Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 2. S. nach Trinitatis
Datum: 21.6.1998
Text: Epheser 2, 17-22
Verfasser: Jürgen Jüngling


Liebe Gemeinde,

1. Wir alle kennen das nicht nur vom Autofahren, sondern aus dem Leben überhaupt: Ganz plötzlich stecken wir in einer Sackgasse. Eben noch ging es zügig voran, und von jetzt an heißt es Stop. Wir haben es zunächst gar nicht gemerkt und haben es natürlich erst recht nicht gewollt, und doch geht nun nichts mehr. Das passiert uns als einzelnen, das passiert Familien und Betrieben. Und das passiert sogar ganzen Staaten und Kirchen, daß sie in Einbahnstraßen geraten, sich in Sackgassen verrennen oder gar mit dem Rücken an die Wand geraten. Eine solche Situation ist natürlich immer ärgerlich, sie hält auf, und sie tut oft weh: sie kann aber auch heilsam sein, weil sie klar macht: So wie bisher geht es nicht mehr weiter. Ein neuer Start ist angesagt und eine gründliche Orientierung nicht nur nötig, sondern unausweichlich.

2. So oder so ähnlich mag es auch den Christen in Ephesus ergangen sein. Da gab es die einen, die aufgewachsen waren in dem ererbten heidnischen Kult und in der großen Muttergöttin Artemis das zentrale Sinnbild von Fruchtbarkeit verehrt hatten. Und plötzlich sahen sie sich mit einer ganz anderen Botschaft konfrontiert, mit der nämlich des Mannes aus Nazareth. Sie hörten von seinem Leben, Sterben und Auferstehen, von seinem Zuspruch und seinem Anspruch. Zuerst mögen sie erstaunt gewesen sein, doch dann wurden sie neugierig und interessierten sich immer stärker für diese neue Botschaft und schließlich waren sie fasziniert von ihr, sahen durch sie das eigene Leben ganz neu und richteten es schließlich danach aus. Das kam immer wieder vor, wenn Menschen mit der Botschaft von Jesus Christus in Berührung kamen. Aus Heiden wurden Christen.

Doch da gab es in der großen Hafenstadt auch noch die anderen Christen, diejenigen, die von Hause aus Juden waren und eine völlig andere Vorgeschichte mitbrachten. Wie sollte und mußte man zu ihnen stehen? Es braucht wohl keine große Phantasie, sich vorzustellen, daß es bereits bald zu Vorbehalten von beiden Seiten kommen mußte. Das haben Menschen wohl schon immer an sich gehabt, zunächst einmal diejenigen höher einzuschätzen, die ihnen gleich und oder mindestens nahe stehen. Und so drohte bereits in der frühen Christenheit das einzutreten, mit dem wir es unter anderen Vorzeichen bis auf den heutigen Tag zu tun haben: Überheblichkeiten, Besserwisserei, Parteiungen, Auflösungserscheinungen. Die Sackgasse kommt immer näher. Wir kennen diese Situationen zur Genüge.

Wie so oft in solchen Lagen bedarf es dann der Vermittlung eines Dritten, kann ein Wort von außen hilfreich sein. In unserem Fall war das der Brief, der an die dortige Gemeinde adressiert war. Sein Schreiber erkennt den ganzen Ernst der Situation. Er merkt, daß es hier fast schon um alles oder nichts geht. Deshalb erinnert er in einem langen Gedankengang an die Geschichte der Gemeinde und kommt schließlich auf das Grunddatum jeder christlichen Existenz zu sprechen: Jesus Christus ist gekommen und hat Frieden gebracht "euch, die ihr fern wart, ... und denen, die nahe waren. Denn wir haben alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater." (V 17.18) Dieses Wort ist der Schlüssel zur Vergangenheit und zur Gegenwart der christlichen Gemeinde. Jeder einzelne und auch die einzelnen Gruppierungen werden in ihrem Herkommen erkannt und ganz ernst genommen. Die einen waren früher ganz nahe dran und die anderen ursprünglich sehr weit weg. Aber gerade darin besteht die Bedeutung des Heilands, daß er beide gleich nahe vor Gott bringt.

Wieviel könnten wir gewinnen, wenn wir uns diese Sicht der Dinge zu eigen machten? Nicht wir selber mit unseren Einstellungen und Positionen bestimmen unseren Wert oder gar unsere Nähe zu Gott, sondern die hat Jesus der Christus längst für uns alle hergestellt und uns damit "den Zugang zum Vater" geschaffen. So manche Auseinandersetzungen über den richtigen Weg der Kirche oder über den rechten Glauben würden ihre verletzende Schärfe verlieren, wenn wir uns davon leiten ließen. Es gibt keine Fernen und Nähen mehr, sondern seit Jesus Christus sind wir alle gleich nahe zu Gott. Diese Einsicht entlastet und befreit. Sie setzt Kräfte frei, die wir bitter nötig haben für die Aufgaben, die vor uns liegen.

3. Deshalb heißt es dann völlig folgerichtig im Epheser-Brief weiter: "So seid Ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen." (V 19) Spüren Sie die Bewegung und Entwicklung, die dieser Satz nachzeichnet? Bemerken Sie seinen ausgesprochen einladenden Charakter? Aus Gästen und Fremdlingen, aus Mitmenschen auf Zeit also und mit Duldung werden gleichberechtigte Mitbürger der Heiligen und gar Gottes Hausgenossen. Besonders wenn man viel in der Fremde gewesen ist oder eine Reihe von Umzügen hinter sich hat, kann man sich gut in diese Bewegung einfühlen. Denn Fremdlinge sind wir alle an vielen Stellen, und fremd kommen wir uns oft genug in der eigenen Umgebung vor. Das führt dann hoffentlich auch zu der Frage: Wie gehen eigentlich wir mit Fremden um?

Und wie oft waren wir Gäste - bei dem großen Fest oder auch nur zu Besuch bei guten Freunden? Doch mehr als Anteil nehmen, hineinschnuppern konnten wir gar nicht. Dazu fehlt es einfach an Zeit und auch an Nähe. Viel gewonnen wäre schon, wenn man uns nachsagte, wir führten ein gastfreies Haus.

Mitbürger hingegen sind die, die dazu gehören, die voll und ganz dazu zählen. Das sind diejenigen, die man im Altertum die Freien nannte. Mitbürger sind die, denen alle Rechte zustehen, die deshalb aber auch Pflichten haben. Erst wenn man daran denkt, wie lang und schwer in der Neuzeit der Kampf um die Bürgerrechte war, kann man ermessen, wie hoch die Einordnung als Bürger zu schätzen ist.

Und dann schließlich noch "Gottes Hausgenossen"! Höher kann man vom Menschen einfach nicht denken, als Gott es uns selber zugedacht hat. Eine Steigerung der Zugehörigkeit ist nicht mehr möglich. Das hat mit Heimat im besten Sinne des Wortes zu tun. Denn mehr kann ein Mensch nicht zu Hause sein als in seinem Glauben. Gott sei Dank! Mit dieser Heimat im Rücken kann er das Leben bestehen mit all seinen Glauben und Aufgaben, Freuden und Leiden.

4. Das wiederum kommt besonders anschaulich im Bild vom Bau zum Ausdruck. Wir alle, die ehemaligen Juden und die ehemaligen Heiden, die Männer und die Frauen, die Aussiedler und die hier Geborenen, die Jungen und die Alten, wir alle ruhen da als Gottes eigene Hausgenossen auf einem Grund auf, der längst gelegt ist. Keiner braucht sich um die Gründung zu kümmern, das A und O eines jeden Hausbauens. Dafür ist für allemal gesorgt durch den Eckstein, der dem Ganzen die Richtung gibt, und durch das Fundament, das die Väter und Mütter des Glaubens errichtet haben. Mit einem solchen Grund unter den Füßen können wir die Gegenwart bestehen und die Zukunft angehen. Ist nicht auch diese Vorstellung entlastend und befreiend? Nicht wir sind es, die Kirche und Welt erst entwerfen und gründen müssen. Das hat längst schon ein anderer getan.

Doch der lädt uns nun ein und fordert uns auf, weiter daran mitzubauen und das unsere mit unserer kleinen Kraft dazuzutun. Denn dieser Bau ist noch lange nicht fertig, und auf dieser Baustelle sind viele Hände gefragt. Jeder, der schon einmal mit Häuslebau zu tun hatte, weiß, daß das in der Regel eine lebenslange Aufgabe ist. An Schlössern und Domen haben gar viele Generationen gebaut. Und wieviel mehr gilt das für den Bau der Kirche, den Gott mit uns und für uns vor hat? Aber auch da dürfen wir wissen: Er ist der Herr des Baus, er verfügt über den endgültigen Plan, er weiß, wo jeder einzelne Stein hingehört, und er wird alles wohl richten. Wir brauchen uns seinen Kopf nicht zu zerbrechen. Es reicht, wenn wir uns ihm zur Verfügung stellen. Nicht mehr, aber bitte auch nicht weniger wird von uns erwartet. Und wenn wir das getan haben werden, dann dürfen wir uns mitfreuen auf den Tag der Vollendung, den er herbeiführen wird. Gebe es Gott, daß diese Freude schon heute unser Leben bestimmt!

Amen.

Jürgen Jüngling, Oberlandeskirchenrat, Wilhelmshöher Allee 330, 34131 Kassel

Bemerkungen zum Text

Das zentrale Thema des Briefes ist die Einheit der Gemeinde von Juden- und Heidenchristen. Diese ist angelegt im Christus-Geschehen selber und ist von daher für das (Über)Leben der christlichen Gemeinschaft unabdingbar. Der Briefschreiber sieht jedoch die Gefahr, daß die ehemals heidnischen Gemeinde-Mitglieder in Ephesus sich den Judenchristen gegenüber in einer hervorgehobenen Rolle verstehen.

In unserem Textabschnitt geht es deshalb zum ersten ganz folgerichtig um die Stichworte von Einheit und Frieden in der Gemeinde, zum anderen - und damit eng verbunden - um die Lebensperspektiven von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und schließlich - sehr bildhaft - um den weiteren Weg von Christen und Kirche anhand der Vorstellung eines Baues.

Mein Predigt-Aufbau orientiert sich an diesen inhaltlichen Vorgaben, wobei ich das Verhältnis Kirche - Israel nicht eigens thematisiere (Gelegenheit dazu am sogenannten Israel-Sonntag, dem 16.8.1998). Ich zeichne zunächst den Weg in Ephesus bis zur Gemeinde-Bildung nach (Vergangenheit), beschreibe den Status der Christen als "Gottes Hausgenossen" (Gegenwart) und ende mit dem Bild des Baues (Zukunft). Dabei betone ich die Momente von Entlastung und Befreiung, die ihrerseits erst das rechte Handeln ermöglichen. Grund und Ausgangspunkt dazu ist die im Text angelegte Erkenntnis, die viel später Paul Gerhardt so treffend formuliert hat: "Gott sitzt im Regimente und führet alles Wohl." (Ev. Gesangbuch 361,7)

 


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