Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 3. S. nach Trinitatis
Datum: 28.6.1998
Text: 1. Timotheus 1, 12-17
Verfasser: Hilmar Menke

zur zweiten Predigt für den 28.6.


Predigttext:

Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben. Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist. Das ist gewißlich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, daß Christus Jesus an mir als erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

Liebe Gemeinde!

"In welch ruhigen Bahnen ist doch dein Leben verlaufen", das ist mein erster Gedanke. Hineingeboren in eine doch immerhin christlich geprägte Welt; natürlich als Säugling getauft; aufgewachsen in fast selbstverständlicher Nähe zur Gemeinde; geprägt von der Frömmigkeit der Mutter, die ohne viele Worte auskam; engagiert in der Jugendarbeit; dem Pfarrer fast in einer Sohnesbeziehung verbunden; Studium und kirchliche Ausbildung; für "stark" genug befunden von den Prüfungskommissionen; auch wohl "für treu erachtet" , jedenfalls von denen, die meine Kirche dazu berufen hat; ins Amt eingesetzt nach den Vorgaben und Vorschriften meiner Landeskirche - "Beamtenlaufbahn" nicht Rebellenkarriere! Sicher, auch Brüche hat es gegeben: Erfahrungen in Konfirmandenunterricht und Jugendgruppe führten zwar zur Abkehr von der Kirche, aber zu ihrem Gegner wurde ich nicht; die Auseinandersetzung in der Folge der 68er Jahre schufen Distanz, aber keine Feindschaft - und ein Damaskus gab es nicht, keine dramatische Bekehrung, keine Christusvision; keine äußerliche Erblindung, damit das innere Auge besser sehe. Menschen sind es gewesen, die mich mitnahmen, den Zugang neu eröffneten, mich forderten und förderten, Freunde, Pfarrer, Mitarbeiterinnen.

Soll, muß ich Paulus beneiden? Beneiden um seine Erlebnisse, beneiden um die Größe seiner Schuld - "denn es ist desto größer geworden die Gnade unseres Herrn, samt dem Glauben und der Liebe, die in Jesus Christus ist" - beneiden also um das, was doch erst im Kontrast zu Sünde und Schuld wirklich deutlich wird, erst so den wirklichen Reichtum erschließt...? Kann nur ein "vorbildliche Sünder" Vorbild werden im Glauben - muß ich auch darin der "Erste" sein? Gilt nur der Sprung vom Verfolger zum Verkünder, vom Feind zum Apostel, vom Gegner zu "Amtsträger" - was ist mit den vielen, die kein besonders Amt in der Kirche haben? Habe ich, haben wir weniger Grund, Jesus Christus dankbar zu sein, weniger Anlaß, Gott, dem ewigen König, Ehre und Preis zu singen...?

Ein Prediger soll nicht über sich selbst reden, so habe ich es gelernt - schon gar nicht, wenn er sich selbst als Beispiel, als Muster, gar als Vorbild hinstellt. Aber Paulus hat so persönlich, so eindringlich, so bewegend über sich selbst geschrieben, daß ich meinem ersten Impuls gefolgt bin - und sehe, daß mich das in die Irre geführt hat. Denn genau das, was dabei herausgekommen ist, will Paulus wohl auf gar keinen Fall.

Zweierlei, so scheint mir, bewegt ihn, von sich selbst zu schreiben: "Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über" - so sagt es der "Volksmund": So groß ist seine Dankbarkeit, daß er gar nicht anders kann, als von dem Grund für seine Dankbarkeit zu sprechen - ganz persönlich und aus eigener Erfahrung genau so wie mit den geprägten gottesdienstlichen Worten am Ende dieses Abschnitts: Daß Jesus Christus selbst ihn, der ja wirklich eine erbitterter Gegner der ersten Christenheit, voll Haß und Zorn - und damit ein Feind des Herrn selbst - daß ausgerechnet er, von dem es in der Apostelgeschichte heißt , er "schnaubte ... mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn"; er, dem es nicht reicht, in seiner unmittelbaren Umgebung zu wüten, sondern der sogar die Verfolgung anderswo - überall vielleicht - zu organisieren gedenkt - daß ausgerechnet er aufgehalten wird auf seinem Weg, überwunden, angenommen von Jesus Christus und von denen, die er verfolgte - auch das! - Das aber ist eben nicht nur persönliche Erfahrung, nicht allein Grund zur eigenen Dankbarkeit, sondern "Wort, des Glaubens wert" - und es ist Vorbild. Nicht Paulus ist Vorbild - weder als "Lästerer, Verfolger und Frevler", noch als "Starker " und "Treuer" in seinem Amt, sondern das, was Christus tut, ist Vorbild: "Darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, daß Christus an mir als erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten..." - nicht "als Vorbild"!

Wenn - so will es der Apostel wohl ganz deutlich machen - wenn dies Handeln Jesu Christi an ihm "Vorbild" ist, wie sollte ich dann zweifeln, daß Jesus Christus auch mich annimmt, selig macht, mir Barmherzigkeit widerfahren läßt, mir gnädig ist - zum ewigen Leben. Nur so kann er sich eigentlich erklären, daß Jesus Christus sogar ihm gnädig gewesen ist. Sünde, das ist Trennung von Gott - und selber so sein wollen wie der, "der allein Gott ist" - und Vergängliches an die Stelle dessen setzen, der der "Unvergängliche" ist - und anderen gehorchen als "dem ewigen König".

Sünde, so verstanden, kann ich doch kaum in der Weise messen und vergleichen, daß ich von mehr oder weniger rede, von schwerer oder leichter, von gewichtiger oder unbedeutender In seinem Brief an die Gemeinde in Rom schreibt Paulus es selbst: "...es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten..." Als man eine Frau zu Jesus brachte, die die Ehe gebrochen hatte, und ihn fragte, ob man sie - dem jüdischen Gesetz entsprechend, dem der Römer aber zuwider - steinige solle, da antwortete er: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie" - und alle wandten sich ab und gingen fort.

Niemand kann sich freisprechen von dem, was die Bibel Sünde nennt, von Selbstgerechtigkeit und Kleinglauben, von Egoismus und Selbstüberschätzung , von Unachtsamkeit gegenüber dem Nächsten und Schuld im Umgang mit dem Mitmenschen - wir können uns dabei noch nicht einmal auf das Unwissen berufen wie Paulus! "Allesamt Sünder" - das gilt, aber es gilt eben auch das, was im Römerbrief folgt: "und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist" - auch darauf bezieht sich das "Alle"!

Wenn das so ist, wenn auch ich zu den Begnadigten gehöre, zu denen, mit denen Gott Geduld gehabt hat und hat, zu denen, denen er Menschen schickte, die einen neuen Anfang machten und neue Wege zeigten - wenn das so ist, warum sollte er mich nicht auch stark machen und "mich für treu erachten" - ich verstehe es besser, wenn ich es so höre: "mir etwas zutrauen" - und mir ein "Amt" geben, eine Aufgabe und einen Platz in der Gemeinde, an dem ich diese Aufgabe erfüllen kann - ohne die Stärke, die er gibt, bekomme ich jedenfalls nichts zustande, ohne daß er mir etwas zutraut werde ich mir auch selbst nichts zutrauen, ohne daß er es will werde ich keine Aufgabe erfüllen, kein Amt ausüben können.

"Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade" - vielleicht kennen Sie das Buch oder zumindest den Titel - Paulus, der Apostel, der große Briefschreiber, ist dafür selbst ein - vielleicht das - Beispiel. Ich bin aber sicher, daß Gott auch auf den gerader erscheinenden Linien gerade schreibt. "Ich danke unserem Herrn Christus Jesus. Er gibt mir die Kraft, die ich brauche; er traut mir etwas zu und gibt mir eine Aufgabe. Er tut das für mich, der ich als Kind getauft wurde und hineingewachsen bin in die Gemeinde. Darin ist mir seine Barmherzigkeit widerfahren. Trotzdem habe ich nicht nach seinem Willen gelebt, obwohl ich im Glauben erzogen wurde, obwohl ich es besser wußte. Umso reicher ist die Gnade unseres Herrn geworden; immer wieder hat er Glaube und Liebe gezeigt und geweckt. Wahr ist es und etwas, was wert ist, darauf zu vertrauen, daß Christus Jesus in unsere Welt gekommen ist, um die zu retten, die von Gott getrennt lebten. Dazu gehöre ich auch. Auch mir ist Barmherzigkeit widerfahren, auch an mir hat Christus Jesus seine große Geduld erwiesen zum Vorbild für alle, die ihm vertrauen sollten, damit sie leben. Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen!"

Hilmar Menke, Superintendent in Cadenberge

E-Mail: <HHFJMenke@aol.com>

 


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