Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Karfreitag
2. April 1999
Predigttext: Lukas 23, 33–49
Verfasser: Hans–Gottlieb Wesenick

Liebe Gemeinde,

die Passion Jesu – ein musikalischer Leckerbissen und Kunstgenuß? Das fragte ich mich, nachdem ich gehört hatte: Aufführung – schon dieser Begriff ist bezeichnend! – also: "Aufführung" der Matthäus–Passion von J. S. Bach : 4000 Plätze ausverkauft, billigste Karte 70 DM.

Wenn eine Passion gegeben wird, sind Kirchen immer ausverkauft, und ich selbst gehe auch gerne hin und sitze dazwischen, wenn die fast stets rühmenswerten Leistungen der Musiker und Sänger heftig beklatscht werden. Es ist ja – auch – ein Konzert, ein musikalisch–kultureller Höhepunkt, und er ist "ausverkauft". Hören Sie: eine Kirche ist "ausverkauft" – wegen der "Passionsaufführung"! Doch die Passion Jesu, wo bleibt sie? Wo ist das Evangelium, das Bach immerhin verkündigen wollte – mit seiner Musik?

Jesu Passion – soll sie – als Alternative – fromm und andachtsvoll betrachtet, meditiert werden? Eben haben wir hier den Worten gelauscht, mit denen der Evangelist Johannes Jesu Passion schildert, haben die Evangelienlesung am Karfreitag gehört. Was ist uns dabei durch den Kopf gegangen? Was hat uns dabei bewegt? Was davon nehmen wir mit von hier? Die Passion Jesu – wen interessiert sie? Wem sagt sie etwas? Wen rührt sie an? Wer braucht sie?

In früheren Jahren gab es in unserer Kirche während der Passionszeit an jedem Freitag eine Passionsandacht. Jedesmal wurde ein Abschnitt aus der Passionsgeschichte eines der vier Evangelisten vorgelesen und dazu ein besonders ausgewählter Bibeltext ausgelegt. Zu solchen Andachten kamen mal sechs, mal neun, mal 21 Besucher, auch mal mehr als 40, und wenn die Kantorei sang, kamen sogar doppelt so viele.

In den letzten Jahren habe ich keine Passionsandachten mehr angekündigt. Niemand hat sie vermißt. Ein einziges Mal fragte noch jemand nach, aber das betraf unsere Terminplanung im Kreis der Mitarbeiter.

Die Passion Jesu – gefragt und genossen allenfalls als Aufführung, als Konzert, als musikalische Leistung engagierter Musiker, als Klänge und Stimmen, die uns anrühren, damit es schön kribbelt im Bauch? Ansonsten aber entbehrlich?

Ich setze dagegen: die Passion Jesu ist die Verteidigung des Menschen in unserer unmenschlichen Welt! Wir können nicht menschlich miteinander leben, wenn wir Jesu Verteidung des Menschen ignorieren. So aber schildert der Evangelist Lukas sein Sterben. Hören wir heute also auch den Evangelisten Lukas (23, 33–49), hören wir Jesu Verteidigungsrede für die Menschheit.

Als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: "Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!" Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum.

Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: "Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes." Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: "Bist du der Juden König, so hilf dir selber!"

Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.

Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: "Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!" Da wies ihn der andere zurecht und sprach: "Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan." Und er sprach: "Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!"

Und Jesus sprach zu ihm: "Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein."

Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. Und Jesus rief laut: "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!" Und als er das gesagt hatte, verschied er.

Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: "Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen!" Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um.

Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.

Das also ist Jesu Verteidigungsrede für die Menschheit, wie Lukas sie berichtet, und seine Rede ist wahrscheinlich das einzig stichhaltige Plädoyer für sie. Es besteht in der vollkommenen Einheit des Wortes und des Einsatzes des Verteidigers für die Angeklagten.

Der erste Satz des Anwalts schlägt das Generalthema an: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Er plädiert also nicht auf Freispruch wegen erwiesener Unschuld. Wie könnte er das, wenn es sich um die Menschheit handelt!

Er plädiert auch nicht auf Freispruch aus Mangel an Beweisen. Denn die Beweise sind erdrückend. Er ist ein ehrlicher Anwalt, kein gemietetes Gewissen. Deshalb beantragt er auch nicht Berücksichtigung mildernder Umstände. Wir haben ja alle genug auf dem Kerbholz, hoffen aber dennoch, daß uns von irgendwoher und irgendwie und irgendwann mildernde Umstände zugebilligt werden.

Nein, dieser Anwalt plädiert auf etwas, was völlig anders ist als unsere üblichen Erwartungen und Vorkehrungen und vielleicht am ehesten einer Amnestie ähnelt: er plädiert auf Vergebung.

Vergebung geschieht auch in dem zweiten Wort, das Jesus spricht: "Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein!" Heute – das meint keinen Tag im Kalender. Das auch, gewiß, aber es meint viel mehr: Jetzt bist du frei und unbelastet, jetzt bist du deine Schuld los, jetzt hast du eine neue Unschuld. Das Paradies ist ja der Ort derer, die vor Gott in Freiheit und Freude leben, los- und freigesprochen von all ihrer Last und Schuld.

Vergebung geschieht schließlich in dem dritten Wort Jesu am Kreuz: "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände." Allerdings – und das ist zum Staunen! – hat Jesus nicht für sich selbst um Vergebung zu bitten. Wenn wir Jesus dieses Wort nachsprechen in der Stunde unseres Sterbens, dann kann das allein auf jenes Handeln Gottes hin geschehen, das wir mit Vergebung beschreiben. Und darum ist es gut, wenn wir dies dritte Kreuzeswort auswendig wissen, by heart, wie der Engländer sagt. Es wird unser wichtigstes Wort sein bei unserem Abschied.

Vollkommene Einheit, sagte ich, herrscht in jenem Plädoyer für die Menschheit, gehalten auf dem Hügel Golgatha, zwischen dem Wort und dem persönlichen Einsatz des Anwalts. Dieser Anwalt stirbt an seinem Plädoyer! Mitten im Prozeß wird er vom Klienten selbst erledigt. Und merkwürdig: Er hält sein Plädoyer, obwohl ihm sein Klient dauernd das Mandat entziehen will und höhnische Ratschläge gibt: "Steig herab vom Kreuz! Hilf dir selbst!". Der Anwalt hält durch.

Als Plädoyer eben unterscheidet sich Jesu Sterben von dem Sterben so vieler Umgebrachter. Unablässig werden ja Menschen umgebracht. Heute sterben sie im Kosovo. Aber auch in Kalkutta und in Rio sammelt man jeden Morgen die Leichen derer ein, die in der vergangenen Nacht starben.

Jesu Sterben macht jenes Sterben nicht klein und gering. Im Gegenteil: es ist der Inbegriff allen märtyrerhaften Sterbens. Jedem Martyrium weiß es sich verbunden, auch dem der "mit Recht" Verurteilten, wie wir sagen. Jesus stirbt ja mitten zwischen zwei Verbrechern.

Aber das Sterben Jesu unterscheidet sich! Es ist ganz klar Plädoyer. In ihm ist kein Hauch von dem, was wohl alle anderen in der Stunde ihres Todes befallen mag: "Wartet nur, ihr Quälgeister, ihr kommt auch einmal an die Reihe!" Nein, Jesu Sterben ist ganz und gar durchgehaltene Gemeinschaft.

Wer ist angeklagt? Muß das gefragt werden? Ja, denn so eindeutig ist es ja nicht. Es kommt auf die Perspektive an. Und wessen ist er angeklagt? Also: der Mensch ist der Kreuzigung des Menschen angeklagt. Kreuzigung ist kein Ausnahmefall.

Wo immer wir einen Menschen "auf's Kreuz legen", wo immer wir ihm Schmerz oder Schaden zufügen oder ihn einem Gelächter preisgeben oder wo ein Mann seine Frau erniedrigt usw., da gehen Fäden, feine oder dicke, hin zur Kreuzigung Jesu. Sie ist der Inbegriff der Qual des Menschen durch den Menschen. "Wir werden alle ermordet," sagte Ingeborg Bachmann in einem Fernsehinterview zu ihrem 40. Geburtstag. Ja, aber das heißt auch: "Wir alle ermorden." Wie sollte es sonst so viele Ermordete geben, wenn es nicht so viele Mörder gäbe?

Jetzt müssen wir uns mit den beiden Schächern beschäftigen, die links und rechts von Jesus sterben. Der eine läßt auch in dieser letzten Stunde die Wahrheit nicht an sich herankommen. Das soll es wohl geben, daß einer in seiner Lebenslüge stirbt. Es ist seine Welt, die auf Golgatha ihr Wesen zeigt: Er war wohl sein Leben lang zuhause in der Welt des Schlagens und Geschlagenwerdens – und hat selbst kräftig mitgeschlagen, bis man ihn endgültig schlug. Aber jetzt muß er noch herausschreien: "Nicht meine Welt! Das ist Gottes elende Welt!"

Der zweite Verbrecher reagiert ganz anders: "Ja, diese schreckliche Welt ist meine Welt, von mir mitgestaltet und von mir mitzuverantworten." Wie kam ihm diese tiefe und heilsame Erkennntnis? Offenbar an diesem da, der in der Mitte hängt. An ihm schaute er eine andere, eine für ihn "neue" Welt. Vielleicht hatte er das mitgehört: "Vater, vergib!" Ihm bleibt nur eine Bitte, nämlich diese: "Jesus, gedenke an mich, wenn dein Reich Wirklichkeit wird!" Verzweiflung und Hoffnung in einem ist das, Verzweiflung an sich selbst – Hoffnung auf das andere, das Neue, das Vergebung heißt.

Zwei Männer – zwei Möglichkeiten. Sie werden zur Frage an uns: den Verteidiger annehmen oder ablehnen? Letzte Bitte oder letzter Trost?

In die Welt einzutreten, in der Vergebung regiert, das muß etwas sein, liebe Gemeinde! Diese Welt hat ein anderes Gesicht als unsere: kein gnadenloses Gegenüber mehr, das einen selber gnadenlos macht und gnadenlos handeln läßt! Nein, eine trotz allem gnädig von Gottes Händen gehaltene Welt, was einen selber gnädig macht – und hoffentlich hier und da auch ein wenig vernünftiger und besonnener!

Christus hat für die gebeten, die nicht wissen, was sie tun, auf daß sie besser wissen, was sie getan haben und zu tun haben.

Es ist freilich nicht so, daß wir, die hier mit aller Macht Verteidigten, auch immer und ewig im Schutz dieses Alibis verharren sollen! Vergebung ist der Grund, der uns trägt und sogar im Jüngsten Gericht tragen wird. Aber Vergebung ist kein Kissen, um sanft darauf zu ruhen. Wir könnten sonst dabei nämlich in jene Tiefen und Fesselungen versinken, die Erich Fried so beschrieben hat:

Nicht wissen / Nicht wollen / Nicht können /
Nicht wissen wollen / Nicht wissen können /
Nicht wollen können / Nicht können wollen /
Nicht können können / Nicht wollen wollen /
Nicht wissen wollen können / Nicht wissen können wollen /
Nicht wollen wollen können / Nicht können können wollen /
Und nichts mehr glauben.

Jesu Gnade! Ein lebensträchtiger Maßstab ist uns gegeben. Aus einer großen Dumpfheit sind wir erlöst.

Am Ende bleibt die Frage: vor welcher Instanz geschieht dieser Prozeß? Alle sind sie da: Angeklagte massenweise, Ankläger massenweise, der Verteidiger – zugleich das Opfer, Zeugen, Publikum. Aber wo ist der Richter?

Noch einmal steht vor uns eine Entscheidungsfrage: Ist solch eine Instanz – oder ist sie nicht? Sind Augen, die alles sehen – oder ist ewige Blindheit? Ist ein Denken, das alles bedenkt und alles fühlt, oder ist kein Denken und kein Fühlen?

Franz Kafka hat das Leben ja als genau solch einen Prozeß dargestellt. Er verläuft in vielen Phasen, doch immer bleibt die letzte Instanz ungreifbar, immer ist sie versteckt hinter Zwischeninstanzen, immer zweideutig und furchtbar. So kann man das Leben sehen. Nein, so muß man es sehen, wenn man nicht Jesus rufen hört: "Vater!"

"Vater!", das gilt dem Richter. Die letzte Instanz ist also ganz in der Nähe. Das blutige Schauspiel von Golgatha, alle blutigen Schauspiele, auch alle unblutigen, werden ihre Klärung, ihre Klarheit finden. Das Urteil wird gesprochen werden – ja, es ist schon gesprochen.

"Vater!" ruft Jesus. "Vater" – das ist mehr als "Richter". Der Richter schließt nur ab. Er hat immer das Wort am Ende einer Tat oder Untat. Der Vater aber steht am Anfang. Er ist Ursprung und Liebe. Walten also Leben und Liebe über den Schädelstätten dieser Welt?

Jesus hat es geglaubt, sogar dann noch, als er am Kreuz hing, Jesus, dieser Anwalt Gottes vor den Menschen, Jesus, dieser Anwalt des Menschen vor Gott. Amen.

Pastor i. R. Hans–Gottlieb Wesenick, Stauffenbergring 33, 37075 Göttingen


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