Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
Datum: 8.11.1998
Text: Römer 14,7-9
Verfasser: Eckhard Gorka

Liedvorschläge (hier klicken)

Liebe Gemeinde,

"Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei."

Die Zeilen aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom klingen wie ein Macht- oder Schlußwort. Es sind jedoch Sätze von jemandem, der sich bevollmächtigt fühlt, sich selbst und seine Gemeinde an den Schauplatz unseres Lebens und Sterbens zu erinnern. Er sagt: Unser Leben und unser Sterben, unser Erleben und unser Erleiden ereignen sich vor dem Angesicht Christi. Vor dem Angesicht des Herrn, der gestorben und wieder lebendig geworden und alle Tage, ja selbst über unseren letzten Tag hinaus unser Herr ist.

In der Gemeinde in Rom gab es Streit um Speise- und Feiertagsregeln. Mit der Folge, daß sich einige für stark und andere für schwach hielten. Nach sachlichen Hinweisen geht Paulus unvermittelt auf weite Distanz zu dem Konflikt und schreibt die Worte, die wir eben gehört haben.

Die liturgische Tradition unserer Kirche hat sie unter die Texte eingereiht, die am offenen Grab gelesen werden. Sie sollen trösten, sie sollen das Erlebnis des Verlustes in den Horizont der Verheißung Christi stellen: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Nach der Taufe und den Segenshandlungen im Leben versichert sich die christliche Gemeinde auch am Grab der bleibenden Gegenwart Christi für Lebende und Tote. Häufig reagieren Familienangehörige, Verwandte und Freunde auf diese trotzigen Sätze mit Tränen der Trauer.

Wir erleben in Trauergesprächen und auf dem Friedhof aber auch andere Szenen: Daß niemand weint. Daß das Ende aller Beziehungen unter Lebenden nicht als Verlust empfunden wird. Daß der Tod eines Menschen niemanden traurig zurückläßt und nur das Pflegepersonal des Altenheims weint und damit die Angehörigen eher peinlich berührt.

Gegen alle kirchlich zitierten oder beschworenen Bindungen gibt es das eben doch: Daß Menschen sich selbst leben und allein sterben. Daß Menschen trotz Betriebsamkeit und Das-wird-schon-wieder-Zuwendung einsam leben und sterben. Daß wir einander Leben verweigern. Teilnahme und Teilhabe streitig machen. Als Starke die Schwachen belächeln oder als Schwache die Starken angreifen.

Gegen jedes kirchliche Wunschdenken gibt es eben auch den Freiheitswunsch, nichts und niemandem untertan zu sein. Unbefangen erst einmal "ich" zu sagen, weil das "wir", weil die Gemeinschaft, die Bindungen und Beziehungen anstrengend sind. Man kann das als gesunde Emanzipation begrüßen oder als kranke Bindungsunwilligkeit brandmarken, wir müssen diese Haltung in jedem Fall zur Kenntnis nehmen. In der Häufigkeitsverteilung sind die "Ich"-Sager ohnehin auf dem Vormarsch. Und niemand soll so vermessen sein, damit immer nur andere Menschen zu meinen. Wir selbst stecken tief mit in dieser Orientierungskrise.

Wir sind es nicht gewohnt, die Sinnfrage zu stellen. Und wir sind es schon gar nicht gewohnt, sie uns von anderen beantworten, also vorschreiben zu lassen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat 1997 ihre Mitglieder befragt. Eine Frage lautete: "Wie denken Sie über den Sinn des Lebens?" Die meiste Zustimmung erhielt sowohl bei Kirchenmitgliedern wie auch bei konfessionslosen Menschen in West- und Ostdeutschland die Antwort: "Das Leben hat nur dann einen Sinn, wenn man ihm selbst einen gibt."

Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn? Das war und ist schon innerhalb der christlichen Gemeinde fremd und strittig. Diese Eigentumserklärung reibt sich an unserem Freiheitsdrang und Freiheitsverständnis, wir erleben sie zunächst als einengend und belastend.

Der Frankfurter Pfarrer Lothar Zenetti hat Ende der 70er Jahre ein Gedicht mit dem Titel "Die Freiheit" veröffentlicht. Es beginnt so:

Sie waren es leid,
abhängig zu sein,
die in ihren Schiffen,
zum Beispiel vom Wind,
der weht wo er will.

So haben sie die Segel eingeholt,
die Masten gekappt,
die Tücher zerrissen.
Frei wollten sie sein.

Auch die Ruder haben sie
über Bord geworfen, den
Steuermann mit seinen Ratschlägen,
den Kompaß und sämtliche Geräte,
die sie bedienen mußten.
Frei wollten sie sein.

Niemandem untertan, keinem Kurs,
keiner Himmelsrichtung verpflichtet,
keinem Land zugehörig,
kein Hafen als Ziel. Frei.

Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.

Was Paulus der Gemeinde in Rom und allen Christen sagt, das liegt quer zu unseren Erfahrungen und Wünschen. Frei wollen wir sein, niemandem untertan. Und Paulus beharrt: Seit Christus sich an die Existenz des Menschen und über die Existenz des Menschen hinaus an uns gebunden hat, sind wir sein Eigentum. Eigentum dessen, der von seinen Jüngern an seinen Nägelmalen wiedererkannt wird. Zu dem sie wieder "Herr" sagen. Der sie als Boten und Zeugen der Auferstehung in die Welt sendet mit dieser Besitzzusage. Was auch immer wir zu verlieren haben, wem auch immer wir etwas schuldig bleiben: Diese Besitzanzeige ist unverlierbar. Paulus weiß: Hier geht es nicht um den Bruder Jesus, den guten Menschen aus Nazareth, den jüdischen Wanderprediger, hier geht es um die Herrschaft Christi. Wir gehören zu ihm im Leben und im Sterben und über den Tod hinaus. Unser Leben ereignet sich im Angesicht des Gekreuzigten und Auferstandenen. Da gibt es keine "Freihandelszone".

Wenig später spitzt Paulus diese Nachricht noch einmal zu: "Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden." Dort wird der tägliche Kleinkrieg zur Erlangung immer größerer Freiheiten kaum noch eine Rolle spielen. Dort wir es ernst. Dort werden wir nicht nach Speise- oder Feiertagsgeboten gefragt.

Irgendwann werden wir nicht danach gefragt, was wir getan oder unterlassen haben, sondern wem wir vertraut, wem wir geglaubt haben.

Wir sind des Herrn Eigentum, Schatz, Kostbarkeit - bedenkt das.
Das Gedicht von Lothar Zenetti geht so weiter:

Auch die Erinnerungen
warfen sie über Bord
und den Glauben.
Nun trieben sie endlich dahin,
unabhängig und orientierungslos.

Das Datum des heutigen Sonntages weist auf ein Ereignis hin, das unmittelbar mit Erinnerungs- und Geschichtslosigkeit und deren menschenverachtenden Folgen zu tun hat. Morgen wird im ganzen Land und in vielen Gottesdiensten an die 60. Wiederkehr der Reichspogromnacht im Jahr 1938 gedacht. Wir erinnern uns an die Schattenseite der Selbstbestimmungsbemühungen eines ganzen Volkes. Eines? Unseres Volkes. Staatsterror brachte jüdischen Mitbürgern in dieser Nacht den Tod, eine Verhaftungs- und Deportationswelle beraubte sie ihrer Rechte, Synagogen gingen in Flammen auf, Geschäfte zu Bruch, der Rückfall in die Barbarei schritt fort. Das ist und bleibt eine Anfrage an den Glauben.

Glaube ist ein Beziehungsereignis. Ist die Beziehung gestört oder gar zerstört, kann Erinnerungsarbeit ein Wall sein, Entwürdigung zu verhindern. 1938, in den Jahren vorher und nachher, hat dieser Wall nicht gehalten, waren gemeinsame Lebensgrundlagen außer Kraft gesetzt und über Bord geworfen. Wir erschrecken angesichts der Folgen menschlichen Größenwahns für die Opfer und ihre Angehörigen. Und wir schämen uns. Wir schämen uns auch des Unglaubens, der von uns Besitz ergreift.

Auch die Erinnerungen
warfen sie über Bord
und den Glauben.

Er mag uns sperrig erscheinen, anstößig, schwer zu verstehen und anderen schwer weiterzusagen, aber wir brauchen diesen Einspruch des Paulus und noch mehr die Besitzanzeige durch Christus. Unser Leben ereignet sich in Angesicht des Auferstandenen. Wir gehören ihm. Sein Besitzanspruch auf uns bewahrt uns vor einem freundlich distanzierten Nebeneinander und macht uns frei, miteinander zu leben: Bei allen Unterschieden gemeinsam Zeugen des Auferstandenen zu sein.

Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei.

Die Bootsmannschaft in Lothar Zenettis Gedicht erfährt es so:

Auch die Erinnerungen
warfen sie über Bord
und den Glauben.
Nun trieben sie endlich dahin,
unabhängig und orientierungslos.

Aber immer noch trug sie
das Wasser.
Daß sie das nicht bedachten!?

Amen


Liedvorschläge aus: Gottesdienst - Arbeitshilfe zur Erneuerten Agende, 5. Lieferung, 11. Jg., hrsg. von der Liturgischen Konferenz Niedersachsens e.V., Tel.: 0511-1241-486:

EG 283, 1-3.5-7 (Herr, der du vormals hast dein Land
EG 154, 1+4 (Herr, mach uns stark)
EG 195, 1-2 (Allein auf Gottes Wort)
EG 516, 1-3+7 (Christus, der ist mein Leben)
EG 526, 1+2+7 (Jesus, meine Zuversicht)

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