar. Denn diese Wirklichkeit, die wir alle sehen und erfassen - das Muster des Bildes sozusagen - gibt das nicht ohne weiteres zu erkennen. Mehr: Wer das Bild, wer die Wirklichkeit nur so ansieht, der erkennt darin alles andere als Christus. Das fängt damit an, daß der Verfasser des Briefes im Gefängnis sitzt, weil er Christus gepredigt hat und behauptet hat, daß er, Christus, der Herr der Welt ist - der da behauptet, die Wirklichkeit durchschaut zu haben, sitzt im Gefängnis. Und um uns herum spüren wir von der Herrschaft Christi so wenig wie die Christen damals in Ephesus: Wo sehen wir etwas von der Herrschaft Christi über alle Gewalten, wenn wir sehen, daß Krieg und Bürgerkrieg in der Welt herrschen und nicht etwa die Liebe, sondern die Gewalt sich durchsetzt. Wo sehen wir etwas von Christus und seinem Sieg über den Tod, wenn wir doch sehen, daß Menschen, Angehörige Freunde, Arbeitskollegen, erkranken, tödlich erkranken, mitten aus dem Leben und aus unseren Familien gerissen werden - wo ist da der Sieg Christi über den Tod? Wo sehen wir etwas von Christus und seiner Herrschaft, wenn wir immer wieder merken, daß wir es nicht schaffen, uns anderen Menschen zuzuwenden, sie zu lieben, ihnen ein Nächster zu sein, ihnen zu helfen, zu vergeben, ihnen nachzugehen. Wo sehen wir etwas von seiner Herrschaft, wenn wir unsere Familien ansehen, in denen es kriselt, wenn wir sehen, daß unser Nachbar arbeitslos wird, daß unser Freund mit dem Leben nicht zurechtkommt und zu trinken beginnt, wenn wir sehen, daß die Ehen von Angehörigen zerbrechen. Wir stehen sozusagen vor dem Muster des Bildes und sehen von Christus und seiner Herrschaft nichts.

"Jetzt ist es offenbart den heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist", so schreibt der Verfasser des Briefes. Ich sehe es, sagt er. Ich sehe es, die vom heiligen Geist ergriffenen Propheten sehen es: Mitten in diesem verwirrenden Muster, mitten in diesem Chaos voll Mächten und Herrschaften, von Schuld und Versagen, von Blut und Tod - mitten darin steht Christus als das Zentrum, das alles beherrscht und alles durchdringt und sich gegen alle andere Wirklichkeit durchsetzen wird. Alle andere Wirklichkeit hat ihr Recht verloren, wird besiegt werden, wird überwunden werden, unser Leiden und unsere Schuld, unser Versagen und unser Scheitern, unsere Krankheit und unser Tod wird eingefügt in Christus und überwunden von ihm.

Na ja, mag da ein Christ aus Ephesus gesagt haben, aber was bringt mir das? Was bringt es mir, das zu wissen, wenn ich es nicht selbst sehe? Was bringt es mir zu wissen, daß da Christus auch diese Wirklichkeit unter seiner Herrschaft hält und über sie regiert, wenn mir nur die Apostel und die Propheten davon erzählen, ich selbst es aber nicht sehen kann, ich ihnen glauben muß, ihrem Wort vertrauen muß, wenn ich dieses Bild in der Mitte aller Wirklichkeit nicht selbst sehen kann? "Jetzt ist es den Aposteln und Propheten offenbart durch den Geist; nämlich daß die Heiden Miterben sind und zu seinem Leib gehören und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind durch das Evangelium." (v. 6)

Ein komplizierter Satz mit einem Zentrum: Ihr gehört zu diesem Zentrum der Wirklichkeit, zu dieser Gestalt Christi, die sich in der Mitte des undurchschaubaren Musters der Welt erhebt. Ihr, die ihr behauptet, daß ihr die Welt nicht versteht und das Zentrum der Wirklichkeit nicht sehen könnt, seid ein Teil dieses Zentrums. In euch gewinnt Christus Gestalt, in euch Christen, in mir, dem Verfasser dieses Briefes, in euch beginnt die Herrschaft Christi in der Welt. Denn das bedeutet Christsein: zu leben aus dem verborgenen Zentrum der Wirklichkeit. Für den Verfasser des Briefes heißt das: In der Gefangenschaft nicht zu verzagen, nicht zu verbittern, sondern Zeugnis davon abzulegen, daß der Haß die Liebe nicht überwinden kann, sondern daß die Mächte, die gegen Christus stehen, von ihm überwunden werden. Für uns, wenn uns Unrecht geschieht, wenn andere uns zu tragen geben, wenn nächste Angehörige uns verletzen, heißt das: uns nicht dem Muster der Wirklichkeit zu unterwerfen und Gleiches mit Gleichem, Böses mit Bösem zu vergelten, sondern zu lieben, wo man haßt, nachzugehen, wo sich jemand abwendet, auszuhalten, wo jemand unerträglich wird. Für uns, wenn wir krank werden, wenn es ans Sterben geht: Uns darauf zu verlassen, daß auch über diese Wirklichkeit der Krankheit und des Todes noch Christus herrscht, daß auch in diese Finsternis noch sein Licht einbrechen wird, und daß wir auch in dieser Dunkelheit verborgen und geheimnisvoll von ihm geführt und getragen werden.

Nicht wahr, wenn wir so leben könnten, so aus dem Zentrum der Wirklichkeit heraus leben könnten und Zeugnis dafür ablegen könnten, daß Christus die Mitte und der Herr der Wirklichkeit ist - dann würden in der Tat vielleicht andere Menschen in uns, in unserem Leben einen Moment lang den Sinn der Wirklichkeit, die verborgene Mitte, das dreidimensionale Bild im wirren Muster erfassen. Und zuweilen sehen wir es selbst auch, diese Mitte, wenn sich uns unerwartet und liebevoll ein anderer Mensch zuwendet und wir durch ihn diese Mitte der Wirklichkeit erfahren.

Bruchstückweise. Nur einen Moment lang. Aber zu diesem Zentrum gehören wir. Es ist uns zugesagt, daß wir dazugehören, daß wir unter dem Gesetz dieses Zentrums, unter dem Gesetz Christi stehen und nicht zu dem verwirrenden Muster der alten Wirklichkeit gehören. Es ist uns zugesagt, daß dieses Gesetz Christi uns ergreifen wird und daß Christus sich in uns darstellen wird als Zentrum der Wirklichkeit. Das können wir eigentlich nicht machen. Sondern da ergreift uns dieses Zentrum aller Wirklichkeit und fügt uns sich ein. Der Epheserbrief spricht an einer Stelle davon, daß wir sein, Gottes Werk sind, ‚geschaffen zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen'. Wir werden darauf gestoßen, dazu gedrängt, daß wir die Momente sehen, in denen wir die Gestalt Christi im Zentrum der Wirklichkeit darstellen sollen, in denen nicht wir, sondern andere durch uns Christus im Zentrum der Wirklichkeit erfassen und bruchstückweise, einen Moment lang das Zentrum der Wirklichkeit, die Liebe Christi, wie einen Lichtstrahl durch Wolken hindurch spüren. Dazu gebe Gott uns die offenen Augen und das schenkende Herz.

Amen

Dr. Notger Slenczka, Göttingen

[Zum Anfang der Seite]

[Zurück zur Hauptseite] [Zum Archiv] [Zur Konzeption] [Diskussion]