Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Karfreitag
2. April 1999
Predigttext: Lukas 23, 33–49
Verfasserin: Hildegard Hamdorf-Ruddies

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

Erinnern Sie sich an das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten?
Ein Esel, ein Hund und eine Katze gehen zusammen nach Bremen, weil sie für ihren Beruf zu alt geworden sind und als unnütze Fresser getötet werden sollen.
Der Esel ist unter den Tieren der Klügste. Als sie unterwegs noch einen alten Hahn treffen, der zum Morgenkrähen zu schwach geworden ist und noch am Abend in die Suppe kommen soll sagt der Esel zu ihm:
"Ei was, du Rotschopf ... zieh lieber mit uns fort. Wir gehen nach Bremen. Etwas Besseres als den Tod findest du überall."

Etwas Besseres als den Tod findest du überall" - diese Eselsweisheit aus dem Märchen - ist sie nicht längst eine Allerweltsweisheit unter uns geworden?
Daß jemand etwas Besseres sucht als den Tod, das versteht wohl jeder, der nicht todessüchtig oder lebensmatt geworden ist.
Aber wir versuchen, dem Tod aus dem Weg zu gehen. Wir verdrängen ihn aus unserem Leben. Wollen nicht daran erinnert werden, daß wir einmal sterben müssen.
Dabei kann es geschehen, daß wir Menschen dümmer sind als der Esel aus dem Märchen.
Denn wer den Tod an die Seite drängt, wer nicht etwas Besseres sucht als den Tod, der steht am Ende schlechter da. Der Versuch, den Tod stumm zu machen, muß scheitern. Hinter unserer Geschäftigkeit, dem Getriebe unseres Lebens wartet er und holt uns ein.

Heute ist Karfreitag. Wir Christen reden heute rund um die Welt öffentlich vom Tod.
Wir verschweigen ihn nicht und verdrängen ihn nicht. Wir feiern und erinnern den Tod Jesu. Und anders als zu Weihnachten und zu Ostern sind wir heute eher unter uns. Denn Weihnachten und Ostern schmecken nach Leben und verheißen Freude.
Karfreitag aber schmeckt nach Tod, nach Traurigkeit und Trübsal. Das ist kein Fest für eine Welt, die den Tod vergessen möchte. Vielleicht ist darum Karfreitag das merkwürdigste unter den christlichen Festen. Wir denken heute an einen Toten, wir erinnern an eine grausame Hinrichtung und glauben, daß es dabei um unser Leben geht, um unsere Rettung.

Ja, es ist ein merkwürdiger Feiertag, heute.
Karfreitag - das klingt schwer, dunkel und bedrückend -
und doch soll von hier aus alles Licht, alles Erlösung ausgehen -
wie kann das gehen?
Sollen wir es nicht doch lieber mit dem Esel halten, dem Tod aus dem Weg gehen und direkt zu Ostern übergehen, zu Leben und Neuanfang?
Es geht nicht, liebe Gemeinde! Es geht nicht. Ostern gibt es nicht ohne Karfreitag, Auferstehung nicht am Tod vorbei. Etwas Besseres als den Tod finden wir nicht auf der Flucht vor ihm, sondern indem wir uns ihm stellen. Und das können wir, wenn wir versuchen zu begreifen , was der Tod Jesu am Kreuz für uns bedeutet. Warum Jesus diesen Weg gegangen ist, ihn gehen mußte und wollte. Warum sein Weg nach Golgatha so anders aussieht als der Weg der vier Stadtmusikanten nach Bremen. Nicht Flucht vor dem Tod, sondern bewußtes Sterben.

Lesung des Textes: LK 23, 33-49

"Das Volk stand und sah zu." So seltsam uns das anmutet, als Zuschauer bei einer Hinrichtung dabeizusein - offenbar hat das Schreckliche immer auch etwas Faszinierendes. Und der Evangelist Lukas stellt uns mit seiner Erzählung quasi mitten unter die Leute beim Kreuz und läßt uns sehen und erleben, was es mit dem Tod Jesu auf sich hat. Er will uns mitnehmen zum Kreuz. Er lädt uns ein, uns vom Kreuz mitnehmen zu lassen in ein neues Leben. Schlaglichtartig wird noch einmal deutlich, wie Jesus den Menschen begegnet. Vater vergib ihnen - er bittet noch für seine Mörder um Vergebung, statt nach Rache und Vergeltung zu schreien. So unterbricht er den teuflischen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt.
Auch für den einen der beiden Verbrecher, die mit Jesus gekreuzigt werden, geht es um Vergebung. Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. Diese Hölle hier hat eine Grenze, so schrecklich sie jetzt ist.
Am Ende steht die Finsternis. Der Vorhang im Tempel zerreißt und Jesus stirbt mit den Worten: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.
Wo ist da Hoffnung in dieser Geschichte?
Wohin will uns Lukas mitnehmen, wenn er uns diese Geschichte erzählt?
ER erzählt diese Geschichte ja nicht wie ein Märchen, aus dem man etwas fürs Leben lernen kann.

Nein, um zu unserem Märchen zurückzukommen: Störrisch wie kein Esel ist, behaupten die Christen zu allen Zeiten und in aller Welt: Etwas Besseres als diesen Tod finden wir nirgendwo.
Wie kommen wir dazu?
Wir können das nur sagen und auch nur verstehen, wenn wir für einen Augenblick das Karfreitagsevangelium verlassen. So mutig können wir nur sein, wenn wir daran denken, daß in zwei Tagen Ostern ist. Wenn wir uns vor Augen führen: Gott erweckt diesen Toten zum Leben, und das heißt: Er gibt ihm recht. Er bestätigt seinen Weg, gegen allen Augenschein. Mit der Auferweckung sagt er eindeutig: Ich stehe ganz und gar auf der Seite dieses Jesus. Was er tat, war auch mein Wille. Nicht ein großes "Vielleicht" oder ein schlimmes "Vergebens" steht über diesem Leben sondern ein: "So soll es sein."
Im Licht von Ostern wird dieses dunkle Geschehen hell.

Jesus ist seinen Weg bis zum bitteren Ende gegangen in Übereinstimmung mit Gott, seinem Vater. Hier, und nur hier, ist ein Menschenleben einmal richtig gewesen. Ein einziges Mal in der Weltgeschichte kann Gott einem Menschen treu sein, weil der in Übereinstimmung mit ihm ist und bleibt. In Übereinstimmung mit seinem Auftrag, den er erfüllt, den er vollbracht hat vom Stall in Bethlehem bis zum Kreuz auf Golgatha.

Was war dieser Auftrag und für wen war er?
Er hat uns versöhnt. Versöhnt mit Gott, mit der Welt, mit uns selbst.
Uns unversöhnlichen Menschen, zerrissen in tausend Beziehungsschwierigkeiten hat er Frieden geschaffen, indem er all unsere Unversöhnlichkeit und Zerrissenheit auf sich genommen hat. Er hat sie bis zum Ende, bis zum bitteren Ende durchlitten, damit der Lauf der Welt einmal und endgültig durchbrochen wird. Der Lauf von Gewalt und Gegengewalt, von Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit. Wir Menschen haben es von den Uranfängen bis heute aus uns selbst heraus nicht geschafft, diesem Teufelskreis zu entkommen. Immer wieder, und das kann wahrscheinlich jeder von uns auf seine Weise bestätigen, verstricken wir uns in Schuld, bleiben wir anderen und uns selbst etwas schuldig.

Aber seit Karfreitag gibt es einen, der uns diese Schuld abgenommen hat, der sie auf sich genommen hat. Wir dürfen aufatmen. Unsere Schuld dürfen, ja sollen wir ihm anlasten, ans Kreuz hängen, damit wir nicht unter dieser Last zusammenbrechen.
Jesus seufzt auch unter unserer Last, seufzt, weil er uns mitträgt, ja, auch Sie und mich.
Zu seinem letzten Seufzer gehört unser Aufatmen.
Darum können wir etwas Besseres als seinen Tod nirgendwo finden.
In Jesu Tod ist unser Leben verborgen.
Wir sollten es - endlich - zutage bringen.

Unsere Schuld ist weit weg von uns, am Kreuz von Golgatha, und nirgendwo sonst. Sie kann uns nicht mehr das Leben streitig machen. Die quälenden Schuldzusammenhänge, die einem die Luft nehmen, die lähmen und das Leben sinnlos erscheinen lassen. Die Schuldvorwürfe, die wir uns selbst und die wir anderen machen: Unseren Partnern, unseren Eltern und wem sonst immer.
Der Zeigefinger, den unser Gewissen auf uns richtet, den wir auf andere richten und den andere auf uns richten, wird von Gott herumgedreht und auf das Kreuz von Golgatha gerichtet. Schau, da hängt der, der das alles aus freien Stücken auf sich genommen hat, was dich niederdrückt und dein Leben zerstört. Der das alles auf sich genommen hat, aus Liebe. Du darfst aufatmen und leben.
Es gibt noch Schuld und wird sie immer geben, so lange diese Welt besteht. Aber stärker als alle Schuld ist die Liebe, die der Schuld das Recht genommen hat, Leben zu zerstören. Seit Karfreitag können wir uns Schuld eingestehen und sie auch bekennen, weil sie uns nicht mehr von Gott trennen kann.

Wie war das mit den Bremer Stadtmusikanten?
"Komm mit", sagt der Esel zu dem Hahn, "etwas Besseres als den Tod finden wir überall."
Und die Tiere machen sich auf den Weg nach Bremen.
Sie sind wohl nicht weit gekommen. Obwohl es gut war, daß sie sich auf den Weg gemacht haben.
Sie sind nicht weit gekommen, weil sie den Tod, dem sie entkommen wollten, noch vor sich hatten.
Wer aber den Tod noch vor sich hat, der mag auswandern, wohin er will. Wohin er auch geht und wieviel Lärm er auch macht - er wird den Tod nicht verdrängen. Wenn es hoch kommt, wird er ihn eine Zeitlang übertönen.

Wir aber feiern heute Karfreitag.
Wir haben uns auf den Weg nach Golgatha gemacht.
Wir loben und ehren den Mann am Kreuz. Er hat es vollbracht, daß er zum Fingerzeig
geworden ist für das Leben, das vor uns liegt. Nun liegt der Tod hinter uns, auch wenn wir noch sterben müssen.
Die armen Tiere wußten das nicht.
Wie sollten sie auch, wenn schon wir Menschen es so schwer begreifen?

Etwas Besseres als Jesu Tod am Kreuz und seine Auferweckung finden wir nirgendwo.
Jetzt ist das Leben das Letzte, was wir noch vor uns haben.

Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus Amen.

Hildegard Hamdorf-Ruddies , Pastorin in der Ev. Stiftung Alt-und Neu-Bethlehem


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