Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


1. Sonntag nach Weihnachten
Datum: 27.12.1998
Text: Matthäus 2, 13-16
Verfasser: Peter Kusenberg


Liebe Gemeinde,

über diesen Text von heute wird selten gepredigt, dennoch gehört er zu den geläufigsten Geschichten aus dem Neuen Testament. Die Flucht nach Ägypten, der Kindermord des Herodes, das ist sozusagen ein Klassiker, selbst denen ein Begriff, die sonst wenig mit der Bibel anfangen können. Eine Legende mit allen Zügen, um Hörer oder Leser zu fesseln und die Phantasie zu beflügeln. Bildende Künstler und Schriftsteller aller Zeiten haben sie ausgemalt.

Herodes der Große, Statthalter Roms in Jerusalem, weiß: Unruhe ist im Volk; das haben ihm seine Spione und Gewährsleute berichtet. Die vom Kaiser Augustus, dem Erhabenen, angeordnete Volkszählung weckt Furcht vor neuen Steuern und Abgaben. Die Stadt ist voller fremder Gesichter in diesen Tagen, wo jede Frau und jeder Mann zur Eintragung in die Heimatstadt beordert ist, um sich in die Listen eintragen zu lassen.

Und nun, so sagt man, seien auch noch drei vornehme Orientalen aufgetaucht, Gelehrte, die auf den Märkten nach einem neugeborenen König der Juden fragen. Herodes ist alarmiert. Er ist lange genug im Lande, um einiges von den Überlieferungen der Juden zu kennen. Ihre heiligen Schriften berichten von einem Herrscher, der kommen soll. Messias nennen sie ihn, und Wunderdinge werden von seiner Regentschaft erwartet.

Herodes wittert eine Bedrohung seiner Macht und handelt schnell. Unverzüglich läßt er die Fachleute rufen, den Hohen Rat und die Schriftgelehrten. Von ihnen will er Näheres wissen, und sie offenbaren ihm die Weissagung des Propheten Micha, nach der Israels Heiland aus Bethlehem in Judäa hervorgehen soll. Als nächstes läßt er die drei Magier aus dem Osten zu einer Geheimaudienz holen. Für sie setzt er die Maske des Diplomaten auf, zeigt sich interessiert an ihren Beobachtungen des Königssterns, und am Ende bittet er sie heuchlerisch um Nachricht, wenn ihre Suche Erfolg hat.

Doch zwei Visionen, zwei Traumgebilde durchkreuzen seinen hinterhältigen Plan. Die Sterndeuter und Josef empfangen unausgesprochene Botschaften. Die einen machen aus diesem Grund auf ihrem Rückweg einen Bogen um Jerusalem, und der andere flieht mit Frau und Kind nach Ägypten. Herodes merkt, daß sein Vorhaben gescheitert ist, die Staatsaffäre mit einer kleinen, unauffälligen Operation zu lösen, und er gibt den Befehl zum Massaker aller männlichen Kleinkinder rund um Bethlehem.

Liebe Gemeinde, ich halte diese Geschichte für ein Musterbeispiel dafür, wie rasch, kompromißlos und brutal Machthaber und Regenten aller Zeiten vorgehen, wenn sie ihre Herrschaft bedroht sehen. Schon weit mehr als tausend Jahre zuvor hatte Ägyptens Pharao befohlen, alle männlichen Nachkommen der Israeliten zu töten, weil er in ihrer wachsenden Zahl eine Gefahr sah. Das zweite Buch Mose berichtet davon. Und Beispiele aus unserer Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit kenne ich ebenfalls genug.

Immer geht es um das Erringen und Erhalten von Macht. Mögliche Konkurrenz, Feinde, Opposition müssen gefunden und beseitigt werden, bevor sie stark genug werden, um ihrerseits die Herrschaft an sich zu reißen. Manche sehen darin ein Naturgesetz: Fressen, um nicht gefressen zu werden. Zumindest die Theorie von der Entwicklung der Arten gibt ihnen recht. Die natürliche Auslese, durch die nur die Stärksten oder ihrem Lebensraum am besten Angepaßten überleben, hält den biologischen Fortschritt in Gang.

Aber ich frage mich: gilt das Recht des Stärkeren so auch für Menschen? "Der Krieg ist der Vater aller Dinge", schrieb einst einer im antiken Griechenland. "Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", war in unserem Jahrhundert zu hören. Doch – haben die Bomben auf Bagdad eine Lösung der politischen Probleme gebracht?

Zurück zu Herodes. Es kommt mir beinahe wie eine Ironie der Geschichte vor, daß er die wirkliche Gefahr, die ihm und all seinen in die Macht verliebten Nachfolgern von dem Kind in Bethlehem drohen sollte, gar nicht erkannte. Er fürchtete sich, dort werde ein Rivale heranwachsen, der ihn mit Heer und Schwert vom Thron stoßen könne. Bei näherer Betrachtung ist das zwar unsinnig, denn Herodes war seit mehr als 30 Jahren König, also gewiß nicht mehr der Jüngste. Und als er starb, dürfte Jesus kaum älter als drei Jahre gewesen sein. Doch vielleicht zählte Herodes zu denen, die im Festklammern an der Macht jeden Sinn für Realität verlieren. Selten ist das nicht.

Das Königskind, zu dem die Weisen aus dem Osten gepilgert waren, stellte eine ganz andere Gefahr dar, die erst Jahrzehnte später offenbar wurde, als der erwachsene Jesus predigend durch Galiläa zog. Und selbst da haben zunächst nur wenige erkannt, daß dieser Mann aus Nazareth eine ganz neue Art von Stärke besaß.

Denn Jesus verzichtete auf Gewalt. Vierzig Tage war er in die Wüste gegangen, um sich auf seinen Auftrag vorzubereiten. Dort hatte er die Versuchung überwunden, das Reich Gottes mit Macht und Gewalt zu errichten. Selbst seine treuesten Nachfolger, die Jünger, waren immer wieder irritiert, weil Jesus nichts unternahm, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu ändern. Manche von ihnen mochten im stillen gehofft haben, es sei so weit, als sie nach Jerusalem gingen. Doch auch dort zog er nicht als machtvoller Messias ein, die Römer zu verjagen. Statt auf einem Schlachtroß ritt er auf dem Lasttier der Armen, einem Esel, in die Hauptstadt.

Auch für den Umgang der Menschen untereinander widersprach Jesus vielen sonst gängigen Regeln: statt der Vergeltung erlittenen Unrechts predigte er Aussöhnung: "Liebt eure Feinde!" "Segnet die, die euch verfluchen!" Statt zum Herrschen rief er seine Jünger zum Dienen auf: "Wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller." Als symbolische Handlung dafür wusch er ihnen vor dem letzten gemeinsamen Mahl die Füße.

Jesus war ganz und gar das Gegenteil eines irdischen Herrschers. Hätte Herodes seine Mordpläne fallengelassen, wenn er das geahnt hätte? Ich glaube es nicht. Denn nur eines fürchten diese Herrscher noch mehr, als den Thron einem anderen räumen zu müssen: überflüssig zu werden. Macht, Gewalt und Furcht – das sind die Bestandteile ihrer Herrschaft, aus ihnen beziehen sie die Kraft, ganz oben zu sein. Doch Jesus hat alle drei, Macht, Gewalt und Furcht, abgelehnt. Was aber bleibt von einem Herrscher, dem die Macht fehlt, der keine Gewalt mehr ausüben kann und vor dem sich niemand fürchtet? Er verliert alle Stärke, ist nutzlos und überflüssig.

"Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig", war die Botschaft Jesu – eine klare Absage an die Macht. "Selig sind die Friedensstifter", predigte er auf dem Berge – eine strikte Ablehnung der Gewalt. Und: "Fürchtet euch nicht!", hat er seine Anhänger immer wieder getröstet – Furcht soll nicht sein in Gottes Reich.

Bedrohliche Parolen sind das in den Ohren derer, die an und von der Macht leben, die ihren Reichtum oder Einfluß dem Druck von Gewalt und dem Säen von Furcht verdanken. Besonders dem Hohen Rat der Priester und den Schriftgelehrten war Jesus deswegen ein Dorn im Auge, denn sie wußten oder spürten es zumindest, daß ihre Autorität um so rascher schwand, je mehr Zustimmung der Prediger aus Nazareth mit seiner Botschaft beim Volk fand.

Was Herodes seinerzeit nicht geschafft hatte, gelang dem Hohen Rat mit Amtshilfe des Pilatus. Sie brachten Jesus um, schlugen ihn ans Kreuz. Und glaubten damit die Gefahr für sie beseitigt. Aber sie mußten einsehen, daß sie sich getäuscht hatten. Dieser Jesus war nicht totzukriegen. Gott hatte sein Ja zu ihm gesprochen, selbst der Tod verlor seine Macht, und die Botschaft von Gottes Reich der anderen Maßstäbe breitete sich immer weiter aus.

Seitdem ist durch alle Jahrhunderte zweierlei gleich geblieben: das Mißtrauen bis hin zur Verfolgung von seiten der Machtverliebten, die im Evangelium eine Gefahr für ihren Rang und ihren Einfluß sehen, aber –und das ist viel wichtiger – die Hoffnung und der Trost für die Schwachen, Benachteiligten, zu kurz Gekommenen. Denn Gott hat im Kind von Bethlehem und im Mann aus Nazareth gezeigt, auf wessen Seite er steht. Amen.

Peter Kusenberg

Pastor in Adelebsen–Erbsen

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