Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 15. S. nach Trinitatis
Datum: 20.9.1998
Text: 1.Petrus 5,5c-11

Verfasser: Prof. Dr. Wolfgang Grünberg


Liebe Gemeinde,

in einer Woche wird der deutsche Bundestag von den wahlberechtigten Bürgern über 18 Jahren neu gewählt.

"Wir sind das Volk" - am Wahltag haben wir "Macht", "herrschen" wir. Das ist der Sinn der "Demokratie", in der wir, Gott sei Dank, leben. Der Wahlkampf mit seinen großen und groben Vereinfachungen, ja auch Unterstellungen, nähert sich dem Ende. Die Parolen der rechtsextremen Parteien mit ihren Haßtiraden gegen alles, was ihnen "fremd" ist, können einem schon Angst einjagen. Aber Einschüchterung ist keine politische und keine christliche Tugend. Heute ist Zivilcourage gefragt - Ermutigung, ein "civis", ein freier Bürger zu sein und dafür einzutreten, daß dieser Freiheitsraum erhalten bleibt.

Die christlichen Gemeinden in der Zeit nach Jesu Tod und Auferstehung, in der die apostolischen Briefe des Neuen Testaments geschrieben wurden, hatten nicht das Glück, in einer Demokratie zu leben.

Unter Kaiser Domitian, an der Wende zum 2. Jahrhundert, gab es für die christliche Minderheit im römischen Weltreich vielmehr die erste landesweite Verfolgung der Christen als Staatsfeinde. Verhaftungen, Folterungen, sogar Drohungen, den Löwen im Colosseum in Rom öffentlich zum Fraß vorgeworfen zu werden, waren drastische Kampfmittel gegenüber der kleinen Minderheit der christlichen Gemeinden. Die öffentliche Propaganda suchte mal wieder Sündenböcke für alles, was schief lief im Staate Roms. Damals mußten die Christen herhalten, wie wenige Jahrhunderte später die Juden.

Und heute? Wer wird heute zum Sündenbock gestempelt? Jedenfalls sind auch heute wieder Wachsamkeit und Nüchternheit gefragt, nicht anders als zu der Zeit, als das apostolische Sendschreiben des 1. Petrusbriefes an die christlichen Gemeinden erging.

Hören wir, was damals der verfolgten christlichen Minderheit geschrieben wurde. Dabei benutze ich als Übersetzung eine freie Übertragung:

1. Petr. 5,5c-11:

Haltet Euch alle daran:
Gott widersteht den Hochmütigen, den Gedemütigten schenkt er sich selbst.
Beugt Euch (nur) unter Gottes starke Hand: im rechten Moment läßt er Euch Flügel wachsen!
All Euer Sorgen werft ihm zu. Ihm liegt doch an Euch!
So werdet Ihr nüchtern und wachsam sein können. Denn diabolisch ist der Feind, einem Löwen mit aufgerissenem Maul gleich, spähend, wen er verschlingen kann.
Widersteht! Ihr seid stark, durch Gottvertrauen gewappnet, und wißt doch: Ihr steht in der Solidarität Eurer leidgeprüften Geschwister.
Euch hat Gott, Geber aller Gaben, berufen. Euch will er Anteil an seinem Himmel gewähren durch Christus. Euch, die Ihr einen Teil seiner Leiden schmecken müßt, will Er aufrichten, standhaft machen, kräftigen und auf festen Grund stellen.
IHM gebührt die Macht heute und für alle Zeit.
Amen.

Liebe Gemeinde,

der letzte amtierende Oberrabbiner im nationalsozialistischen Deutschland, Joseph Carlebach aus Hamburg, hat - lange Zeit vor seiner Deportation, die ihn zusammen mit seiner Gemeinde und seiner halben Familie in den Tod führte - sinngemäß geschrieben:

Es ist nicht gut, wenn der Mensch seine Knie nicht mehr vor Gott beugt. Er verliert sein Maß und verfehlt seine Menschlichkeit.

Das war eine prophetische Diagnose der aufkommenden Unheilszeit.

Darum geht es auch heute, vor Gott, unser menschliches Maß und unsere Handlungsmaßstäbe zu finden, für uns selbst, aber auch für den politischen Raum.

Diese Haltung heißt in unserem Briefabschnitt "Demut". "Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade", übersetzt Martin Luther.

Das Schlimme an hochmütigen Denken und Handeln ist die totale Selbstzufriedenheit. Solche Menschen sind mit sich restlos zufrieden. Sie setzen nur auf die eigene Kraft und Stärke. Darum werden sie im Laufe der Zeit immer gnadenloser.

Denn wer seine Knie nicht vor Gott beugt - und sei es auch nur in seinem Denken und Empfinden - verliert die Erfahrung und die Erwartung von Gnade.

"Macher" leben in großer Selbstüberschätzung. Vor allem eigenen Tun und Lassen leben wir von dem, was uns täglich neu geschenkt wird, was wir als Selbstverständlichkeit hinnehmen: Das Morgenlicht und die Zuwendung unserer Nächsten, das tägliche Brot, das Vorschußvertrauen unserer beruflichen Kolleginnen und Kollegen und vieles mehr.

Den Christen, die von den Mächtigen ihrer Zeit bedroht waren, wird der Trug von deren Machtwahn nicht durch die Analyse von deren Fehlern vor Augen gemalt, sondern wird in eine andere, alternative Grundhaltung dem Leben gegenüber vor Augen gestellt: Die Demut, ein geschundenes, vergessenes, verdrängtes und doch erhabenes Wort.

Bewußt habe ich es in der freien Übertragung unseres Briefabschnittes erst einmal umschrieben. Denn landläufig verstehen wir unter Demut "Unterwürfigkeit", Unselbständigkeit, Abhängigkeit.

Demut vor Gott ist aber das Gegenteil von Unterwürfigkeit gegenüber den Menschen! Vor Gott demütig - das ist vielmehr die Basis für Furchtlosigkeit und Mut gegenüber den Menschen. Man könnte fast behaupten, Demut "produziert" Zivilcourage. Wer sein menschliches Maß vor Gott findet und in diesem Sinn demütig ist, wird mutig, sich "einzumischen"!

Christen sollte man daran erkennen, daß ihnen nichts gleich - gültig ist, sondern daß sie mutig und fähig sind, sich einzumischen, in der nächsten Umgebung, aber auch am Arbeitsplatz und in der Politik.

Aber auch die Art der "Einmischung" ist bei demütigen Menschen anders als gewohnt. Denn es geht nicht um Rechthaberei - als hätten nun die "Demütigen" die Weisheit gepachtet. Demütige leben aus der Solidarität mit den Leidenden. Sie kämpfen gegen "gnadenloses Handeln", weil dieses ständig neu Leiden verursacht. Wer unsere Angewiesenheit Gott gegenüber vergißt, woher stammt sein Maß an Menschlichkeit?

Ein Arzt erzählte mir von einem langjährigen Patienten, der ihm zum Freund geworden war, folgendes: Jahrelang, ja jahrzehntelang war dieser Patient Atheist, weil sein aufgeklärtes Weltbild keinen Raum hatte für Gott. Beim letzten Treffen hat dieser Patient ihm gesagt: "Die Arroganz der Macher und Mächtigen wird mir immer unerträglicher. Was ist denen denn heilig?"

Der Arzt spricht: "Mich erstaunt und erfreut, daß Sie das Wort "heilig" in den Mund nehmen." Darauf antwortet der Patient: "Je länger ich Menschen kenne und beobachte: Demut, darauf kommt es doch an. Demütige Menschen sind bescheiden und gültig. Ich fürchte, ich muß meinen Atheismus überdenken - denn wirklich demütig sind wohl doch nur Menschen, denen etwas heilig ist." Der Arzt sagte mir noch: "Von diesem Patienten lerne ich."

"Gott widersteht den Hochmütigen - aber den Demütigen schenkt er sich".

Wer seine Knie vor Gott beugt, kann Gottes Nähe, seine uns zugewandte Liebe erfahren. Demut ist keine infantile Flucht in den Schoß des Allmächtigen, um sich zu ducken. Gott ruft uns an die Seite der Geschundenen und Geschmähten. Was Gottes Solidarität mit den "Mühseligen" und "Beladenen" bedeutet, hat uns Jesus in der Nachfolge der Propheten durch Wort und Tat drastisch vor Augen geführt.

Darum können wir sagen, was die Erfahrung von Gottes Nähe meint:

Gott ist stark, um die Schwachen zu stärken.

Gott ist frei, um die Gebundenen zu befreien,

Gott leidet, um die Leidenden zu erlösen.

Gott stirbt am Kreuz, um dem Tode die Macht zu entreißen.

Aber Gott widersteht auch. Wir können Gott auch gegen uns haben und werden dies in Krisenzeiten durchschauen. Das gilt für persönliche wie auch gesellschaftliche bzw. politische Krisen.

Wir brauchen vor allem "Wachsamkeit" und Zivilcourage!

Der Apostel hat damals seinen Glaubensgeschwistern zugerufen, was wir auch heute beherzigen sollten: Widersteht eurer Resignation und Hoffnungslosigkeit, selbst wenn ihr leiden müßt. So beglaubigt ihr euer Vertrauen in Gott, der die Auferstehung und das Leben ist.

Das Böse ist in uns und um uns. Es ist eine Macht. Wir brauchen sie nicht "Teufel" zu nennen. Aber wer vergißt, daß das Böse eine aktive, verschlingende Macht ist, ist gefährlich naiv.

Heinrich Albertz, früher einmal Regierender Bürgermeister von Berlin und später wieder Pfarrer, ein beherzter, mutiger Mann, hat in seiner Sprache etwas ähnliches gesagt, wie der Oberrabbiner Carlebach. Albertz sah das ganze Evangelium erfüllt und zusammengefaßt im 1. Gebot und im Psalm 23.

Wem Gottes Name wirklich heilig ist, wird gegenüber allem anderen frei, souverän und mutig. Alle anderen Quellen des Mutes und der Freiheit - so Albertz - versagen sonst in Krisenzeiten. Er kannte Gottes Geleit auch "im finsteren Tal", auch "angesichts des Feindes".

Laßt uns Gott loben, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, den Geber aller Gaben: "Er wird Euch, die Ihr einen geringen Anteil seiner Leiden schmecken müßt, aufrichten, standhaft machen, kräftigen und auf festen Grund stellen." Amen.

Prof. Dr. Wolfgang Grünberg, Tannenhügel 3b 21149 Hamburg, Tel. 040 - 7968132


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