Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Silvesterabend
Datum: 31.12.1998
Text: Jesaja 30,8-17
Verfasser: Dierk Glitzenhirn


8 Gegen die Verächter des göttlichen Wortes
So geh nun hin und schreib es vor ihnen nieder auf eine Tafel und zeichne es in ein Buch, daß es bleibe für immer und ewig.
9 Denn sie sind ein ungehorsames Volk und verlogene Söhne, die nicht hören wollen die Weisung des HERRN,
10 sondern sagen zu den Sehern: »Ihr sollt nicht sehen!« und zu den Schauern: »Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist; schauet, was das Herz begehrt!
11 Weicht ab vom Wege, geht aus der rechten Bahn! Laßt uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!«
12 Darum spricht der Heilige Israels: Weil ihr dies Wort verwerft und verlaßt euch auf Frevel und Mutwillen und trotzet darauf,
13 so soll euch diese Sünde sein wie ein Riß, wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer, die plötzlich, unversehens einstürzt;
14 wie wenn ein Topf zerschmettert wird, den man zerstößt ohne Erbarmen, so daß man von seinen Stücken nicht eine Scherbe findet, darin man Feuer hole vom Herde oder Wasser schöpfe aus dem Brunnen.
15 Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht
16 und sprecht: »Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen«, - darum werdet ihr dahinfliehen, »und auf Rennern wollen wir reiten«, - darum werden euch eure Verfolger überrennen.
17 Denn euer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel.

I.

Liebe Gemeinde,

drohende Worte werden hier am Altjahrsabend gesprochen: Gegen die Verächter des göttlichen Wortes. Für sie soll eine Liste, eine Tafel, angelegt werden, wie denn ein Verhalten aussähe, das Gott entspricht. Gegen die Schönredner des Lebens wird gesagt: nicht das Wegschauen bringt es. Gegen die, die in Ruhe gelassen werden wollen, redet Jesaja an. Und er bewertet das Verhalten derer, die Gott verachten: Frevel und Mutwillen treiben sie, d.h. sie handeln nicht nur schlecht, sondern tun das auch noch aus böser Absicht, eben mutwillig.

Jesaja teilt uns auch mit, was mit den Gottesverächtern geschehen wird und zeichnet ganz markante Zerstörungsbilder: wie ein Riß, der in einer hohen Mauer anfängt zu rieseln – eine solche Bedrohung wird die Sünde der Gottesverächter sein. Die Angst derer, die unten neben der Mauer stehen – auf deren Köpfe es vielleicht schon rieselt, läßt sich leicht nachvollziehen. Oder ein Topf wird zerschmettert. Genau beschreibt Jesaja: "den man zerstößt ohne Erbarmen". Wem schon mal einen Tonblumentopf kaputt gegangen ist, der weiß wie schnell so ein Ding springt, aber auch wie lange es dauert, bis es so richtig zu Staub zerfällt – bis keine Scherbe mehr da ist, wie Jesaja sagt, muß man es wohl richtig energisch zermeißeln. – Das wird den Gottesverächtern geschehen.

Was aber tun sie, die Gott verachten, die Jesaja so anklagt? Sie wollen "auf Rossen dahinfliegen", um sich zu verteidigen. Aber auch das wird ihnen nichts nützen, die Verfolger werden sie überrennen. Das tragische Ende einer Rüstungsspirale: Ehrgeizig versuchte man einer Übermacht etwas entgegenzuhalten, aber das Ganze ging schief.

Zum Schluß bleibt von Israel nicht mehr übrig als ein kahler Mast oder ein kleines Banner auf einem menschenleeren Hügel. Eine kleine Flagge als kläglicher Überrest von einer ganzen Armee, still flatternd über dem Leichenfeld, nachdem dort eben noch die Schlacht tobte.

II.

Eingebettet sind diese Bilder in eine große Kulturkritik, die unseren Predigttext umrahmt. Die Propheten lallen und sind vom Wein verwirrt (Kap. 28). Israel ist bedroht von den Assyrern, und es ist dabei, sich politisch mit dem starken Ägypten zu verbünden. Der Prophet schilt die abtrünnigen Söhne und betont, nicht Ägypten rette Jerusalem, sondern der Herr (Kap. 30).

Der allgemeinen Depression im Lande, der Ratlosigkeit, was denn in dieser Bedrohungssituation zu tun sei, hält er entgegen: wer glaubt, der flieht nicht. Klare politische Botschaften manch aktuellen unserer Zeit durchaus vergleichbar.

Man kann ja über Durchhalteparolen durchaus streiten. Ich entsinne mich an den heftigen Streit unter den deutschen Intellektuellen zu Zeiten des Endes der DDR. Christa Wolf und andere exponierte Vertreter der Bürgerrechtsbewegung waren seinerzeit attackiert worden, weil sie diejenigen, die nach Ungarn und nach Prag in die bundesdeutschen Botschaften flohen, aufforderten, im Lande zu bleiben und dort an der Veränderung mitzuwirken. Eine ganz vergleichbare Forderung. Aber es bleibt die Frage, ob nicht der massenhafte Exodus, die Lage erst zum Kippen brachte, die entscheidende Destabilisierung bewirkte und nicht letztlich nützlich war.

Jesaja macht einen ganz handfesten außenpolitischen Exkurs, in welchem er Israel zur machtpolitischen Enthaltsamkeit auffordert. Ob das in der Lage "realistisch" war, wissen wir nicht. Wenn ich eine Unterscheidung aufgreife, die der Altbundeskanzler Helmut Schmidt gegen Willy Brandt und andere in die friedenspolitische Diskussion der 70er und 80er Jahre einbrachte, läßt sich fragen, ob da nicht Jesaja, der "Gesinnungsethiker", den handelnden "Verantwortungsethikern" Vorwürfe macht? Schmidt verteidigte damit genau andersherum als Jesaja diejenigen, die pragmatisch um Koalitionen und das globale Überleben zu ringen glaubten. Und er wandte sich gegen die anderen, denen er vorwarf, nur egoistisch auf ihr reines Gewissen zu achten, indem sie Gewaltanwendung ablehnten. Im Kalten Krieg, eine Auseinandersetzung zwischen friedenspolitischen Realpolitikern und Fundamentalisten, eine Gradwanderung wie vielleicht angesichts der Bedrohung durch die assyrische Übermacht.

War Jesaja ein politischer Hasardeur? Ich weiß nicht, ob Jesaja eine völlige diplomatische Tatenlosigkeit Israels im Auge hatte. Er argumentiert aber wohl auch nicht wagemutiger als seine Gegenspieler, die sich als Vertreter eines winzigen politischen Gebildes angesichts der assyrischen Übermacht sogar wahrscheinlich an einer gewagten Doppeldiplomatie versuchten. Längst waren sie der dominierenden Macht Assur tributpflichtig, wollten zugleich in einer Koalition mit Ägypten aus dieser Lage ausbrechen und stiegen ein in einen waghalsigen Rüstungswettlauf, wie Jesaja findet.

III.

Wir hören diesen Text heute. Wir hören die Anschuldigungen an Israel zur Zeit der Assyrer und könnten sagen: alles historisch.

Ich denke aber, es kann uns nicht unberührt lassen, wenn eine so explizite Anklage geführt wird, gegen politische Schönredner und diejenigen, die selbstherrlich eine Machtordnung etablieren wollen, ohne sich vor Gott zu verantworten.

Jesajas durchdringende theologische Botschaft ist eine elementare Absage an eine Politik der Stärke. "Politik" im Sinne von Staatspolitik, aber auch eines ganz allgemeinen Verhaltens. Er sagt: Gottes Urteil ändert sich erst nach einer Umkehr, die er immerhin noch für möglich hält. Dann würden die Menschen nicht durch ihre Rüstung überleben, sondern "durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein", sagt Jesaja.

Diese Sätze sind so stark, sie springen förmlich aus ihrem historischen Kontext heraus. Sie fragen uns alle an und nicht nur die politisch Verantwortlichen in einem antiken Staatswesen:

"Wieviel Panzerung bauen wir um uns herum auf?", höre ich darin anklingen.

Wie offen sind wir für Neues, für Veränderung von Verkrustungen, Verhärtungen, wie bereit, in unserem Leben einen neuen Weg einzuschlagen?

Wie elementar können wir uns in unserem Lebensgefühl darauf einlassen, daß wir von Gott getragen sind? Und nicht die eigenen Konstruktionen, Lebensbilder, -planungen, -absicherungen uns tragen?

Stillesein und Hoffen – wie stark kann uns dieses Gottvertrauen machen, zu wissen, daß Gottes Gegenwart und sein Wille, sein Ja zu uns uns trägt.

Ich glaube nicht, daß man deshalb nichts mehr tun muß, um seine Ziele umzusetzen. Aber das Leben nicht mehr als einen unentwegten Kampf sehen müssen, den wir nur gut gerüstet überstehen, sondern auch ausruhen dürfen, das ist Jesajas Botschaft. Das verleiht Kraft und nicht die eigenen Drohgebährden., weil wir wissen, daß Gott der Herr, der Heilige Israels, wie er bei Jesaja mehrfach mächtig benannt ist, es will und dafür einsteht, daß unser Leben gelingt. Weg vom "struggle of life", dem ewigen Überlebenskampf und seinen Spielregeln, nach denen der Mensch den Menschen ein Wolf zu sein hat, hin zu einer humanen Welt. Eine Welt, die Zeit für die Stille hat, die Einkehr, das Hören auf Gott, Zeit zum Nachdenken und zum Bilanzieren.

Sich verantworten zu wollen vor Gott, ist die Voraussetzung der Umkehr. Und Jesajas Ruf, sich von der eigenen und der staatlichen Machtpolitik abzuwenden, kommt mir vor, wie ein großer Aufruf zur Muße. Eine Muße, die die Kraft freisetzt, Dinge los zu lassen, kommen zu lassen. Zum Jahresschluß lautet die starke Verheißung: daß wir nicht aufbrechen müssen in große womöglich unerfüllbare Pläne. Nicht die Lebensstrategie ist die entscheidende, sondern ob wir Gott vertrauen können. Im "Stillesein und Hoffen" werden wir erfahren, daß Gott unser Leben begleitet.

Amen.

Pastor Dierk Glitzenhirn
Evangelische Akademie Hofgeismar
Markt 2
34369 Hofgeismar

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