Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag Lätare
Datum: 14. März 1999
Predigttext: Johannes 6, 55 – 65
Verfasserin: Karin Klement

Vorbemerkung: Zwei verschiedene Brotsorten symbolisieren unsere irdische Existenz (hartes, trockenes Graubrot und weiches, frisches Weißbrot); eine Zeichnung von Oskar Kokoschka zeigt den Gekreuzigten als ein Angebot für die Hungrigen.

Weitere Bemerkungen zur Predigt: Hier klicken!

Damit der Text beim ersten Hören verständlicher wird, beziehe ich die vorangehenden Verse 51 – 54 in die Verlesung mit ein.

(51) Jesus sprach: Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brote ißt, der wird leben in Ewigkeit. Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt.
(52) Da stritten die Juden untereinander und sagten: Wie kann der uns sein Fleisch zu essen geben?
(53) Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes eßt und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch. (54) Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken.
(55) Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank. (56) Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. (57) Wie mich der lebendige Vater gesandt hat, und ich lebe um des Vaters willen, so wird auch, wer mich ißt, leben um meinetwillen. (58) Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist. Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind. Wer dies Brot ißt, der wird leben in Ewigkeit.
(59) Das sagte er in der Synagoge, als er in Kapernaum lehrte.
(60) Viele nun seiner Jünger, die das hörten, sprachen: Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?
(61) Da Jesus aber bei sich selbst merkte, daß seine Jünger darüber murrten, sprach er zu ihnen: Ärgert euch das? (62) Wie, wenn ihr nun sehen werdet den Menschensohn auffahren dahin, wo er zuvor war?
(63) Der Geist ist`s, der lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben. (64) Aber es gibt einige unter euch, die glauben nicht.
Denn Jesus wußte von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde. (65) Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zum Vater kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben.

Liebe Gemeinde,

eine harte Rede, knallharte Brocken mutet Jesus seinen Freunden und Freundinnen hier zu. Bis heute kann manche/r sich daran ärgern oder die Zähne ausbeißen! Die Rede ist vom "Himmelsbrot", "Brot des Lebens", das in Christus laib(!)haftig Fleisch und Blut geworden ist. Und diesen fleischlichen "Brot-Laib" sollen wir uns zu Gemüte führen. "Wer mein Fleisch ißt, und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm." – kein Wunder, daß zivilisierte Menschen zumindest innerlich auf Distanz gehen. So realitätsnah und "hausbacken" gehen wir normalerweise weder miteinander noch mit unserer irdischer Leiblichkeit um. Das braucht Gewöhnung. Andererseits erfrischt Jesu unverblümt direkte, erdverwachsene Rede und steht im wohltuenden Gegensatz zu manch anderen "irdischen" Reden, die "weder Fisch noch Fleisch" sind. Jenes Essen und Trinken, von dem Jesus spricht, hält uns buchstäblich Leib und Seele zusammen. Wenn wir den Auferstandenen so unvermittelt in uns aufnehmen können, stärkt er uns an Körper, Geist und Seele. Christus bietet sich selber an als "Himmelsbrot" für die Ewigkeit und als Lebens-Mittel, von dem sich jeder Mensch alltäglich nähren kann.

Wenn mir ein Bild zur Erklärung eines Sachverhaltes angeboten wird, bin ich versucht, dieses Bild ganz realistisch zu nehmen und auf sein Einleuchtbarkeit hin zu prüfen. Das "Brot des Lebens" will mich auf den Geschmack bringen, damit ich immer wieder davon esse und satt werden kann. Damit mein Lebenshunger, mein Durst nach Lebenssinn – wie bei einem Baby an der Mutterbrust - gestillt werden kann. Aber hält dieses unsichtbare, nicht handgreifliche "Brot", was es verspricht?

Zwei Sorten Brot halten Sie in Ihren Händen, liebe Gemeinde. Das eine weiche, duftende Brot habe ich heute früh frisch aufgebacken. Das andere stammt zwar von demselben Teig. Doch lagert es seit Tagen an der Luft und ist inzwischen trocken und fast steinhart geworden. An diesem brechen wir uns fast die Zähne aus, können bestenfalls nach etwas Einweichzeit vorsichtig und lange darauf herumkauen. Am Ende liegt es uns doch schwer im Magen. Das andere hingegen schmeckt gut, sättigt angenehm und befriedigt unseren Hunger. Wenn wir es herunterschlucken, löst es sich in uns auf, erzeugt Gesundheit, Leben und Stärke in unserem Körper und Wohlbefinden in unserer Seele. Zwei Seiten ursprünglich ein- und desselben Brotes! Brot wie Leben! Dieses Brot kann unsere irdische Existenz sinnbildlich darstellen: Wir genießen die guten, angenehm-weichen und schmackhaften Seiten des Lebens und müssen auf den harten Kanten fest und lange herumbeißen, bis wir das schlucken können, was uns vorgegeben ist.

Zwei Seiten ursprünglich ein- und desselben Lebens: Eine junge Mutter, höchstaktiv, quirlig und bei vielen Mitmenschen beliebt, wird unvermittelt von einer Krebserkrankung bedroht. Mit aller Härte brechen Gedanken an Sterben und Tod über sie herein. Sie gibt diesen Gedanken Raum, läßt Ängste und Sorgen zu. Sie "kaut" an ihnen herum, obwohl deren Geschmack bitter ist, und das Hinunterschlucken schwerfällt. Sie nimmt die ihr angebotene Speise an, verweigert sich nicht. Sie zerbeißt den Schmerz, zermalmt zwischen ihren Zähnen die Trauer. Und lacht uns aus: "Ich laß mir davon doch nicht den Geschmack am Leben verderben!"

Eine andere Frau hat lange Zeit an ihrem Schmerz zu knabbern gehabt. Sie hat die harten Seiten des Lebens kennengelernt: den unbegreiflichen Selbstmord der Tochter und wenige Jahre danach den langwierigen Krebstod ihres Ehemannes. Soviel größeres Leid als sie meinte, je ertragen zu können! Lebens-Brot wie Stein, das schwer auf Leib und Seele drückt. Wieviel Leid kann ein Mensch erdulden, ohne fast daran zu ersticken? Wie oft glaubt ein Mensch, er müsse immer die Zähne zusammenbeißen, bevor ihm bewußt wird, daß damit manchmal alles Schwerverdauliche doch eher im Halse steckenbleibt? Nun ist das Trauerjahr vorüber. Was ihren Mund bisher verschlossen hatte, wird langsam weich, läßt sich in Worte fassen, ausspucken. Ihre Lebenslast wird dadurch leichter; Geist und Seele werden frei, Neues zu probieren, Gutes wieder neu zu erschmecken. Nach vielen salzigen Tränen der Bitternis kostet sie – vorsichtig und zaghaft noch, aber mutig immerhin – auch einmal von den süßen Seiten des Lebens. Sogar das hartgewordene "Brot des Glaubens" läßt sich wieder "besser beißen" und bekommt – Geschmack. Ihre schmerzlichen Erfahrungen möchte sie nun in ihr Leben einbeziehen, um anderen beizustehen. Wovon sie sich ernährte, als ihr sonst nichts mehr schmecken wollte, was sie am Leben erhielt mitten in der Finsternis von Trauer und Schmerz, das möchte sie mit anderen teilen, ihnen mit-teilen. Sie bietet ihre Hilfe an, will kranke, einsame, trosthungrige Mitmenschen besuchen. Mit großer Aufmerksamkeit hört sie ihnen zu; erzählt aus eigenen Erfahrungen vorsichtig und behutsam, "häppchenweise" von dem, was ihr selber Hilfe gab. Sie teilt das Brot ihres Lebens mit anderen Hungrigen, und alle werden davon satt. So wird sie selbst zum Brot für andere, Brot, das dem Leben dient. Sie folgt darin Jesus nach, der von sich selber sagt: Ich bin das Brot des Lebens, wer von diesem Brote ißt, wird leben in Ewigkeit!

Das Bild des "laib"-haftigen Lebensbrotes leuchtet mir ein. So wie das Brot entsteht, spiegelt sich darin etwas wieder von unserer menschlichen Existenz zwischen leidvollen und glücklichen Erfahrungen: Getreide wird gemäht, gedroschen und zermahlen, das Mehl vermengt mit Wasser, gebacken in der heißen Glut des Ofens und am Ende als Brot gegessen, um Leben zu stärken und zu nähren.

So, wie das Brot nicht von Anfang an "fertig" gewesen ist, sondern sich über Stufen entwickelt hat, müssen auch wir Menschen von einer Lebensphase in die andere hineinwachsen und an schwierigen Situationen reifen können. Wir bleiben nicht wie unentwickelte Keime in der Erde liegen; unser Leben selbst ist ein dauernder Verwandlungsprozeß mit schmerzhaften, aber auch heilsamen Krisen. Und Jesus Christus ist jenes Urbild eines heilsam sich wandelnden Lebens. Ein "Weizenkorn", das in die Erde fällt und erstirbt, damit neues, vielfaches Leben aus ihm wachsen kann.

Symbolisch, augen- und sinnfällig nehmen wir dieses Lebensbrot in uns auf, wenn wir Abendmahl miteinander feiern. Im Brot wird Christi Leib gebrochen und verteilt, im Rebensaft wird mit Christi Blut Schuld abgewaschen und neuer "Lebenssaft" weitergereicht. Menschen treten hervor, halten ihre Hand offen, empfangen Brot und Wein. Sie leben "von der Hand in den Mund" und glauben zeichenhaft mit Hand und Fuß.

Im Abendmahl leben wir ganz offensichtlich auf Kosten eines anderen, der sich selbst opfert, damit wir uns von ihm "ernähren" können. Dieses Zeichen – Lebensbrot füreinander sein – gilt auch für unseren Alltag. Sogar dann, wenn wir für uns und unsere Familien die Brötchen selbst verdienen, leben wir doch immer zugleich auf Kosten anderer: Jener, die uns großgezogen, und jener, die uns unsere Rente erarbeiten. Wir werden füreinander zum Lebensbrot – überall dort, wo wir in Beziehung zueinander treten (und wo tun wir das nicht?!), vor allem aber dort, wo wir Nächstenliebe üben.

Das sterbende Weizenkorn ist Bild und Gleichnis des Menschen, jedoch kein tragisches Bild, vielmehr ein höchst sinnvolles. Es sagt: Niemand lebt für sich selber, und niemand stirbt für sich selber. Es deutet auf den Menschen- und Gottessohn Jesus von Nazareth hin, der nicht für sich selbst gelebt hat und nicht für sich selbst gestorben ist. Das Johannesevangelium nennt ihn Brot des Lebens, weil es weiß, daß in ihm das Geheimnis des Lebens für uns (buchstäblich) be-greifbar wird: Daß Leben und Brot gebrochen, Leben und Blut vergossen werden muß, um Speise zu sein für neues Leben, um selber so ein neuer Mensch zu werden.

Handfeste Nahrung in Form von Kalorien, Mineralien, Vitaminen etc. braucht unser Körper, um zu funktionieren. Gehaltvolle geistliche Nahrung braucht aber auch unsere Seele, unser Glaube; damit weder das eine, noch das andere verkümmert. Können wir nicht leben von Worten allein, können wir es andererseits auch nicht ohne sie. Nicht ohne das Körnchen Hoffnung, nicht ohne den Trank der Liebe, nicht ohne das Brot des Glaubens. Unsere Seele, unser Geist müßten sonst schier verhungern.

Ich erinnere eine Zeichnung von Oskar Kokoschka. Mit knappen Strichen wird das Wesentliche nur angedeutet: Der Gekreuzigte beugt sich tief und hingebungsvoll herab zu einer Handvoll Kinder, die ihr Angesicht sehnsüchtig nach oben recken. Sein rechter Arm hat sich vom Balkenkreuz gelöst. Seine Handfläche scheint den Mund eines Kindes zu berühren. Auf dem Balkenkreuz steht geschrieben: "IN MEMORY of the CHILDREN of EUROPE – WHO HAVE to DIE of COLD and HUNGER this Xmas". Christus reicht den Hungernden seine Hand, bietet sich selbst dar. Im ersten Nachkriegs-Winter 1945/46 starben unzählige Menschen, vor allem Kinder, an den Folgen von Hunger und Kälte. Kokoschkas Bild veranschaulicht, daß Gottessohn beides ist: Ein Lebensmittel für unseren Geist, unsere Seele, und auch buchstäblich ein lebensnotwendige Nahrung, ein Brot gegen den Hunger in der Welt, ein Brot, das zum Leben verhilft. Wer von meinem Fleisch ißt, wird leben in Ewigkeit!

Wer soviel Hunger verspürt, soviel Sehnsucht, wie jene Kinder unter diesem Kreuz, der kann verstehen, was Jesu Worte bedeuten. Sie sind ein wunderbares, überwältigendes Angebot für unser menschliches Leben – hier und heute und darüber hinaus auch in der Ewigkeit! Sie sind zugleich eine Erinnerung daran, daß wir selbst Fleisch und Brot sein können für alle, die mit uns diese Erde bewohnen.

Vielleicht braucht es nur ein wenig Hunger, damit wir wieder auf Seinen Geschmack kommen. Helfe uns Gott, daß wir dankbar von ihm annehmen, was er in Fleisch und Blut ausgesät hat und uns schenkt: Jesus Christus – BROT DES LEBENS für Leib und Seele!

AMEN

BEMERKUNGEN:

Nach so vielen "leicht-verdaulichen", beschwingt-anregenden und wohlvertrauten Predigttexten der Dritten Reihe (z.B. Adam und Eva), nun solch ein widerstrebender, spröder und sperriger Text!! Eine wahrhaft "harte Rede"! Viel Theologie in dogmatisch anmutenden Sätzen und keinerlei Erzählung.

Verschiedene Themen klingen an:

  • Abendmahl (sehr materialistisch: das TABU Kannibalismus),
  • Jesus bietet sich als Opfer an,
  • Inkarnation (Gott kommt in unser Fleisch!),
  • Himmelsbrot und Manna,
  • Jünger-Unverständnis/Ärger – aber Jesus durchblickt wieder alles,
  • Himmelfahrt und Präexistenz des Menschensohnes,
  • Geist contra Fleisch (manducatio spiritualis),
  • Unglauben und Verrat gegenüber Christus.

Wie läßt sich dies alles umsetzen, übertragen, für die HörerInnen verständlicher machen? Schon beim Anhören dieses Textes entsteht eine innere Distanz – wie läßt sich diese Abwehr überwinden oder zumindest in einen inneren Dialog miteinbeziehen? Wie kommen wir miteinander auf den Geschmack von Lebensbrot und geistlicher Nahrung?

Einige Assoziationen zum problematischen Thema "Kannibalismus": Jemanden/etwas mit Haut und Haaren verschlingen; zum Fressen gern haben; verinnerlichen; in sich aufnehmen; runterschlucken; zerbeißen; auf etwas herumkauen; schwer im Magen liegen; Lebenshunger; lieber trocken Brot oder fettes Fleisch.

Nach einigen Tagen innerer Auseinandersetzung mit meinen Abwehrgefühlen gegenüber diesem Text wächst langsam eine Idee: Während sonst manche Texte weder "Fisch noch Fleisch" sind, habe ich hier eine sehr handfeste Rede. Harte Brocken, die ich nicht zerkauen, aber an ihnen herumknabbern kann – bis ich vielleicht etwas schmecke! Tenor des Textes ist für mich: Inkarnation (Fleisch!!-Werdung) Gottes in der menschlichen Gestalt Jesu – himmlisches Lebensbrot und irdisches Graubrot verbinden sich, damit wir davon leben können hier und heute – und in der Ewigkeit!

Pastorin Karin Klement
Lange Straße 42
37077 Göttingen (Kirchengemeinden Roringen und Herberhausen)
Tel. 05 51/2 15 66
e-mail: kklement@mpc186.mpibpc.gwdg.de


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