Herr, erwecke deine Kirche, und fange bei mir an!
Herr, baue deine Gemeinde, und fange bei mir an!
Herr, laß Frieden überall auf Erden kommen, und fange bei
mir an!
Herr, bringe deine Liebe und Wahrheit zu allen Menschen, und fange bei
mir an!
So will, kann und muß ich beginnen und lesen, was als
Predigtwort für diesen Sonntag ausgesucht wurde. Denn als bloße
Moralpauke wäre mir dieser Bibelabschnitt widerlich, wirkungslos
und realitätsfremd. Doch worum geht es? Nun es geht um Mahnungen,
Hinweise und Lebensregeln aus dem Epheserbrief, und die lauten so: "Legt
den alten Menschen eures vergangenen Lebens ab, der durch seinen Hang
zur Lüge zugrunde geht. Neu werden sollt ihr vielmehr im Geist
eurer Gesinnung; den neuen Menschen sollt ihr anziehen, wie Gott ihn
geschaffen hat; in Gerechtigkeit und wahrer Reinheit. So legt die Lüge
ab und redet die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten. Sind wir
doch untereinander Glieder (eines Leibes)! - Zürnt ihr, so sündigt
nicht. Laßt die Sonne über eurem Zorn nicht untergehen. Und
gebt dem Teufel keinen Raum. - Der Dieb stehle nicht mehr - er arbeite
vielmehr, um mit seiner Hände Werk Gutes zu wirken, das er dem
zuwenden kann, der Hilfe braucht. - Keinerlei häßliches
Wort komme über eure Lippen, sondern nur gutes Wort, das
gebraucht wird, um aufzuerbauen, um den Hörern Gnade zukommen zu
lassen. Und betrübt den heiligen Geist Gottes nicht! Als euer
Siegel für den Tag der Erlösung habt ihr ihn empfangen. Alle
Bitterkeit, Wut, Zorn, Schreiben und lästerliches Reden und überhaupt
alles Böse bleibe euch fern. Seid vielmehr gütig zueinander,
habt ein Herz füreinander und vergebt euch, wie Gott in Christus
Jesus euch vergeben hat." (Übersetzung nach U. Wilckens).
Eine Konfirmandin schrieb einmal zu dem Stichwort "Nächstenliebe":
"Wenn alle Menschen so denken würden, gäbe es auf der
Welt weniger Elend, Not und Kriege." Ja, wenn...! Aber es ist
leider nicht so. Es ist zum Resignieren!
Doch nun meine ich, daß genau hier der Punkt ist, den wir
unter die Lupe nehmen müssen. "Wenn alle Menschen so denken
würden..." - warum ist es naiv, so zu denken, obwohl es so
edel klingt? Ach, weil es bloß der Traum vom Schlaraffenland
ist! Weil man das Böse in der Welt mit solchen logischen Sätzen
verkennt. Weil man dabei fast nur an den anderen denkt, der sich
bessern sollte. Weil logische Gedanken Gedanken der
Selbstgerechtigkeit sind.
Mit solchen frommen Wünschen und Träumen wird die Welt
nicht besser - es sei denn, ich fange bei mir selbst an. Auch wenn ich
mir keiner Schuld bewußt bin. Auch wenn ich ein gutes Gewissen
habe. Auch wenn ich mich für ziemlich anständig halte und
mein Leben geordnet ist. Ja, gerade wenn ich mich für ziemlich
gut halte, bin ich in der Gefahr, mich selbst zu belügen. Denn
die Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit ist der erste
Schritt in die Unwahrhaftigkeit. Und so haben nicht die Zöllner
und Sünder Jesus ans Kreuz gebracht, sondern die hochanständigen
Pharisäer. Niemand ist gut genug, daß er die Mahnung des
Apostels nicht brauchte: "Wer sich läßt dünken,
er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle."
Und so wollen wir einen Blick auf uns selbst werfen. Wer von uns trägt
das glänzende Festkleid des Glaubens? Meist tragen wir doch die
alten Lumpen des alten Menschen. Damit sind ja nicht nur die Übeltaten
gemeint, von denen die Zeitungen und Medien strotzen. Zu diesen alten
Lumpen gehören unsere Müdigkeit, unsere Gleichgültigkeit,
unsere Lebensangst, unsere geistliche Fruchtlosigkeit. Der alte Mensch
- das sind wir selbst immer wieder. Und so ist es an uns, daß
wir zuerst die Mahnungen des Apostels hören, und dann wird auch
unsere Welt ein klein wenig besser: "Zieht des neuen Menschen an,
wie Gott ihn geschaffen hat: in Gerechtigkeit und wahrer Reinheit!"
Das heißt doch: Bekommt das Gefühl für Qualitätsunterschiede!
Meint nicht, daß alles Menschliche schon menschlich ist! Da gibt
es in jedem Leben viel Untermenschliches und Unmenschliches abzulegen.
Das Ziel des Glaubens heißt: Mensch werden, neuer Mensch werden.
Und das Kennzeichen wahrer Menschlichkeit ist die Fähigkeit zum
Zusammenleben. "Wir sind doch untereinander Glieder eines Leibes!"
Menschtum - so verkündet es das Evangelium und Christentum -
Menschtum zeigt sich in der herzlichen Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten.
In der selbstsüchtigen Vereinzelung liegt die Wurzel des Bösen.
Und so hören wir nun die uralten und längst bekannten
Mahnungen, die aber nie veraltet und überholt sind: "Legt
die Lüge ab und redet die Wahrheit!" Zur Lüge gehören
alle Vorurteile und Befangenheiten. Dazu gehören auch die ewig
klagenden oder geifernden oder spitzzüngigen Reden. Auch Angst
oder Ehrsucht sind Urachen für Unwahrheit. Uns aber ist die
liebevolle und auferbauende Rede aufgetragen. "Laßt die
Sonne über euren Zorn nicht untergehen!" Ja, Zorn läßt
sich wohl nicht verhindern. Aber daß er sich eingräbt und
einnistet, das läßt sich verhindern. Und wenn sich der Zorn
einfrißt, dann deformiert er den Menschen. Und ein Zorn, der
sich in den Träumen festfrißt, kennt am Ende keine
Vergebung mehr und wird zur kalten Rache.
"Der Dieb stehle nicht mehr - er arbeite vielmehr, um mit
seiner Hände Werk Gutes zu wirken!" Von dieser Mahnung
sollen sich auch alle Langweiler angesprochen fühlen, denn vor
Gott ist so manches Diebstahl, was für uns wie gute Ordnung
aussieht. Der alte Kirchenvater Basilius, der um 350 nach Christus
lebte, schrieb einmal: "Wer ein Kleidungsstück wegnimmt,
wird Dieb genannt. Wer aber den Nackten nicht kleidet, obwohl er es könnte,
verdient der eine andere Bezeichnung? Dem Hungernden gehört das
Brot, das du zurückhälst, dem Nackten das Gewand, das du im
Schrank aufbewahrst, und der Schuh, der bei dir verschimmelt, dem Bedürftigen
das Geld, das du sicher aufbewahrst." Schärfer kann man es
wohl kaum sagen. Was nicht zum Gemeinnutz da ist, ist Diebstahl.
"Keinerlei häßliches Wort komme über eure
Lippen!" Und doch - wie oft reißen wir nieder durch
Boshaftigkeit, Schadenfreude oder Ironie, statt aufzubauen. Wie oft
ist auch unsere Zunge Ursprung des Übels.
"Betrübt den heiligen Geist Gottes nicht! Als Siegel für
den Tag der Erlösung habt ihr ihn empfangen." Wir haben also
den heiligen Geist. Wir besitzen das höchste Geschenk der
Menschheit. Wir haben das Bewußtsein von der menschlichen
Vollkommenheit. Wir kennen Gottes Frieden. Heiliger Geist - das ist
Christus in uns. Aber wir - wir verleugnen ihn immer wieder, täglich
und stündlich. Und doch ist er unsere alleinige Kraftquelle.
"Alle Bitterkeit, Wort, Zorn, Schreien und lästerliche
Reden und überhaupt alles Böse bleibe euch fern. Seid
vielmehr gütig zueinander, habt ein Herz füreinander und
vergebt euch, wie Gott in Christus Jesus euch vergeben hat!" Das
ist der neue Mensch. Das ist überhaupt erst ein Mensch - der
Hingebungsvolle, der Großzügige, der Opferbereite, der
Weitherzige. Christus ist auf die Welt gekommen, um den Menschen
menschliche Züge zu verleihen. Und so wollen wir in tiefer
Dankbarkeit diese Ermahnungen hören und beherzigen. Und weil es
nicht anders geht, wollen wir beten:
"Herr, erwecke deine Kirche, und fange bei mir an!
Herr, baue deine Gemeinde, und fange bei mir an!
Herr, laß Frieden überall auf Erden kommen, und fange bei
mir an!
Herr, bringe deine Liebe und Wahrheit zu allen Menschen, und fange bei
mir an!" Dir sei Lob in Ewigkeit!
Amen
Ulrich Wiesjahn, Goslar |
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