Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Sonntag/Feiertag: Sexagesimä
Datum: 15.2.1998
Text: Hebräer 4, 12 f.
Verfasser: Dr. Wilhelm Hüffmeier


Predigttext: Hebräer 4, 12 f.

"Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen."

Liebe Gemeinde!

Mit diesem Text wird zum Thema, was allsonntäglich hier und anderswo auf der Kanzel geschieht: Verkündigung des Wortes Gottes. Man mag fragen, ob Gott überhaupt ein Wort für die Menschen hat. Ob er sich vielmehr, wie die Mystiker aller Zeiten sagen, in Schweigen hüllt. Und oft genug kann selbst uns Christen die Sorge überfallen, es könnte so sein: Gott ist verstummt. Der Glaube aber lebt von der Gewißheit: Gott hat geredet und redet jetzt. So beginnt der Hebräerbrief mit den Sätzen: "Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat durch den Sohn, Jesus Christus."

Unsere Verse sprechen aus, was geschieht, wenn dieses Wort das Innerste unseres Wesens berührt, uns verändert und erneuert. Verändern? Erneuern? Von dem heiligen Antonius erzählt die Legende, er habe den Tieren gepredigt. Das Ergebnis wird in folgendem bitterkomischen Vers über die Fischpredigt des heiligen Antonius mit Seitenblick auf uns Menschen geschildert: "Die Predigt geendet, / ein jeder sich wendet. / Die Hechte bleiben Diebe, / die Aale viele lieben, / die Krebse gehen zurücke, / die Stockfisch bleiben dicke, / die Karpfen viel fressen, /  die Predigt vergessen." Also: keine Änderung, keine Umkehr, keine Besserung? Alles bleibt, wie es ist?

Nun, wer das Wort Gottes mit einem zweischneidigen Schwert vergleicht, der traut ihm eine erhebliche Durchschlagskraft zu. Es muß ja nicht gleich ein tödlicher Hieb sein, doch ein Stich sollte Dir und mir wenigstens durchs Herz fahren, wenn Gott mit uns redet. Und wenn es nicht sticht, nun, dann mag ich selber oder der Teufel zu mir geredet haben! Wir sind allzumal Sünder, sagt die Bibel mit Recht. Leute also, die eher den Splitter im Auge des anderen sehen als den Balken im eigenen; Leute, die mit dem Großteil der zehn Gebote eher auf Kriegsfuß stehen, als sie freudig zu erfüllen. Männer und Frauen, die wissen, was gut ist und es dennoch - aus Trägheit oder Unentschlossenheit - nicht tun. Menschen, die den eigenen Kindern und Enkelkindern gegenüber überbordend großzügig sind, aber die Straßen- und Bettelkinder wie lästige Fliegen behandeln können. Muß solchen Leuten die Predigt und Gottes Wort nicht wie ein Schwert durch die Seele gehen? Aber soll um Gottes Willen nicht jeder Mensch, wer er auch sei, eine frohe, tröstliche, ermutigende, aufbauende, weiterführende Botschaft hören?

Doch vielleicht ist das gar keine Alternative? Vielleicht gehören durch Gottes Wort Schmerz und Trost, Verletzung und Ermutigung, ein Stich im Herzen und Fröhlichkeit, Aufdeckung von Schuld und Vergebung, Verwundung und Heilung aufs Engste zusammen? Wahrheiten sind selten Zuckerschnecken. Sie können bitter schmecken.

Hitlers Chef-Architekt und Rüstungsminister Albert Speer, der im Nürnburger Prozeß zu 20 Jahren verurteilt wurde, schildert in seinen Tagebüchern die Wirkung des ersten Gottesdienstes in der Spandauer Haft. Der französische Gefängnispfarrer hatte in der Predigt gesagt: "Die Aussätzigen waren in Israel von der Gemeinschaft des Volkes durch eine Masse von Rechtsverboten getrennt; diese waren unübersteigbar wie eine Gefängnismauer." "Raeder, Dönitz und von Schirach", so schreibt Speer, "fühlten sich beleidigt, sie behaupten, der Pastor habe sie 'Aussätzige' genannt." Und dann schreibt er: "Es ist wohl so: Sie wollen vom Pastor keine Wahrheiten hören." Vor dem nächsten Gottesdienst beschwert sich der einstige Admiral Raeder geradezu bei dem französischen Pfarrer im Namen von fünf seiner Mitgefangenen. Sie verlangen von ihm die Verkündigung des Evangeliums und nichts anderes. Im bewußten Gegensatz dazu sagt Speer: "Ich bin kein Nervenkranker, ich möchte nicht geschont werden, ihre Predigten sollen mich beunruhigen."

Nun gibt es aber in diesem Drama noch einen dritten Akt. Eine Woche später legt der Gefängnispastor den Text aus, in dem Jesus sagt, er sei nicht zu den Gesunden gekommen, die keinen Arzt brauchen, sondern zu den Kranken. Er sei nicht gekommen, die Gerechten zur Reue zu rufen, sondern die Sünder. Und der Pastor fügt hinzu, unter Sündern sei er selbst der größte. Durch dieses Wort war die Versöhnung vorläufig hergestellt. Ein rhetorischer Trick? Ein fauler Kompromiß? Ich weiß nicht. Auf jeden Fall lehrt diese kleine Episode aus dem Spandauer Gefängnis, was die Predigt des Wortes Gottes auf keinen Fall sein darf, ein moralisches Abkanzeln anderer. Der oder die andere muß vielmehr spüren, der Prediger ist mitgemeint.

Eine liederliche Verträglichkeit mit dem Bösen jedoch, ein Unter-den-Teppich-Kehren des Unangenehmen ist Gottes Wort auch nicht. Schwerter können verletzen! Daß man mit Worten verletzen kann, das wissen wir aus dem Zusammenleben mit Menschen nur allzu gut. Von den vielen Fällen will ich gar nicht reden, in denen Menschen andere aus Bosheit verletzten, mit Absicht, in wohlüberlegtem Kalkül, nicht wahr! Doch oft genug haben wir andere mit unseren Worten unabsichtlich verletzt, weil wir uns ihre Lage nicht zureichend klar gemacht haben, weil wir, statt ihre Sorgen und Fragen - auch die an Gott - ernst zu nehmen, sie, z.B. in der Seelsorge, mit einem Bibelspruch abgespeist haben. Gottes Wort aber ist sensibel, und in ihm ist keine Bosheit.

Wie aber, wenn es verletzen muß, weil es retten will? Auch dafür gibt es Beispiele aus dem alltäglichen Leben. Ärzte müssen oft genug, um zu heilen, Schmerzen zufügen. Wer als Politiker wirklich dem Gemeinwohl dient, wird ebenfalls von Mal zu Mal Opfer und Einschnitte verlangen müssen. Oder nehmen wir an, Eltern haben erkannt, daß ihr Kind zwar außerordentlich begabt ist, musikalisch oder mathematisch oder für fremde Sprachen, aber aus diesem Talent so gar nichts zu machen willens ist. Oder nehmen wir an, von den Kindern sein jemand in eine schlechte Umgebung geraten. Müssen da nicht unter Umständen harte Wort fallen und vielleicht sogar schmerzhafte Dinge passieren?

Augustin hat recht: "Der getarnte Feind heuchelt und haßt. Der Freund schlägt zu und liebt." Kann das bei unserem himmlischen Vater so anders sein, dessen Wort im Text ein Richter, wörtlich ein "Kritiker der Gedanken und Sinne des Herzens" ist. Kritik nennt das Falsche, Unechte und Elende beim Namen, um es wegzuräumen, um es zu vernichten. Sicher, das muß mit Freundlichkeit und Humor und Liebe geschehen, wenn es in Gottes Namen geschieht. Aber die Angeredeten dürfen sich nicht darüber hinwegtäuschen: Hier kommt ein entschlossenes Nein zur Sprache, das kein Mensch gerne hören kann, weil es ihn in der Wurzel seiner Existenz in Frage stellt.

Und nun heißt es weiter im Text: "Kein Geschöpf ist vor dem Worte Gottes verborgen; vielmehr ist alles unverhüllt und offen gelegt für die Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden." Rechenschaft schulden, wem? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir noch einmal auf das Bild vom Schwert zurückblicken. Es ist das Zeichen der Gerechtigkeit, das Zeichen von Macht und Souveränität. Es steht aber auch dafür, daß etwas ganz und gar Verwickeltes getrennt wird. Ein Richter muß Wahrheit und Lüge trennen, um zu einem gerechten Urteil zu kommen. Darin erweist sich seine Souveränität.

Trennung ist aber nicht nur etwas Negatives und Schmerzliches. Es ist ein schöpferischer Akt, der dem Leben zugute kommt. Erst durch die Scheidung von Licht und Finsternis und die Trennung von Wasser und Land wird die Erde bewohnbar, erzählt die biblische Schöpfungsgeschichte. Einst waren Staat und Kirche verquickt im Staatskirchentum. Erst durch ihre klare Unterscheidung konnte es zu Partnerschaften kommen. Die Souveränität des göttlichen Richters besteht darin, daß er mich von all dem trennt, was ich falsch gemacht habe. Dieser Richter meiner Gedanken und der Regungen meines Herzens, dieser Richter, vor dem nichts verborgen bleibt, spricht sein Nein und sein Ja. Sein Nein gilt meinen Verfehlungen. Sein Ja gilt meiner Person und also der Zukunft des Lebens mit ihm. Das Schwert ist Zeichen von Hoheit und Souveränität. Die souveränste Macht aber ist die Gnade. Luther hat recht: Sich streiten ist menschlich, sich nicht vergeben und versöhnen aber ist teuflisch.

Was Vergebung unter Menschen ist, hat die englische Kriminalschriftstellerin Dorothy Sayers einmal einem Freund mit folgendem Beispiel erläutert: Denken Sie sich, ich hätte im Zorn Ihre beste Teekanne aus dem Fenster geworfen. Was wäre in diesem Falle Vergebung? Daß wir zusammen unseren Frühstückstee aus Ihrem Rasierwasserkrug tränken, ohne uns dabei ungemütlich zu fühlen und ohne das Thema Teekannen ostentativ zu vermeiden.

So ist das auch mit Gott. Nur daß bei ihm anstelle des Rasierwasserkruges der Abendmahlskelch gereicht wird: Christi Blut für dich vergossen. Wir dürfen trotz allem, was wir ihm angetan haben, mit ihm zusammensein, ja, es uns mit ihm gut sein lassen, ohne daß das, was wir falsch und verkehrt gemacht, verschwiegen werden muß Vor ihm kann es zur Sprache kommen, weil er es uns abnimmt.

Amen.

Dr. Wilhelm Hüffmeier, Kirchenkanzlei der EKU, Jebensstraße 3, 10623 Berlin, Tel.: 030-31 00 12 01

Die Predigt wurde für den Berliner Dom konzipiert.


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