Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag Palmarum
Datum: 28. März 1999
Predigttext: Markus 14, 3-9
Verfasser: Wolfgang Ratzmann

Liebe Gemeinde,

stellen wir uns doch bitte einmal vor, wir wären mit dabeigewesen damals in Bethanien. Jesus, der Wanderprediger aus Galiläa, hat mit seinen Leuten ein bescheidenes Quartier in der Nähe Jerusalems gefunden. Man sitzt gerade beim Essen. Ein arme-Leute-Gericht ist aufgetragen. Es geht bescheiden zu im Hause Simons, im Haus eines einfachen Mannes, der einmal aussätzig gewesen war und nun den Beinamen "der Aussätzige" trug. Erst recht, wenn so viele Gäste da sind wie jetzt. Man sitzt zusammen und ißt. Da erscheint eine Frau mit einem Glasgefäß. Es enthält kostbares, wohlriechendes Nardenöl. Der Inhalt des Glases ist so teuer, daß man einem Tagelöhner etwa ein Jahr lang hätte seinen Lohn zahlen können. Und plötzlich zerbricht sie das Glas und gießt das teure Salböl über den Kopf Jesu. Nicht nur, daß sie damit die Mahlzeit stört - das mag ja schon ärgerlich genug sein. Noch merkwürdiger aber ist ihre Unvernunft, eine solche Kostbarkeit Jesus auf seinen Kopf zu gießen, ihm, Jesus aufs Haupt, der doch sonst keinerlei Besitz hatte und dem vor allem die Armen am Herzen lagen. Plötzlich wird er zum Objekt einer solchen duftversessenen, verschwendungssüchtigen Frau. Ich vermute, wir hätten uns genauso entsetzt wie einige von denen, die damals mit dabei waren.
Wir hätten wohl ebenso gesagt oder gedacht wie die von damals: "Was soll diese Verschwendung? Hätte man dieses kostbare Fläschchen nicht verkaufen können und das Geld den Armen geben?" Und vielleicht hätten manche hinzugefügt: "Was ist das nur für ein aufdringliches Weib! Kann sie denn ihre Gefühle nicht im Zaume halten? Sie vergißt ja alle Regeln des Anstands." Ich kann mir gut vorstellen, wie unangenehm mir das Verhalten dieser Frau gewesen wäre und wie sicher ich davon ausgegangen wäre, daß Jesus wohl ebenso empfinden würde wie ich.

Verschwendung - aus Liebe. Aufwand - weil das Gefühl mit einem durchgeht. Eine Haltung der religiösen Begeisterung - ohne zu überschlagen, ob sich das rechnet. In unserer Kirche hätte es eine solche Frau schwer. Da fordern zum Beispiel "von oben" die kirchlichen Finanzverwalter Einsicht in die Notwendigkeit, drastisch zu sparen, Stellen einzusparen, Anschaffungen zu vermeiden, die Bautätigkeit zu bremsen. Da gibt es vielleicht einen Chor, in dem viele mit Begeisterung singen, aber die Stelle der Kirchenmusikerin wird trotzdem gestrichen. Das Geld reicht nicht. Man solle doch Einsehen haben. Überzeugende Finanzstatistiken werden ins Feld geführt, und wer wollte sich dem verschließen? Oder da engagieren sich junge Leute in der Gemeinde für Partnerschaftsprojekte mit der Dritten Welt. Sie fordern dafür Geld vom Gemeindekirchenrat. Ein neuer Brunnen soll in der indischen Partnergemeinde gebaut werden. Wasser, sauberes und nahegelegenes Wasser wäre ein riesiges Geschenk für alle im Dorf. Doch die jungen Leute können nicht verstehen, daß sie nur die Hälfte von dem bekommen, was sie brauchen. Und als sie hören, daß im neuen Haushaltsplan Geld für neue Altar-Paramente fest eingeplant werden soll, rasten sie ganz aus. Die Frau würde wohl überall in unserer Kirche anecken: oben bei den Finanzgewaltigen ebenso wie "unten" bei denen, die die soziale Verantwortung für die Ärmsten der Armen umtreibt. Wie in einem Chor vereinigen sich alle diese Stimmen, und sie halten der verschwenderischen Frau entgegen: "Was soll diese Vergeudung? Man hätte dieses kostbare Öl für eine gute Stange Geld verkaufen können. Das hätten wir gegen den Stellenabbau dringend gebraucht. Das wäre für das Brunnenprojekt genau richtig gewesen..." Und alle wären sich einig gewesen damit, Jesus dabei völlig auf ihrer Seite zu haben. Er hat doch eindeutig Partei ergriffen für die Armen. Ihm muß doch auch seine Kirche am Herzen liegen. Er - wenn nicht er, wer denn sonst? - wird doch verstehen, daß man sparen kann und muß.

Aber Jesus verhält sich ganz anders, als es alle von ihm erwarteten und erwarten. So schnell paßt er offenbar nicht in unsere Schemata. Er ist anders, als wir denken. Er - man stelle sich vor: er sitzt da in seinem einfachen, fast schäbigen Gewand - er läßt sie gewähren. Die teuren Tropfen träufeln auf sein Haupt - kein Widerspruch. Der luxuriöse Duft entfaltet sich - Jesus ist es nicht peinlich. Nein, er stellt sich vor die Frau und spricht: "Laßt sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan." Warum redet er so, warum läßt er sich das gefallen?
Es ist gut, daß wir diese Geschichte im Neuen Testament haben. Immer wieder stehen Christen in der Gefahr, den christlichen Glauben mit einer moralischen Anstrengung zu verwechseln. An Gott glauben: Heißt das nicht, sich für Arme und Mißhandelte einzusetzen? An Jesus glauben: Heißt das nicht, sich seinem Vorbild verpflichtet zu fühlen? Wir merken es oft gar nicht, wie schnell wir Glaube und Moral verwechseln. Jesus protestiert mit seiner Haltung in dieser Geschichte gegen einen solchen zur bloßen Moral verengten Glauben. Er protestiert, wenn Christen die Gottesliebe von der Nächstenliebe nicht mehr unterscheiden. Er wehrt sich dagegen, wenn unter seinen Leuten allein die moralische oder finanzökonomische Vernunft regieren. Er läßt es zu, daß sich Glaube und Liebe, Glaube und Gefühl, Glaube und eine Portion Unvernunft miteinander verbinden. So wie bei dieser Frau. Er weiß, daß der Glaube, wenn er lebendig ist, diese unvernünftige, leidenschaftliche Seite hat. Sie findet immer wieder Ausdruck in der Sprache des Glaubens. Denken wir einmal an die Lieder unseres Gesangbuchs. Wie viel Leidenschaft schwingt mit in den Liedern Paul Gerhards beispielsweise, sogar in seinen Passionstexten?
"Mein Lebetage will ich dich
aus meinem Sinn nicht lassen,
dich will ich stets, gleich wie du mich,
mit Liebesarmen fassen..." (EG 83, 4)
Oder:
"Erscheine mir zum Schilde,
zum Trost in meinem Tod,
und laß mich sehn dein Bilde,
in deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach dir blicken,
da will ich glaubensvoll
dich fest an mein Herz drücken.
Wer so stirbt, der stirbt wohl." (EG 85, 10)
Wie viel Leidenschaft schwingt mit in vielen Bildern, die unsere Kirchen schmücken? Wie viel Liebe mag zum Ausdruck kommen, wenn einzelne Blumen bringen und sie auf den Altar stellen? Welch unvernünftiger Zeitaufwand mag betrieben worden sein, wo einzelne Frauen ein Altartuch gestickt oder ein Parament kunstvoll angefertigt haben? Und wie viel Leidenschaft kommt zum Ausbruch, wenn man einmal einen Gottesdienst in einer schwarzen Pfingstgemeinde miterlebt.? Natürlich handelt die Frau unvernünftig. Aber Jesus läßt es zu, weil er weiß, daß der Glaube, wenn er lebendig ist, oft eine unvernünftige Sprache, eine Sprache der Poesie, der Leidenschaft, sogar manchmal der Erotik spricht. Was bedeutet diese Haltung Jesu für uns? Heißt das: keinerlei Stellen- und Finanzplanung, Verschwendung aus Prinzip? Nein, was wir hier in der Geschichte erleben, hat mit Prinzipien, mit generell geltenden Gesetzen nichts zu tun. Natürlich hat auch die Vernunft ihr Recht und ihren Stellenwert. Aber die Finanzberechnungen und die moralischen Anstrengungen, die vielfach nötige Vernunft aus Glauben sollte die Freude und die Liebe und die Leidenschaft aus Glauben nicht ersticken. Die Unvernunft des Glaubens braucht ihren Raum, ihre Entfaltung: einen Raum in unseren Gottesdiensten, eine Sprache in unseren Liedern und Gebeten, einen Ausdruck durch Kunst, durch Schmuck, durch Gesten, vielleicht auch in Tanz und Ekstase...

Jesus tritt ein in unserer Geschichte für diese ungewöhnliche Frau und für leidenschaftliche Liebe als Gestalt des Glaubens. Dabei weiß Jesus, daß die Unvernunft der Liebe manchmal weiser sein kann als die Vernunft der vernünftigen Rechner oder Moralisten. Denn es ist so, als ob diese Frau ahnt, was die Stunde geschlagen hat. Es ist, als ob sie vorausschauen könnte auf die Tage, die nun kommen werden: auf die Stunden des Verrats, auf die Verhaftung, auf die Szenen der Folter und der Kreuzigung Jesu. Es ist so, als ob sie etwas spürte von dem nahen grausamen Tod und von der hastigen Beerdigung ihres Meisters. "Sie hat getan, was sie konnte", sagt Jesus. "Sie hat meinen Leib im voraus gesalbt für mein Begräbnis". Sie hat das vorweggenommen, wozu die Frauen dann, am Ostermorgen, nicht mehr kamen, als sie sich mit den Salben und Spezereien aufgemacht hatten zum Grab Jesu.

Ich bin froh über diese Geschichte zu Beginn der Karwoche. Sie stellt uns eine sonderbare Heilige vor Augen. Wir wissen von ihr nichts weiter als das, was eben diese Geschichte erzählt. Sie läßt sich nicht einreihen in die beliebten Heiligen unserer Tage, die durch ihre Hingabe- und Opferbereitschaft vielen Menschen geholfen haben. Sie steht etwas fremd zwischen Albert Schweitzer und Mutter Teresa und den anderen Vorbildern, die sich aus Glauben für andere eindrucksvoll eingesetzt haben. Sie hat nichts zu bieten als ihre Unvernunft der Liebe, mit der sie sich Jesus genähert hat. Und dennoch brauchen wir, brauchen wohl gerade wir nüchternen landeskirchlichen Protestanten diese sonderbare Heilige. Wir brauchen das Vorbild ihrer Leidenschaft aus Glauben. "Wahrlich, ich sage euch", sagt Jesus, "wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat." Sie, diese sonderbare Heilige, hat nichts weiter getan, als Jesus in unvernünftiger Weise ein Zeichen ihrer Liebe zu bringen. Aber gerade so ist sie ihm nahe auf dem Weg zum Kreuz.
Wir brauchen sie, denn sie kann uns helfen, gerade in den nächsten Tagen Jesus nicht nur mit unserem Verstand, sondern auch mit unserem Herz, mit unserem Gefühl, auf seinem Kreuzweg zu begleiten. Vielleicht erfassen wir gerade die Passion Jesu eher mit unserem Herzen als mit unserem Verstand. Wir brauchen das Vorbild dieser Frau, denn sie kann uns die Weisheit lehren, die in der unvernünftigen Liebe stecken kann. Wir wollen ihrer dankbar gedenken - um ihretwillen, aber auch um unseres eigenen Glaubens willen. Amen

Professor Dr. Wolfgang Ratzmann
Theologische Fakultät der Universität Leipzig
Institut für Praktische Theologie
Emil-Fuchs-Str. 1
04105 Leipzig
Tel. 0341 - 973 5460
Fax: 0341 - 973 5469

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