Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: Erntedankfest
Datum: 4.10.1998
Text: 2. Korinther 8, 1-15

Verfasser: Dr. Karl-W. Rennstich


Predigt zum Erntedankfest am 4.10.98
über 2 Korinther 8, 1-15 von
Dr. Karl-W. Rennstich

Liebe Gemeinde!

Das Teilen bleibt schwer, besonders dort, wo die Lebensumstände mehr als erträglich sind und wo reiche Ernten eingefahren und genossen werden. Nicolai Berdjajew zufolge ist die Sorge um ein tägliches Brot eine materielle Sorge, die Sorge um das Brot meines Bruders aber eine geistliche Frage. Geld und Geist gehören im Neuen Testament, vor allem in den Briefen des Apostels Paulus eng zusammen.

Der Urinstinkt in uns äußert sich in den Worten: "Teilen macht ärmer!" In der Bibel finden wir die Überzeugung: "Teilen macht reicher!" Die Wahrheit dieses Satzes leuchtet auch sofort ein, wenn wir menschliche Werte betrachten. Die Erinnerungen und die Erfahrungen, die Menschen miteinander teilen machen nicht ärmer sondern reicher. Jedes Kind muß mitteilen, was es an Schönem erlebt hat. So wird das Erlebte noch einmal genossen und noch einmal viel, viel größer. Auch das Schwere, auch der Schmerz, den man mit einem anderen teilt, kann bereichern, weil er das eigene Leben und die Beziehungen zu einem anderen Menschen vertieft. Die Eigenart der Liebe ist zu teilen, mitzuteilen, sich zu verschenken. Ein klassisches Beispiel finden wir beim Apostel Paulus.

"Wir wollen euch, liebe Brüder, von der Gnade berichten, die Gott den Gemeinden Mazedoniens geschenkt hat. Denn während sie durch schweres Leiden geprüft wurden, haben sie in überschwenglicher Freude trotz ihrer großen Armut reichlich gegeben mit lauterem Sinn. Denn ich bezeuge, daß sie nach Kräften und sogar über ihre Kräfte freiwillig gegeben und uns mit vielem Zureden gebeten haben, daß sie an dem Liebeswerk für die Heiligen Mithelfen dürften. Sie taten mehr, als wir erwartet hatten, und gaben sich selbst, zuerst dem Herrn und dann auch uns, nach dem Willen Gottes. So konnten wir Titus zureden, dieses Liebeswerk, wie er es früher angefangen hatte, nun unter euch zu vollenden. Wie ihr aber in allen Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allem Eifer und in der Liebe, die wir in euch erweckt haben, so seht zu, daß ihr auch in diesem Liebeswerk reich seid. Ich sage das nicht als Befehl, sondern weil andere so eifrig sind, möchte ich, daß euch eure Liebe sich als echt bewährt. Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich war, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich werdet. Nur meine Meinung gebe ich hierin; denn das ist euch nützlich, die ihr seit vorigem Jahr nicht nur mit dem Tun angefangen habt, sondern auch mit dem Wollen. Nun aber vollendet auch das Tun, damit der Bereitschaft zum Wollen auch das Vollbringen entspricht nach dem Maß dessen, was ihr habt. Denn wenn der gute Wille da ist, so ist er willkommen nach dem, was einer hat, nicht nach dem, was er nicht hat. Ich meine damit nicht, daß die andern gute Tage haben sollen und ihr Not leidet, sondern es soll zu einem Ausgleich kommen. Euer Überfluß soll jetzt ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluß später eurem Mangel abhelfen kann und es zum Ausgleich kommt, wie geschrieben steht (2. Mose 16,18): "Wer viel sammelte, der hatte keinen Überfluß, und wer wenig sammelte, hatte keinen Mangel." (2Kor 8,1-15)

Zwischenkirchliche Hilfe wurde schon in der Urgemeinde praktiziert. Die Apostelgeschichte (11,27-30) berichtet, daß die Kirche in Antiochia durch ihre Missionare Paulus und Barnabas den in Not geratenen Brüdern in Judäa Hilfe zukommen ließ. Und auch in späteren Jahren übte der Apostel dieses Amt immer wieder aus. Hilfe für die Armen ist ein Zeichen der konkreten Einheit der Christen (Gal 2,10).

Zwischen Reichtum und Armut steht das Wort Ausgleich. Reichtum ist Überfluß. Den Überfluß soll die Gemeinde in die rechte Bahn, den richtigen Kanal leiten. "Euer Überfluß soll jetzt ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluß später eurem Mangel abhelfen kann und es zum Ausgleich kommt", schreibt der Apostel Paulus. Reichtum (beziehungsweise Armut), versteht Paulus in einem weitgefaßten Sinn. Er redet vom Überfluß (Reichtum!) "im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allem Eifer und in der Liebe". Alle Gaben gehören dem Geber der Güter. Den Namen Gott übersetzten die irischen Missionare mit "der das Gute will". Güter und Gott dürfen wir nicht trennen.

Der Genfer Reformator Joh. Calvin faßte diese Erkenntnis der urchristlichen Gemeinde so zusammen: "Sind wir nicht bereit, den Armen zu helfen, so lasset uns des Sohnes Gottes gedenken, den wir zutiefst beleidigen, wenn wir ihm etwas verweigern". Der Ausgleich zwischen Armen und Reichen ist also nicht nur eine soziale Forderung, ein ethisches Problem, sondern gehört zum Wesen des Glaubens; es hat etwas mit dem Sohn Gottes zu tun. Es ist eine Grundfrage des Glaubens; das Geld ist Teil der Nachfolge und gehört zum Wesen des Christen. Die Verweigerung bedeutet Un-Glaube:

"Denn ihr wisset die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, daß, ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euretwillen, auf daß ihr durch seine Armut reich würdet." (2Kor 8,9)

Dies ist ein urchristliches Bekenntnis. Das Modell eines christlichen Lebens ist der, der im Himmel war - aber alle seine Privilegien aufgab und arm wurde. Nachfolge heißt deshalb: Christen sollen leben wie Christus. In 2Kor 9 erläutert Paulus den Kirchen in Archaia die Absicht dieses Austausches und wie das Teilen geschehen soll. Der Empfänger der Gaben entscheidet über den "Segen" des Teilens.

Der Austausch von materiellen Gütern ging Hand in Hand mit gegenseitigen Besuchen. Der Apostel setzte sein Leben beim Besuch in Jerusalem aufs Spiel, um die von den Gemeinden in Europa gesammelten Gaben persönlich zu überbringen. Das materielle Teilen ist eingebettet in ein umfassendes Miteinander-Teilen, es ist die dankbare Zurückzahlung einer Schuld.

Ausgleich zwischen Teichen und Armen Dr. Herrmann Mögling (1811-1881), der Freund Hermann Gunderts, Großvater des Dichters Hermann Hesse, verbrachte drei Viertel seines Arbeitslebens in Indien und auch der verbleibende Rest seines Lebens gehörte diesem Land. Seine Kollegen urteilten über ihn: "Klug, aber unberechenbar ... ein Komet ... sehr nützlich ... ein Mühlrad." Er selber war bescheiden. Viele seiner Antworten auf die brennenden Fragen des letzten Jahrhunderts sind noch heute nachdenkenswert. In einigen Dingen war er weiter als wir heute. "Meinem Herrn in allen Dingen nachzufolgen, ist die ganze Aufgabe. Daraus folgt das Armsein und den Armen sich gleichstellen und dienen von selber."

Mit diesen Worten faßte Mögling sein Missionsverständnis zusammen. Auch heute noch ist die Kirche Jesu Christi aufgerufen, die Gute Nachricht für die Armen zu verkündigen, so wie es ihr Herr in seinem Dienst getan hat, als er das Reich Gottes ankündigte. ... Die meisten Menschen auf der Erde sind arm und warten auf ein Zeugnis vom Evangelium, das wirklich 'gute Nachricht' ist."

H. Mögling kam 1836 nach Indien. Er hat ein bewegtes Leben hinter sich: "Was die äußeren Umstände meines Lebens betrifft, so werden folgende Angaben genügen: geboren den 29. Mai 1811 in Güglingen (Württemberg) ... bin ich 1825 in das niedere Seminar zu Tübingen aufgenommen worden... Gut erzogen, aber entblößt von dem lebendigen Christentum in eigensüchtigem Wesen, welches durch leichte Entwicklung guter geistiger Anlagen sich um so fester gründete ... wurde aus einem halben Christen ein ganzer Heide, der das Christentum in der Einbildung festhielt, um es als poetische Fiktion zu genießen." Mit diesen Worten beschrieb er sein Leben bei der Anmeldung ins Basler Missionsseminar (1835).

Durch eine "Verführung Gottes zum Glauben" wird die Jahreswende 1834/35 auch zur Lebenswende. Mögling meldet sich als Missionar nach Indien. In seiner Examenspredigt zu Johannes 12,20-26 sagt er: "Wer teilhaben will an Christo, muß ihm nachfolgen". Dies wird zum Lebensprogramm des jungen Missionars in Indien. Nachfolge bedeutet für ihn vor allem freiwillige Armut. In Indien fällt dem Neuankömmling sofort auf: "auch die Missionare, so einfach sie leben im Vergleich mit anderen Engländern, sind eben Herren ... Zwischen einem englischen Missionar und einem Heidenchristen ist ... eine so große Entfernung als ... einem bekehrten ... Hofprediger und einem bekehrten Handwerksmann".

Armsein und den Armen sich gleichstellen und dienen, ist für Mögling die wichtigste Forderung der Nachfolge. "Geldrücksichten sollten gar nicht beachtet werden. Es würde mir keine unruhige Stunde machen, wenn ich hörte, daß man uns von Europa keinen Kreuzer mehr schicken könne; fast würde ich mich freuen, wenn der Herr einmal seine Sache in Indien durch solche Enge führen wollte". Besitzlosigkeit rechnet er zur "allgemeinen apostolischen Instruktion" und zieht aus dem "Missionspalast" aus, um mit den indischen Studenten auf derselben Stufe (unten auf dem Boden!) zu leben - und wird todkrank.

Daraus lernt er, daß Christus arm wurde, damit wir reich würden (2Kor 8,9). Er zieht daraus die Konsequenzen, seinen Reichtum an Wissen mit anderen zu teilen und von anderen zu lernen. Der Bewunderer des indischen Geistes will "Gold und Silber in den Bergwerken des indischen Altertums nachgraben" und in "gute Münze" verwandeln. Er wird Herausgeber der "bibliotheca carnatica" und erhält für diese Leistung den Dr. theol. der Universität Tübingen. Er verzichtet freiwillig auf finanzielle Unterstützung aus Europa und regt die wirtschaftliche Hilfe durch die Mission an. Er baut neben das katechetische Seminar die erste Gewerbeschule der Basler Mission in Indien. Daraus entsteht die "Industrie-Mission", die das Ziel hat, die indische Kirche finanziell unabhängig zu machen.

Bis zu seinem Tod (1881) arbeitet er nach seiner Rückkehr nach Europa weiter für die indische Kirche an einer kanareischen Bibelübersetzung und einer ethnologischen Untersuchung über das Kurgland, das als "Geschichte des Kurglandes" noch heute bleibende Bedeutung hat.

Wie viele andere Christen lernte der liberale Theologe Mögling als Missionar in Indien: Teilen macht reicher! Das können wir heute noch lernen, wenn wir in der Nachfolge Jesus wie Paulus und Herrmann Mögling Ernst machen mit der Weisung: "Euer Überfluß soll jetzt ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluß später eurem Mangel abhelfen kann und es zum Ausgleich kommt, wie geschrieben steht (2 Mose 16,18): "Wer viel sammelte, der hatte keinen Überfluß, und wer wenig sammelte, hatte keinen Mangel."

Amen

Dr. Karl W. Rennstich, Bismarckstr. 12, 72574 Bad Urach


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