Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 3. S. nach Trinitatis
Datum: 28.6.1998
Text: 1. Timotheus 1, 12-17
Verfasser: Prof. Dr. Michael Beintker

zur zweiten Predigt für den 28.6.


Predigttext:

Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben. Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist. Das ist gewißlich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, daß Christus Jesus an mir als erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

Liebe Gemeinde!

Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Das ist der Hauptsatz dieses Textes, sein Licht, seine Mitte, in der sich alle seine anderen Sätze treffen, von der sie herkommen und zu der sie wieder hinlaufen: Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten! Ohne ihn wären die Sünder, wäre die Welt rettungslos verloren. Aber mit ihm und durch ihn empfangen sie die Zukunft und das Leben.

Wir können uns das nicht oft genug sagen lassen. Wir singen es zwar, wenn wir in weihnachtlichem Ergriffensein das "Stille Nacht, heilige Nacht ..." angestimmt haben: "... durch der Engel Halleluja / tönt es laut von fern und nah: / Christ, der Retter ist da, / Christ, der Retter, ist da!" Und wir bekräftigen es auch mit dem Osterlied: "Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen". Aber lassen wir ihn tatsächlich denjenigen sein, als den wir ihn besingen: den Retter, der uns aus unserer großen Not befreit? "Denn das ist gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort", so wird der Satz vom Retter der Welt und der Sünder eingeleitet. Luthers unübertroffene Übersetzung will den Satz gegen jeden Zweifel abschirmen und seine - verbürgte - Kostbarkeit herausstellen. Das teuer werte Wort vom Retter sei ihm "öfter Leben und Heil gewesen". Paulus rede in großer Gewißheit: "Ach, wer so reden könnte", entfährt es dem Reformator in einer Vorlesung zu unserem Text (Luthers Epistel-Auslegung, Bd. 5, 1983, 40). Und Calvin vergleicht das den Zweifel auflösende "Das ist gewißlich wahr" mit einem "hellen Trompetenstoß, der Christi Gnade laut verkündet und in unsere Herzen ruft" (Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, hg. v. K. Müller, Bd. 13, 414). Es möchte "wie ein Siegel sein, welches den zuversichtlichen Glauben an die Vergebung der Sünden, welcher den Menschen so schwer eingeht, in unsere Gemüter prägt" (ebd.).

Wir können es uns nicht oft genug sagen lassen, wozu Jesus Christus gekommen ist. Denn die Zusicherung, daß er - nur er - dein, mein und unser aller Heil sei, wird vielfältig verstellt; sie ist ebenso kostbar wie sie unsere ganze Aufmerksamkeit fordert. Verstellt wird sie einmal dadurch, daß wir ihn nicht den Retter der Welt und der Sünder sein lassen, sondern ihn in seinem Wirken an uns einschränken - auf ein wenig Andacht oder ein wenig Ethik, auf ein wenig Leitbild oder ein wenig Erinnerung an die Vision gerechterer Verhältnisse. Aber ist Jesus Christus in die Welt gekommen, um uns mit alternativer Moral oder mit alternativen Lebensmaximen oder mit mancherlei klugen Empfehlungen auszurüsten? Für solche und ähnliche Bemühungen finden sich in dieser Welt doch Avantgardisten genug. Vordenker, Nachdenker und Querdenker füllen mit ihren Konzepten und Rezepten ja ganze Bibliotheken. Wir würden Jesus Christus regelrecht verstecken, wenn wir ihn dort auch noch einsortieren würden. Zwischen einem Retter und einem Lehrer besteht schon ein deutlicher Unterschied. Ein Lehrer unterrichtet uns. Und wenn der Unterricht gut gewesen ist, haben wir etwas Vernünftiges gelernt. Ein Retter aber packt zu. Er sieht einen Menschen untergehen und entreißt ihn - unter Einsatz seines Lebens - dem Strudel, der diesen Menschen in die Tiefe zieht. Natürlich kann auch ein Lehrer zum Retter, ein Retter zum Lehrer werden. So lehrt Jesus Christus auch etwas. Aber ehe er lehrt, holt er uns aus dem Elend, in dem wir existieren, befreit er uns aus der Not, in die wir geraten sind.

"In welche Not sind wir denn geraten?", könnten wir an dieser Stelle erstaunt zurückfragen. Damit stoßen wir auf eine zweite Möglichkeit der Verunsicherung. So wie wir ihn nicht den Retter der Welt sein lassen können, können wir uns als nicht rettungsbedürftig auffassen, also als Menschen mißverstehen, die es anscheinend nicht nötig haben, von ihm errettet zu werden, und die Vergebung nicht brauchen.

Gerettet werden die Sünder - Menschen also, deren Leben verpfuscht und verwirkt ist. Wir denken an die Zöllner Levi und Zachäus, wir denken an Maria Magdalena und die Ehebrecherin, Menschen von zweifelhaftem Ruf, denen Jesus durch die Vergebung einen neuen Anfang schenkt. Uns fällt der verlorene Sohn ein, der zweifelsfrei ein großer Sünder und Prasser gewesen sein muß, oder der Schächer am Kreuz, dem sich noch in der Todesstunde die Tür zum Paradies öffnet. Und natürlich werden wir ganz besonders an Paulus denken, der sich nach der diesem Text zugrundeliegenden Überlieferung selber als den größten Sünder überhaupt charakterisiert, weil er gegen das Evangelium gekämpft und die Anhänger des Evangeliums mit Haß und fanatischer Rechtgläubigkeit verfolgt hatte - bis sich ihm Christus in den Weg stellte und ihm die Augen für die Kraft der Barmherzigkeit Gottes öffnete.

Gerettet werden also Menschen, die wie Levi, Zachäus, Maria Magdalena, der Schächer oder gar der Apostel Paulus so von ihrer Schuld erdrückt werden, daß sie nur noch rufen können: "Herr, sei mir Sünder gnädig!" Niemand kann so verloren sein, daß er von Jesus Christus nicht erlöst werden könnte, daß er vom Erbarmen Gottes gleichsam ausgesperrt bleiben müßte. Andererseits gilt: Wir würden uns selber vom Erbarmen Gottes ausschließen, wenn wir darauf verzichteten, uns zu den Sündern zu stellen und unsere eigentliche Not - die Gefangenschaft in der Gottvergessenheit - erkennen zu wollen.

Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir das nicht einfach können. "Wo ist die Gemeinde für diesen Text?", könnte man ironisch mit Luther fragen. Sind wir doch alle ganz passable, rechtschaffene Leute, einigermaßen belehrt und orientiert, um nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Sünde klagen wir an, wenn wir die Kluft zwischen Reich und Arm anprangern (sind wir etwa reich?), wenn wir die Schrecken der Nazi-Diktatur brandmarken (sind wir etwa Nazis?), wenn wir uns über den Unverstand der Politik entrüsten (sind wir denn Politiker?) oder uns über die Ellenbogengesellschaft empören (unsere Ellenbogen benutzen wir offensichtlich überhaupt nicht). "So sind sie alle Heilige. Wo sollen wir die Sünder hernehmen? ... Was sollen wir also machen, wenn wir einen so schönen Text predigen und kein Hörer da ist, keiner ohne Ausnahme von oben an bis unten aus?" fragt Luther spöttisch (aaO., 112).

Natürlich sind wir die Gemeinde von Sündern (und selbstverständlich Sünderinnen), denen dieses Wort der Rettung zugerufen wird. Wir müßten bloß entdecken, daß wir unsere eigenen Sünden verstecken, indem wir lautstark gegen die Sünden anderer mobil machen und aus dem Fenster herauspredigen. Worin bestanden denn die Sünden des Apostels, auf die in diesem Text zurückgeblickt wird? Er nennt sich einen Lästerer, Verfolger und Frevler und war doch eigentlich ein ganz untadeliger Mensch, von tiefster Sehnsucht nach der Erfüllung der Gebote Gottes beseelt - ein Gegner der Unverbindlichkeit und der billigen Tröstungen. Genau das aber disponierte ihn zum Feind des Evangeliums, der bedingungslosen Zusage der Vergebung Gottes. Wir sollten uns den gesetzestreuen Saulus als einen unbeirrbaren Eiferer für seine gute Sache vorstellen, erfüllt vom Zorn über die Treulosigkeit und das Unrecht, angewidert von der Sündenverliebtheit seiner Zeitgenossen. "Aber niemals waren wir schlechter, als da wir die Besten waren. Paulus verfolgte die Christen nicht nach der Art eines Straßenräubers, sondern er war ein Zelot (ein Eiferer). Folglich tat er es gleichsam als höchste Pflichterfüllung." (Luther, aaO., 35)

"... ich habe es unwissend getan, im Unglauben", heißt es im Predigttext. In der Tat: Man würde das Falsche nicht aus Überzeugung tun, wenn man es als das Falsche durchschaut hätte. Und man würde das Evanglium nicht feindselig von sich stoßen, wenn man der Kraft der Vergebung das erste und das letzte Wort überließe. Man hätte das Vertrauen gefaßt, daß Gottes Liebe mehr erreicht als Gottes Forderung. Das Gegenteil solchen Vertrauens ist der Unglaube, den der Text als Wurzel allen Übels durchschaut - Unglaube als Skepsis gegenüber Gottes Freundlichkeit zu den Sündern, als Angst vor der Gnade Gottes, als Verärgerung darüber, daß es so einfach sein soll, mit Gott ins Reine zu kommen. Unglaube besteht nicht im Mangel an Glaubenswissen und Bekenntnissicherheit, sondern im Mangel an Vertrauen in Gottes Erbarmen mit den Sünderinnen und Sündern. Unglaube zeigt sich als Mißtrauen gegenüber der Großzügigkeit und Geduld Gottes - abgrundtiefes und deshalb Abgründe schaffendes und in Abgründe stürzendes Mißtrauen gegenüber der schöpferischen Kraft der Liebe Jesu Christi.

Aber Christus wählt seltsame Wege, um das Mißtrauen zu überwinden. Ausgerechnet ihn - den dezidierten Eiferer - verwandelt er in den markantesten Zeugen für die Rettung der Sünder. Er, der die Kraft der Gnade am heftigsten anzweifelte, kann nun immer wieder nur ausrufen, daß ihm Barmherzigkeit widerfahren sei. Er, der so stolz auf seine untadelige Lebensführung gewesen war, nimmt sich jetzt als "der erste unter allen Sündern" wahr.

Damit fängt die Errettung an, daß wir uns die Augen über unseren Zustand öffnen lassen und nach Christus greifen. Es bedarf keines Wettbewerbs, wer der größte unter allen Sündern sei - gewiß ist der Apostel an dieser Stelle durchaus von vielen übertroffen worden. Aber jeder und jede von uns ist auf seine und ihre Weise vor Christus der größte Sünder bzw. die größte Sünderin. Denn wenn wir so vor ihm stehen, wie der Text den Apostel vor Christus rückte, dann werden die vielen Sünden um uns herum bedeutungslos, dann lassen wir das Vergleichen und das Richten, dann erschrecken wir nur über uns und unser Mißtrauen: unsere Selbstgerechtigkeit, unsere Herzenshärte. Aber in dem Maße, wie uns das Gewicht der eigenen Schuldverfallenheit vor Augen steht, schmecken wir erst recht die Kraft der Vergebung. Das Ja, das wir empfangen, übertrifft und überstrahlt das Nein, das wir verdienen. Denn das Nein traf Christus am Kreuz, damit das Ja Gottes zu uns uneingeschränkt Geltung erlange. Dieses Ja ist um so stärker, je kräftiger das Nein über unsere Sünde ausfällt. Deshalb ist der größte Sünder tatsächlich der geliebteste Mensch. Deshalb verlieren wir nichts, wenn wir unsere Sünden erkennen. Wir gewinnen vielmehr alles, was ein Mensch in diesem irdischen Leben gewinnen kann: die rettende Liebe Jesu Christi, in der das Erbarmen Gottes in unser Dasein eindringt. Sie löst uns aus dem Bann der Schuld und verwurzelt uns in seinem Auferstehungsleben. Amen.

Anmerkungen:

Kann man es in einer durchschnittlichen Sonntagspredigt noch wagen, unmißverständlich von "Sünde" zu sprechen - nicht, um sich moralisch aufzurüsten, sondern um den Zugang zum Evangelium dieses anspruchsvollen Textes zu finden? Die zentrale Aussage des Textes (Vers 15) besagt ja, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu retten (im Griechischen heißt es eindeutig "retten" statt des schwer verständlich gewordenen "selig machen"). Die folgende Predigt konzentriert sich vor allem auf die Auslegung dieser Aussage, die mit Recht zu den fettgedruckten Versen im Neuen Testament gehört. Mir scheint, daß man keine Angst vor hermeneutischen Blockaden zu haben braucht und der Gemeinde solche Grundaussagen wieder zumuten darf. Man hat auch kaum eine Alternative. Der Text selber, der aus der Schule des Paulus stammt und die befreiende Macht der Barmherzigkeit an der großen Wende im Leben des Apostels exemplifiziert, nötigt einen unmittelbar zur Besinnung auf solche Grundaussagen.

Die, vielleicht zu intensiv benutzten, Auslegungen Luthers und Calvins können das Problembewußtsein schärfen. Sehr hilfreich wurde mir auch die reiche Meditiation von Konrad Fischer in GPM 52, 1998, Heft 3, S. 330-339.

Prof. Dr. Michael Beintker <beintke@uni-muenster.de>


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