Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag/Feiertag: Pfingstmontag
Datum: 1. Juni 1998
Text: 1. Korinther 12, 4-11
Verfasserin: Luise Stribrny de Estrada


Anmerkungen zur Predigt (hier klicken)

Liebe Geschwister im Glauben!

Der Predigttext für Pfingstmontag steht im ersten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth, im 12. Kapitel, es sind die Verse 4-11. Es geht darin um den Heiligen Geist und die verschiedenen Gaben, die er Menschen in der Gemeinde schenkt. In Korinth gab es viele Christinnen und Christen, die sich auf ihre Geistbegabung etwas einbildeten. Einige hielten sich deshalb für wichtiger als andere. Ihnen schreibt Paulus folgendes:

4 Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. 5 Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. 6 Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. 7 In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller; 8 dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist; 9 einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; 10 einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen. 11 Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist und teilt einem jeden das Seine zu, wie er will.

Die Gemeinde in Korinth kann sich gar nicht retten vor Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes be-geistert sind: Die einen haben besondere Erkenntnis, andere können Wunder tun und wieder andere sprechen in Ekstase. In den Gottesdiensten geht es lebhaft zu sein, wenn alle zusammen kommen, den anderen von ihren Gaben mitteilen und einander mit ihren Fähigkeiten übertreffen wollen.

Bei uns ist es anders. Unser Problem ist es nicht, daß sich im Gottesdienst und in der Gemeinde zu viele mit ihren Begabungen einbringen möchten. Wir leiden eher daran, daß die Gottesdienste auf den Pastor oder die Pastorin ausgerichtet sind und die anderen wenig zum Zuge kommen. In der Gemeindearbeit beschweren wir uns darüber, daß immer nur die gleichen sich mit ihren Gaben einbringen und andere sich mit ihren nicht angesprochen fühlen. Das überschwengliche Wirken des Heiligen Geistes, diese Kraft, die Menschen erfüllt und andere mitreißt, spüren wir viel zu selten in unserer Gemeinde und Kirche. Den Christinnen und Christen in Korinth wurde das schon zu viel, sie wollten den Geist irgendwie in Bahnen lenken und zähmen - wir fragen uns bang, wo er denn überhaupt noch weht in dieser Zeit, die geprägt ist von Ratlosigkeit und Depression in der Kirche. Weder in unserer Gemeinde noch in der Kirche überhaupt erleben wir, daß der Heilige Geist uns mit Enthusiasmus erfüllt und Begabungen hervorbringt, die in ihrer Fülle und Lebendigkeit fast über uns zusammenschlagen und erstmal gebändigt werden müssen.

Paulus betont in seinem Brief an die Korinther angesichts des Chaos der verschiedenen Begabungen, daß sie alle von demselben Geist gewirkt werden, der der Heilige Geist ist. Er bindet die Fähigkeiten der einzelnen in der Gemeinde zurück an Gott: "Es sind verschiedene Kräfte, aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allem", sagt er. Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn. Jedem und jeder hat Gott eine besondere Befähigung mitgegeben.

Warum sollte es bei uns anders sein als in Korinth? Sollte Gott uns etwa nicht mit besonderen Begabungen ausgestattet haben? Ich bin sicher, auch wir haben in unserer Gemeinde verschiedene Fähigkeiten, die der Heilige Geist in uns wecken will und weckt. Es geht darum, sie wahrzunehmen, anzuerkennen und ihnen in der Gemeinde Raum zu geben, damit sie sich entfalten können. Und dabei gibt es zuerst einmal keine Begabung, die besser ist als eine andere: Es gibt Menschen, die zuhören können, andere, die malen können oder basteln, solche, die einen guten Draht zu Kindern haben und welche, die singen oder ein Instrument spielen können. Es gibt Menschen mit der Begabung, in der Öffentlichkeit zu sprechen, andere, die mit Finanzen umgehen können, solche, die gerne ein Fest organisieren und welche, die andere freundlich ansprechen können. Sicherlich fallen Ihnen noch weitere Fähigkeiten ein, die Sie selbst oder andere haben.

Es gilt zu entdecken, wie der Heilige Geist jeden und jede von uns gebrauchen kann, für sich in Dienst nehmen kann. Zum Beispiel auch dadurch, daß Sie heute in den Gottesdienst gekommen sind: Ich glaube, auch das ist eine Gabe, am Sonntag in die Kirche zu kommen, sich eine Stunde auf Gebet, Singen, das Wort Gottes und die Gemeinschaft mit den anderen einzulassen. Beständig und beharrlich das zu tun, auch unabhängig von der eigenen Lust, dem eigenen Spaß. Ich denke, daß wir in unseren gottesdienstlichen Versammlungen stellvertretend für die anderen Menschen, die nicht hierher kommen, im Gespräch mit Gott sind, die Anliegen der Welt vor ihn bringen und uns stärken lassen. Das, was wir jeden Sonntag tun, ist nötig als Unterbrechung des Alltags, als Heiligung des Feiertages. Es hält Gott einen Platz frei in unserer Welt.

Es kommt darauf an, Begabungen zu entdecken und sie für die Gemeinde fruchtbar zu machen. Aufgabe derer, die in der Gemeinde die Leitung haben (auch das ist eine Gabe!), ist es, Menschen mit ihren Begabungen Platz zu geben, sie sich entfalten zu lassen dort, wo sie gebraucht werden.

Alle Gaben sind gleich wichtig und gut, denn für Gott ist jeder, dem er sie schenkt, sein geliebtes Kind. Innerhalb der Gemeinde werden die Fähigkeiten unterschieden, es gibt Ämter und Beauftragungen, die ihre Berechtigung haben. Schon Paulus kennt das und betont: "Es sind verschiedene Ämter, aber es ist ein Herr." Nicht jeder hat in der Gemeinde die gleiche Aufgabe, und zum Nutzen aller ist es sinnvoll, Aufgaben zu differenzieren und Zuständigkeiten gegeneinander abzugrenzen. Auch, damit jede und jeder weiß, wofür sie verantwortlich ist und wo sie selbständig entscheiden kann. Bei uns gibt es aber nicht nur verschiedene Aufgabenbereiche, die gleichwertig nebeneinander stehen, sondern es gibt auch eine unterschiedliche Bewertung, die sich in erster Linie über die Bezahlung ausdrückt. Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhalten in der Regel kein Geld. Hauptamtliche werden bezahlt. Der Pastor oder die Pastorin bekommt mehr als der Küster oder die Organistin. Paßt das dazu, daß wir sagen, alles seien geistgewirkte Gaben, die jede für sich wichtig und unverzichtbar ist und genauso wertvoll wie andere Begabungen? Ich denke, nein. Wollten wir Ernst damit machen, daß jede Gabe den gleichen Wert, die gleiche Wichtigkeit hat, müßten wir zumindest allen, die mit ihrer Arbeit in der Kirche ihren Lebensunterhalt verdienen, das gleiche zahlen. Natürlich gibt es Gründe dafür, daß das nicht so ist, aber es paßt nicht zu unserem Anspruch. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Das wenigste, was wir tun müssen, ist, wahrzunehmen, daß wir hier unsere eigenen Ansprüche nicht durchhalten und deshalb immer wieder in Schwierigkeiten kommen.

Paulus hält fest, daß sich der Geist zum Nutzen aller offenbart. Die Begabungen dienen der Gemeinschaft. Etwas weiter hinten in seinem Brief schreibt er, sie sollten die Gemeinde aufbauen. Das gilt auch für die Gaben in unseren Gemeinden. Sie sollen einem gemeinsamen Ziel dienen und die Gemeinde festigen. Es kann nicht darum gehen, daß einer oder eine kleine Gruppe groß heraus kommt, sondern daß alle zusammen für die Gemeinschaft arbeiten. Es soll eine lebendige Gemeinde entstehen, in der Menschen sich willkommen und aufgehoben fühlen. Es ist aber noch mehr als das: Die Menschen in der Gemeinde verbindet eine Vision, ein Traum. Der Traum vom Reich Gottes, in dem Menschen füreinander da sind, sich um den anderen kümmern und keiner diskriminiert wird. Wo Menschen einander mit Liebe begegnen anstatt mit Haß. Wo Friede herrscht und weder Menschen noch andere Geschöpfe noch die Natur ausgebeutet werden. Die Kirche ist unterwegs zum Reich Gottes, das hält uns zusammen. Dafür setzen wir unsere Gaben ein, daß sie das Reich Gottes näher heranholen, daß es unter uns schon aufscheint, wenn wir zusammen Gottesdienst feiern, Menschen besuchen, uns für andere einsetzen und Gemeinschaft miteinander erleben. Wir haben eine gemeinsame Vision, für sie wollen und sollen wir unsere Gaben nutzbar machen.

Welches aber sind meine Gaben, die ich in die Gemeinde einbringen kann? Was hat Gott mir geschenkt, was ich für andere nutzbar machen kann? Wo braucht Gott mich, wo ist mein Platz? Ich glaube, es ist wichtig, daß jede und jeder von uns sich das fragt. Es geht darum, die eigenen Begabungen zu entdecken und anderen dabei zu helfen, ihre zu entwickeln. Jede und jeder in der Gemeinde braucht Ermunterung, um die eigenen Gaben anzubringen und Raum, um sie zu entfalten. Sie braucht die Bestärkung: "Das ist gut, wie du es machst", und die Begleitung durch andere, die auch mal etwas Kritisches sagen. Ich glaube, unsere Gemeinde kann viel lebendiger werden, als sie ist, wenn wir einander ermutigen, die eigenen Begabungen zu entdecken und zu entwickeln. Wir können das Wehen des Geistes dann vielleicht öfter oder stärker spüren als heute. Es wird bei uns dann nicht zugehen wie in Korinth, daß wir uns vor Geistesgaben gar nicht retten können, aber wir werden lebendiger, dynamischer, vielfältiger und anziehender für andere sein, wenn wir alle ermutigen, ihre Fähigkeiten in die Gemeinde hinein zu bringen.

Ich möchte Sie ermutigen, Gott darum zu bitten, daß er uns hilft, die eigenen Gaben zu entdecken und zu entfalten. Lassen Sie uns beten mit einem alten Gebet:

Geist des lebendigen Gottes,
netze mich wie Tau am Morgen.
Fülle mich,
öffne mich,
brauche mich.

Amen.

Luise Stribrny de Estrada, Pastorin in der Matthias-Claudius-Gemeinde in Kiel-Suchsdorf

Bemerkungen zur Predigt:

Vorbemerkungen: Am zweiten Pfingsttag werden nicht viele Gemeindeglieder in die Kirche kommen. Diejenigen, die nicht unterwegs sind, werden wohl eher am Hauptfesttag, also Pfingstsonntag, in die Kirche gehen, an dem vom Proprium her dieselbe Botschaft im Mittelpunkt steht. Wer kommt, gehört wahrscheinlich zur Kerngemeinde. Der Abschnitt aus dem Brief des Paulus an die Korintherinnen steht quer zu der Befindlichkeit dieser Gottesdienstgemeinde und zu der augenblicklichen Stimmung in unserer Gemeinde und der Kirche überhaupt. Wir nehmen kein überschwengliches Wirken des Heiligen Geistes wahr, sondern beklagen vielmehr sein Fehlen. Wie kann der alte Text trotzdem in unsere Situation hineinsprechen, ohne daß ich einfach nur feststelle, wie schön es ist, daß alle in der Gemeinde verschiedene Begabungen haben, angefangen von Kuchen backen bis zum Predigen?


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