Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 19. Sonntag n. Trinitatis
Datum: 18.10.1998
Text: Epheser 4,22-32
Verfasser: Ulrich Wiesjahn

Liedvorschläge (hier klicken)

Herr, erwecke deine Kirche, und fange bei mir an!
Herr, baue deine Gemeinde, und fange bei mir an!
Herr, laß Frieden überall auf Erden kommen, und fange bei mir an!
Herr, bringe deine Liebe und Wahrheit zu allen Menschen, und fange bei mir an!

So will, kann und muß ich beginnen und lesen, was als Predigtwort für diesen Sonntag ausgesucht wurde. Denn als bloße Moralpauke wäre mir dieser Bibelabschnitt widerlich, wirkungslos und realitätsfremd. Doch worum geht es? Nun es geht um Mahnungen, Hinweise und Lebensregeln aus dem Epheserbrief, und die lauten so: "Legt den alten Menschen eures vergangenen Lebens ab, der durch seinen Hang zur Lüge zugrunde geht. Neu werden sollt ihr vielmehr im Geist eurer Gesinnung; den neuen Menschen sollt ihr anziehen, wie Gott ihn geschaffen hat; in Gerechtigkeit und wahrer Reinheit. So legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten. Sind wir doch untereinander Glieder (eines Leibes)! - Zürnt ihr, so sündigt nicht. Laßt die Sonne über eurem Zorn nicht untergehen. Und gebt dem Teufel keinen Raum. - Der Dieb stehle nicht mehr - er arbeite vielmehr, um mit seiner Hände Werk Gutes zu wirken, das er dem zuwenden kann, der Hilfe braucht. - Keinerlei häßliches Wort komme über eure Lippen, sondern nur gutes Wort, das gebraucht wird, um aufzuerbauen, um den Hörern Gnade zukommen zu lassen. Und betrübt den heiligen Geist Gottes nicht! Als euer Siegel für den Tag der Erlösung habt ihr ihn empfangen. Alle Bitterkeit, Wut, Zorn, Schreiben und lästerliches Reden und überhaupt alles Böse bleibe euch fern. Seid vielmehr gütig zueinander, habt ein Herz füreinander und vergebt euch, wie Gott in Christus Jesus euch vergeben hat." (Übersetzung nach U. Wilckens).

Eine Konfirmandin schrieb einmal zu dem Stichwort "Nächstenliebe": "Wenn alle Menschen so denken würden, gäbe es auf der Welt weniger Elend, Not und Kriege." Ja, wenn...! Aber es ist leider nicht so. Es ist zum Resignieren!

Doch nun meine ich, daß genau hier der Punkt ist, den wir unter die Lupe nehmen müssen. "Wenn alle Menschen so denken würden..." - warum ist es naiv, so zu denken, obwohl es so edel klingt? Ach, weil es bloß der Traum vom Schlaraffenland ist! Weil man das Böse in der Welt mit solchen logischen Sätzen verkennt. Weil man dabei fast nur an den anderen denkt, der sich bessern sollte. Weil logische Gedanken Gedanken der Selbstgerechtigkeit sind.

Mit solchen frommen Wünschen und Träumen wird die Welt nicht besser - es sei denn, ich fange bei mir selbst an. Auch wenn ich mir keiner Schuld bewußt bin. Auch wenn ich ein gutes Gewissen habe. Auch wenn ich mich für ziemlich anständig halte und mein Leben geordnet ist. Ja, gerade wenn ich mich für ziemlich gut halte, bin ich in der Gefahr, mich selbst zu belügen. Denn die Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit ist der erste Schritt in die Unwahrhaftigkeit. Und so haben nicht die Zöllner und Sünder Jesus ans Kreuz gebracht, sondern die hochanständigen Pharisäer. Niemand ist gut genug, daß er die Mahnung des Apostels nicht brauchte: "Wer sich läßt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle."

Und so wollen wir einen Blick auf uns selbst werfen. Wer von uns trägt das glänzende Festkleid des Glaubens? Meist tragen wir doch die alten Lumpen des alten Menschen. Damit sind ja nicht nur die Übeltaten gemeint, von denen die Zeitungen und Medien strotzen. Zu diesen alten Lumpen gehören unsere Müdigkeit, unsere Gleichgültigkeit, unsere Lebensangst, unsere geistliche Fruchtlosigkeit. Der alte Mensch - das sind wir selbst immer wieder. Und so ist es an uns, daß wir zuerst die Mahnungen des Apostels hören, und dann wird auch unsere Welt ein klein wenig besser: "Zieht des neuen Menschen an, wie Gott ihn geschaffen hat: in Gerechtigkeit und wahrer Reinheit!" Das heißt doch: Bekommt das Gefühl für Qualitätsunterschiede! Meint nicht, daß alles Menschliche schon menschlich ist! Da gibt es in jedem Leben viel Untermenschliches und Unmenschliches abzulegen. Das Ziel des Glaubens heißt: Mensch werden, neuer Mensch werden. Und das Kennzeichen wahrer Menschlichkeit ist die Fähigkeit zum Zusammenleben. "Wir sind doch untereinander Glieder eines Leibes!" Menschtum - so verkündet es das Evangelium und Christentum - Menschtum zeigt sich in der herzlichen Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten. In der selbstsüchtigen Vereinzelung liegt die Wurzel des Bösen.

Und so hören wir nun die uralten und längst bekannten Mahnungen, die aber nie veraltet und überholt sind: "Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit!" Zur Lüge gehören alle Vorurteile und Befangenheiten. Dazu gehören auch die ewig klagenden oder geifernden oder spitzzüngigen Reden. Auch Angst oder Ehrsucht sind Urachen für Unwahrheit. Uns aber ist die liebevolle und auferbauende Rede aufgetragen. "Laßt die Sonne über euren Zorn nicht untergehen!" Ja, Zorn läßt sich wohl nicht verhindern. Aber daß er sich eingräbt und einnistet, das läßt sich verhindern. Und wenn sich der Zorn einfrißt, dann deformiert er den Menschen. Und ein Zorn, der sich in den Träumen festfrißt, kennt am Ende keine Vergebung mehr und wird zur kalten Rache.

"Der Dieb stehle nicht mehr - er arbeite vielmehr, um mit seiner Hände Werk Gutes zu wirken!" Von dieser Mahnung sollen sich auch alle Langweiler angesprochen fühlen, denn vor Gott ist so manches Diebstahl, was für uns wie gute Ordnung aussieht. Der alte Kirchenvater Basilius, der um 350 nach Christus lebte, schrieb einmal: "Wer ein Kleidungsstück wegnimmt, wird Dieb genannt. Wer aber den Nackten nicht kleidet, obwohl er es könnte, verdient der eine andere Bezeichnung? Dem Hungernden gehört das Brot, das du zurückhälst, dem Nackten das Gewand, das du im Schrank aufbewahrst, und der Schuh, der bei dir verschimmelt, dem Bedürftigen das Geld, das du sicher aufbewahrst." Schärfer kann man es wohl kaum sagen. Was nicht zum Gemeinnutz da ist, ist Diebstahl.

"Keinerlei häßliches Wort komme über eure Lippen!" Und doch - wie oft reißen wir nieder durch Boshaftigkeit, Schadenfreude oder Ironie, statt aufzubauen. Wie oft ist auch unsere Zunge Ursprung des Übels.

"Betrübt den heiligen Geist Gottes nicht! Als Siegel für den Tag der Erlösung habt ihr ihn empfangen." Wir haben also den heiligen Geist. Wir besitzen das höchste Geschenk der Menschheit. Wir haben das Bewußtsein von der menschlichen Vollkommenheit. Wir kennen Gottes Frieden. Heiliger Geist - das ist Christus in uns. Aber wir - wir verleugnen ihn immer wieder, täglich und stündlich. Und doch ist er unsere alleinige Kraftquelle.

"Alle Bitterkeit, Wort, Zorn, Schreien und lästerliche Reden und überhaupt alles Böse bleibe euch fern. Seid vielmehr gütig zueinander, habt ein Herz füreinander und vergebt euch, wie Gott in Christus Jesus euch vergeben hat!" Das ist der neue Mensch. Das ist überhaupt erst ein Mensch - der Hingebungsvolle, der Großzügige, der Opferbereite, der Weitherzige. Christus ist auf die Welt gekommen, um den Menschen menschliche Züge zu verleihen. Und so wollen wir in tiefer Dankbarkeit diese Ermahnungen hören und beherzigen. Und weil es nicht anders geht, wollen wir beten:

"Herr, erwecke deine Kirche, und fange bei mir an!
Herr, baue deine Gemeinde, und fange bei mir an!
Herr, laß Frieden überall auf Erden kommen, und fange bei mir an!
Herr, bringe deine Liebe und Wahrheit zu allen Menschen, und fange bei mir an!" Dir sei Lob in Ewigkeit!

Amen

Ulrich Wiesjahn, Goslar

Liedvorschläge aus: Gottesdienst - Arbeitshilfe zur Erneuerten Agende, 5. Lieferung, 11. Jg., hrsg. von der Liturgischen Konferenz Niedersachsens e.V., Tel.: 0511-1241-486:
EG 130 (O heilger Geist, kehr bei uns ein)
EG 133 (Zieh ein zu deinen Toren)
EG 171 (Bewahre uns Gott)
EG 293 (Lobt Gott den Herrn, ihr Heiden all)
EG 325, 1.3.5. (Sollt ich meinem Gott nicht singen)
EG 383 (Herr, du hast mich angerührt)
EG 390 (Erneure mich, o ewigs Licht)
EG 404 (Herr Jesu, Gnadensonne)
Liederbuch für die Jugend (LfJ:) Herr, wir bitten, komm und segne uns
LfJ: Wir haben Gottes Spuren festgestellt
LfJ: Ich will bei euch wohnen
LfJ: Alle Knospen springen auf.


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