Göttinger
Predigten im Internet,
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
Sonntag:
1. Sonntag im Kirchenjahr, 1. Advent
Datum:
29.11.1998
Text:
Jeremia 23, 5-8
Verfasser: Jörg Baur
5Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, daß ich dem
David einen gerechten Sproß erwecken will. Der soll ein König
sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande
üben wird.
6Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher
wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen
wird: "Der HERR unsere Gerechtigkeit".
7Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, daß man
nicht mehr sagen wird: "So wahr der Herr lebt, der die
Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!",
8sondern: "So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des
Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande
des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen
hatte." Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.
Liebe Gemeinde.
Zukunftsmusik am Ende des Jahres, am Ende dieses Jahrhunderts. Ob
wir darauf eingestimmt sind? Ob wir in diesen winterkalten
Novembertagen mit der Ankündigung einer kommenden Zeit (V. 5 u.
7), von Tagen, die kommen werden, etwas anfangen können? Fängt
überhaupt in dem Leben, das wir kennen, ein wirklich Neues an?
Geht nicht alles seinen gewohnten Gang? Verläuft unser
persönlicher Weg nicht unabänderlich auf der Einbahnstraße von
der Geburt zum Sterben, wenn es gut geht, zwar mit Höhepunkten
des Glücks und des Gelingens, aber eben auch mit schlimmen
Tiefpunkten, mit Verlusten, Niederlagen und Versagen? Und
dazwischen und weithin die reichlich banalen Strecken unseres
alltäglichen Treibens und Getriebenwerdens. Auf dieser
Einbahnstraße fahren wir alle. Unterwegs ereignet sich vieles,
aber mit einer Zeit, die wirklich anders wäre, kann im Ernst
niemand rechnen.
Das gilt erst recht, wenn wir über den schmalen Tellerrand
unserer privaten Angelegenheiten, unserer persönlichen
Erlebnisse, Freuden und Sorgen hinaussehen. Sicher, wir werden
mit rasanten Veränderungen konfrontiert; Berufe, die gestern
noch gebraucht wurden, sind heute und vollends morgen ohne
Chance. Wer meint, er könne mit dem, was er einmal gelernt hat,
im Konkurrenzkampf bestehen, kommt nicht mehr weit. Wer in
Politik und Gesellschaft mit den alten Rezepten hantiert, steht
bald im Abseits. Nur, so unausweichlich der Zwang zur
Modernisierung, zur Anpassung an die weltweiten Veränderungen
auch ist, ein wirklich Neues, ein erfreuliches und
menschenfreundliches Neues bringt er uns nicht. Eine
Viertelstunde vor den Fernsehnachrichten, eine einzige
Zeitungslektüre genügt, um uns darüber aufzuklären. Von einer
"neuen Weltordnung" auch nicht die Spur! Der
"dicke Prügel", von dem ein US-Präsident vor 100
Jahren sprach, regiert noch immer zwischen den Völkern und
Staaten; einzig die mediengerechte Verpackung wurde verbessert.
Doch halt! Sind wir mit diesen Hinweisen und Einwänden nicht auf
ein verkehrtes Gleis geraten? Heute ist doch der 1. Advent, kein
allgemeiner Besinnungstag über den Gang der Zeit. Unser
Predigtwort stammt nicht aus dem Prediger Salomo, wo zu lesen
ist: "es geschieht nichts Neues unter der Sonne" (1,9).
Wir haben jetzt auf die prophetische Stimme Jeremias, nein, auf
den Ruf Gottes selbst zu hören, auf die Worte des Gottes, der
seinem erwählten Volk seinen heiligen Namen offenbart hat. Er,
der HERR, er ergreift das Wort. Er wirkt nicht als
namenlos-geheimnisvolle Übermacht. Er spricht, und er kündigt
an, was er tun wird.
Dabei werden wir heute am 1. Advent festgehalten. Dahin wird
unser Blick gezogen. Wir sollen jetzt nicht über die
Einbahnstraße unserer Lebensfahrt meditieren, uns soll auch
nicht im Kreisverkehr der Menschheitsgeschichte mit ihrer
Wiederkehr des Selben unter wechselnden Kostümen schwindlig
werden. Wir bekommen zu hören, was der Gott des ersten
Gottesvolkes ankündigt; er will uns an diesem Tag mit seiner
Stimme erreichen, damit wir seine Ankunft, sein Kommen erfahren,
neu und gründlicher als bisher. Darum werden wir jetzt nicht in
eine besinnlich-verträumte Adventsstimmung versetzt, sondern vom
Willen des HERRN ergriffen, von der Ansage seines Tuns.
Doch wir müssen noch einmal anhalten, denn diese Ankündigung
des göttlichen Willens, diese Ansage seines Tuns spricht ja
überhaupt nicht von uns. Sie richtet sich an das erste
Gottesvolk, an Juda und Israel. Ihnen gilt die Zusage. Von David
ist die Rede, nicht von einer großen Gestalt unserer eigenen
Geschichte. Ihm wird der HERR einen "Sproß", einen
Nachkommen, "erwecken" (V. 5). Dieser uns ganz fremde
und andere Herrscher wird "wohl regieren" (V. 5). Seine
Sache ist es, "Recht und Gerechtigkeit im Lande" zu
"üben" (V. 5). Nicht von Hilfe überhaupt für
Bedrängte und Unglückliche ist die Rede. "Juda soll
geholfen werden und Israel sicher wohnen" (V. 6).
Aber, wenn hier v o n u n s überhaupt nicht gesprochen wird, wie
können wir dann sagen, daß dies alles trotzdem z u u n s gesagt
wird, uns heute gilt und uns meint?
Liebe Gemeinde, wir treffen hier auf den Nerv der einstigen und
der gegenwärtigen Feindschaft gegen die Juden, auf den Nerv des
Ärgers und des Anstoßes an ihren heiligen Schriften: Sie und
nicht wir, auch kein anderes Volk sonst auf der Welt, sie sind
Gottes erste Liebe. Liebenswert und attraktiv war an ihnen
nichts; "das kleinste" und geringste "unter allen
Völkern" (5. Mose 7,7) hat "er geliebt" (7,8).
Und an dieser Liebe hält der erwählende und liebende HERR gegen
alles Versagen, alle Verweigerung, allen Widerspruch und
Ungehorsam der unwürdigen Geliebten, dieses Volkes, fest. Die
ganze Skandalgeschichte des erwählten Volkes, die in seinen
heiligen Schriften aufgezeichnet ist, dokumentiert dieses Eine:
Gott hält an seiner ersten Liebe fest, nicht, weil ihn die
antwortende Liebe der Geliebten dazu bewegen würde, sondern nur
darum, weil er sich ihrer erbarmt (Hosea 11, 8. u. 9). Und wieder
stoßen wir auf den Nerv des Anstoßes und Ärgers an der
Judenheit. An ihrer Geschichte wird uns und allen auf ihre eigene
Würde und Wertigkeit ausgerichteten Völkern, Gruppen und
Kulturen vor Augen gestellt, was allein vor dem einen und wahren
Gott, vor dem HERRN, gilt: seine Zuwendung, seine Hilfe, seine
schöpferische und rettende Gerechtigkeit (V. 6).
So werden wir heute in die Adventszeit eingeführt: Uns wird vor
Augen gestellt und ins Herz eingeschrieben, wie der HERR, der
durch Christus auch uns aus den anderen Völkern zum Vater
geworden ist, wie der Gott des ersten Bundes sein Volk in die
Erwartung auf sein Kommen eingewiesen hat: nicht einfach durch
die Ankündigung besserer Zeiten, eines gerechten Herrschers und
guter Lebensbedingungen. Davon haben auch andere Völker und
Religionen geträumt, diese Hoffnung hat noch die politischen und
technischen Utopien der modernen Zeit erfüllt - in Abwandlungen
und ohne Herrscher von Karl Marx bis Jules Verne.
Die Erwartung, in die das erste Gottesvolk versetzt wird, sieht
völlig anders aus: Sie stößt unter eine ungeheure Zumutung und
verschafft zugleich eine unendliche Befreiung. Dem geschundenen
und verknechteten Volk wird ein gerechter, ein rechter, seines
Amtes würdiger Herrscher und König zugesagt. Aber es heißt
eben nicht: der wird an die Macht kommen. Das prophetische
Gotteswort heißt: Ich, Der HERR, ich will ihn erwecken,
aufrichten und einsetzen. Die Geschlechterfolge von David her
wird ihn nicht durch kluge Zuchtwahl hervorbringen. Dieser
"Sproß" (V. 5.) und Nachkomme wird nicht das Ergebnis
einer günstigen Kombination der Gene, nicht das Resultat
glücklicher Umstände sein. Allein mein göttlicher Wille wird
ihn hervorbringen. Niemand und nichts kann das sonst zuwege
bringen. Aber er, den ich euch zusage, er wird "Recht und
Gerechtigkeit im Lande üben" (V. 5). Und wieder sollten wir
genau hinhören. Das prophetische Gotteswort kündigt nicht
einfach ein besseres politisches System an, ohne brutale Gewalt,
ohne korrupte Beamte, ohne Rechtsbrüche der Justiz, angesagt
wird nicht einfach eine neue Ordnung der Gesellschaft, in der
nicht länger Geld vor Recht geht, in der die kleinen Leute
endlich auch zu Ansehen und Geltung kommen. Angesagt und
verheißen wird all dies nur so, daß das eine eingeschärft, ja,
eingebrannt wird: Er, der "Sproß", den ich euch geben
werde, er wird und soll es tun. Das eröffnet nicht pauschal und
allgemein eine ermutigende Zukunftsperspektive. Den Angeredeten
wird vielmehr zugemutet: Ihr seid es nicht, die diese Erneuerung
und Wende zustande bringen. Ich, ich allein will es tun, tun
durch den Einen, den ich "erwecken will".
Dann, und nur dann, "zu seiner Zeit" (V. 6) wird Hilfe
kommen. "Juda soll geholfen werden" (V. 6), denn es
kann und braucht sich nicht selbst zu helfen. "Und
Israel" wird "sicher wohnen" (V. 6). Wir erfahren
mit keinem Wort, wie es dazu kommen soll, wie diese Sicherheit
eines friedlichen, angstfreien Wohnens denn praktisch
verwirklicht werden wird. Die Angeredeten bekommen nur die
Zusage, zu seiner, des erweckten Nachkommens, Zeit wird es so
sein. Und wieder spüren wir die Zumutung, die das erste
Gottesvolk traf, die Zumutung, nicht länger auf die eigenen
Sicherungen und Sicherheiten zu vertrauen.
Aber wird dann wenigstens von diesem angekündigten König ein
strahlendes und begeisterndes Bild gezeichnet? Klingt Marschmusik
auf? Hören wir ein patriotisches "Heil dir im
Siegerkranz"? Nichts von alledem. Sein Name ist gar kein
richtiger Eigenname, der diesen Herrscher in seiner
unvergleichbaren Eigenart und zugleich als Glied in einer großen
und ehrwürdigen Familientradition auszeichnen würde. Dieser
Eine, an den Recht und Gerechtigkeit, Hilfe und Sicherheit für
das Gottesvolk gebunden werden, ist an und für sich gar nichts.
Sein Name heißt: "Der HERR unsere Gerechtigkeit" (V.
6). Wichtig und gewichtig ist nicht einmal dieser angekündigte
gerechte König. Allein von Belang und Gewicht ist der Name, die
Kraft und Herrlichkeit des Gottes, der ihn ankündigt und
verheißt. Dieser Wille, diese brennende Gottesliebe, sie sind
der Grund und die Kraft, die Geltung und der Rang dieses
zugesagten Herrschers; und dies nicht so, daß er seine Würde
für sich selbst hätte. Der HERR ist nicht seine eigene, sie
ist, so wird klargestellt, "unsere", seines Volkes,
"Gerechtigkeit". Er ist nicht nur völlig auf den Gott
geworfen, der ihn "erweckt"; er ist auch und zugleich
ganz und ausschließlich für die anderen, für sein Volk da.
Ihre Gerechtigkeit, ihr ganzes und heiles Leben ist er; nein,
nicht dieser Herrscher, sondern der HERR. Aber an ihm, an dieser
für sich namenlosen Gestalt, geht es dem Gottesvolk auf,
erfährt es zu seinem unbändigen Staunen: Wir sind nicht gerecht
durch unser Tun und Lassen. Wir sind mit uns und dem wahren Leben
nur so in Übereinstimmung, wir werden dem erwählenden und
liebenden Willen nur so gerecht, sind nur so und dann mit ihm in
Übereinstimmung, wenn und weil der HERR unsere Gerechtigkeit
ist.
Liebe Gemeinde, das ist das Evangelium dieses prophetischen
Gotteswortes; dieses befreiende Wort hat die Zeit der Erwartung
des ersten Gottesvolkes erhellt und durchstrahlt. Vor diesem
Licht mußte damals die Erinnerung an die erste Befreiungstat des
erwählenden Gottes, die Ausführung aus der Knechtschaft in
Ägypten, weichen und vergehen. Daran soll und braucht nicht mehr
erinnert zu werden. Das Gelöbnis zur anfänglichen Treue
"wird man nicht mehr sagen" (V. 7), nicht mehr
aussprechen, nicht länger bekennen. Ein neues Wort der
Erinnerung und des Dankes für die Sammlung "des Hauses
Israel" (V. 8) wird das alte Gedenken ablösen. So
beweglich, so unterwegs zu neuer Hilfe ist der Gott, der am
verheißenen König erfahren läßt: 'Er ist unsere
Gerechtigkeit'.
Doch noch bleibt uns ein letztes Zögern. Wie kommen wir von der
Erwartung des ersten Gottesvolkes, von der Ansage des Namens
dieses unbekannten Verheißenen in die neue Zeit der Ankunft Jesu
Christ, in seinen Advent? Ansprüche kann hier niemand geltend
machten. Bei allem, was dieses prophetische Gotteswort
ankündigte, war zuerst einmal nicht von uns die Rede. Und doch
steht uns heute nicht ein fernes Bild aus der Gottesgeschichte
Israels vor Augen, denn die bewegliche und aktive Liebe des
HERRN, der "dem David einen gerechten Sproß" zu
"erwecken" verheißen hat, ist - weit über die
Erwartung auch seines ersten geliebten Volkes hinaus - nicht
stumm und tatenlos geblieben. Dafür steht uns der Eine gut, den
bei seinem Einzug in Jerusalem der Ruf begleitete: "Hosianna
dem Sohn Davids!" (Mt 21, 9). Er "kommt" nicht nur
"in dem Namen des Herrn" (ebd.). Er kommt zur Sammlung
des neuen Gottesvolkes aus allen Völkern, damit auch für uns
wahr wird, was den "Juden zuerst" (Röm 1,16) zugesagt
wurde: "Der HERR unserer Gerechtigkeit".
Dies zu wissen, hilft noch keinem; darauf neu zu vertrauen, das
wäre wohl das eine Licht, das uns am 1. Advent aufgehen soll.
Damit es beim "wäre" und beim "soll" nicht
bleibt, sind wir jetzt in diesem Gottesdienst beisammen.
Amen.
(gehalten in der Versöhnungskirche in Stuttgart-Degerloch)
Prof. Dr. Jörg Baur, Reinkeweg 4, 37085 Göttingen
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