Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Neujahrs-Andacht zur Jahreslosung
1.1.1999
Matthäus 28,20
Pastor Wolfgang Petrak


Liebe Gemeinde,

sich am Morgen des neuen Jahres kurz auf den Weg zu machen: Das gehört für mich zum Neujahrstag wie die Wiener Philharmoniker im Fernsehen. Die frische Luft läßt den Kopf klarer werden, das gedämpfte Licht läßt Neues ahnen; die Stille des Morgens, mit den ausgelassenen Lärm der Nacht kontrastiert, gibt den Gedanken weiten Raum. Es sind nicht so sehr die guten, allzubekannten Vorsätze für 99, die sich alle Jahre wieder einstellen, als die Erinnerungen, die blitzschnell das Gewesene zu erfassen suchen.

Als Kind habe ich diesen Weg immer mit meinem Vater gemacht; weil damals das Wetter anders war, stapften wir durch den Schnee, zumeist schweigend. Manchmal drehte ich mich um und sah auf die Spuren zurück: sie verliefen nie gerade. Manchmal waren die Schritte eng nebeneinander; manchmal hatte ich die Hand des Vaters losgelassen und war dann allein in den frischen Schnee hineingelaufen, mit jedem Schritt spürend, wie das Neue unbekannt vor einem liegt, um dann wieder gemeinsam weiterzugehen: Es ist der Weg, der den Aufbruch bestimmt; es ist die Erfahrung der Nähe, die dieses ermöglicht.

Es sind diese Erinnerungen und diese Gefühle von Geborgenheit und Weite zugleich, die die Jahreslosung für 1999 zum Klingen bringen: Jesus Christus sagt: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende." (Mt 28.20) Seine Nähe bestimmt die Zukunft. Seine Nähe bedeutet Zuspruch - und Anspruch, ziemlich kräftig sogar.

Gewiß ist es schon als Kind erforderlich, die Hand loszulassen und alleine weiterzugehen. Natürlich ist es von uns zu erwarten, die vor uns liegende Zeit auszunutzen, in die Zukunft hinein zu planen und Entscheidungen festzulegen. Zugleich wissen wir, daß die Zeit grundsätzlich offen ist und damit unseren Möglichkeiten Grenzen gesetzt sind. Es kann dann helfen, sich an die Erfahrungen der Nähe zu erinnern. "Bis hierher hat mich Gott gebracht" - strahlend erklang dieser Choral bei der Goldenen Hochzeit. Das Ehepaar hatte es sich so gewünscht. Dabei wußte jeder von den Anwesenden, was die beiden mitgemacht hatten: wirtschaftliche Not, lange Krankenhausaufenthalte, Krach mit den Kindern. Und trotzdem sangen alle mit, das Ehepaar am allerlautesten. Weil aus dem Erinnern, wie sie trotz allem bewahrt geblieben waren, ihnen Kraft für das Morgen erwächst. Für unsere Zukunft sagt uns Jesus seine Nähe zu, ganz väterlich, ganz mütterlich.

Gleichwohl ist mit "der Welt Ende" ein Zeitraum gemeint, der den Horziont der eigenen Lebenszeit übersteigt. Wenn ich zum ersten Mal in diesem Jahr mit einer ziemlichen Akribie die Ziffern 1,9,9,9 hintereinander aufschreibe und damit schon mal die Wende zum nächsten Jahrtausend bedenke, dann macht mir die Bibel etwas ganz anderes deutlich: Es wird eine ganz andere Zeitenwende geben; in der werden numerische Erfassungen belanglos geworden sein. Denn dann wird der Tod nicht mehr sein, Gott aber wird alles in allem sein, unabhängig von der Möglichkeit religiöser Verehrung wie des Zweifels. Von diesem Ende her wird die Wahrheit seines Anfangs erkennbar.

Nehme ich mir die Zeit, das Matthäus-Evangelium einmal ganz von Anfang bis Ende durchzulesen - dann wird klar, wie Gott in unsere Geschichte hineingeht und erkennbar ist, wie der Beginn der Schöpfung, wie die Geschichte Israels auf eines zielt: Gott ist mit uns. "Immanuel" wird das Kind genannt (Mt 1,23). Seine Geburt ist unumkehrbar, sein Weg ist unumkehrbar bis zum Ziel, an dem er selbst sagt: "Ich bin bei euch alle Tage".

Neujahr 1999. Wohl an keinem anderen Tag wird deutlich, daß vor uns unsere Zukunft liegt. Daß Christus uns nahe ist, soll uns gewiß helfen. Die Worte seines Weges lassen zugleich erkennen: Seine Nähe begründet auch seinen Anspruch an uns. "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan"(Mt 25,40). Und daran entscheidet sich unsere Zukunft.

Ob ich das schaffe, wenn ich mich morgens auf den Weg mache, Licht der Welt zu sein? Wenn ich mich beim Suchen nach einem Parkplatz im Einkaufszentrum freimachen kann von der Frage: was sollen wir anziehen? - wenn jemand sagt: Haste mal ne Mark? und ich gebe zwei - wenn ich bei der Klopperei zweier Schüler an der Haltestelle dazwischen gehe und wenn ich es schon nicht zu sagen wage (zumindest aber denke), daß die Sache mit der Bergpredigt noch lange nicht überholt ist, sondern im Gegenteil uns überholen wird: dann wird deutlich, daß Wege geteilt werden und der Gottesdienst im Alltag der Welt 1999 jeden Tag beginnt. Wie oft kann ich dabei sein?

P. Wolfgang Petrak
Schlagenweg 8a
37077 Göttingen
Tel.: 31838

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