Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Quasimodogeniti
11. April 1999
Predigttext: Johannes 21, 1-14
Verfasser: PD Dr. Reinhard Weber


Vorbemerkung:
Die vorliegende Predigt stellt bewußt an die Hörerschaft sowohl sprachlich wie auch gedanklich erhöhte Anforderungen. Dies hängt mit ihrer argumentativen Grundstruktur zusammen. Damit ist sich auch der Autor darüber durchaus im Klaren, daß man den Predigttext gewiß auch ganz anders aufnehmen und zur Darstellung bringen kann. Insofern kann seine Predigt auch als ein Fundus betrachtet werden, aus dem sich verschiedene Teilaspekte herausziehen und unter veränderten homiletischen Auspizien mit anderer Zielrichtung und in verwandelter Gestalt verwenden lassen.
Hier kam es wesentlich darauf an, den einen Zentralgedanken dieses johanneischen Ostertextes, nämlich den der anagnorisis, in einer dezidierten und prononcierten Weise in den Mittelpunkt zu stellen und ihn auf einem Hintergrund zum Leuchten zu bringen, der aus Osterkerygma onthropologisch generell in den Blick faßt. Zugleich sollte die christologische Perspektive so aufgezeigt werden, daß die Dimension der Frage nach dem irdischen, sprich vorösterlichen Jesus in ihrer theologischen Bedeutsamkeit dabei nicht unterschlagen, sondern als notwendige Voraussetzung erkennbar wird. Schließlich leitete Vf. die Intention, den im engeren Sinne theologischen, wenn auch in der Geschichte selbst nur unausdrücklich als begleitender und unterfangender Horizont präsenten Kern der Erzählung so sichtbar zu machen, daß dessen erkenntniskritische wie weltlich paradoxale Struktur angemessen zum Austrag kommt.



Liebe Gemeinde!

"Alle Menschen sind sterblich." Dieser bekannte Buchtitel eines vielgelesenen Erfolgsschriftstellers unserer Tage trifft auch auf sie zu, die Zuhörer dieser Predigt.
Den Beweis dafür kann man handgreiflich hier in dieser Kirche vor sich sehen, wenn man so durch die Reihen schaut. Wie viele, ja praktisch wohl fast alle von denen fehlen, die hier vor ungefähr 20/30 Jahren aus der Generation derer, die noch den ersten Weltkrieg bewußt miterlebt hatten, weißhäuptig die Plätze füllten.
Und heute sind die, die damals in der vollen Kraft der Mitte ihres Lebens standen, selber alt geworden und gezeichnet vom Daseinskampf, und noch einmal eine Reihe von Jahren, und auch ihre Sitze werden von anderen besetzt oder aber vielleicht gar ganz leer sein.
Und aus den Kindern von damals sind heute Leute geworden und werden morgen Greise sein.
Liebe Gemeinde, alle Menschen sind sterblich und aufs Vergehen gestellt. Und alle Kulturen und Zeiten haben das gewußt und eindringlich und manchmal herzzerreißend vom Schmerz des Vergehens und der wehmütigen Erfahrung der verrinnenden Zeit zu singen vermocht, wie etwa Matthias Claudius in seinem bekannten Gedicht:

"Empfangen und genähret,
vom Weibe wunderbar,
kömmt er und sieht und höret
und nimmt des Trugs nicht wahr,
gelüstet und begehret
und bringt sein Tränlein dar;
verachtet und verehret,
hat Freude und Gefahr,
glaubt, zweifelt, wähnt und lehret.
Hält nichts und alles wahr.
Erbauet und zerstöret
Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst und zehret;
Trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet,
wenns hoch kommt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder
Und er kömmt nimmer wieder."

Liebe Gemeinde, beginnt so eine österliche Predigt über einen Ostertext, denn das ist Johannes 21 ja!?
Ja, so beginnt eine Osterpredigt, weil unser Text so beginnt! Auch wenn er das für sie vielleicht ganz unbemerkt tut, gleichsam unter der Hand: auf einer auf den ersten Blick verborgenen, unterirdischen Ebene redet er nämlich von einer verlorenen Vergangenheit und so vom Vergehen des Vergänglichen, sprich den ehemaligen Fischern, die es wieder neu werden mußten und es doch nicht mehr richtig sind und sein können.
Vor dieser Tür, vor dem Wiedereinstieg in diese alte, verlorene Vergangenheit, vor dieser Wiederanknüpfung an das Abgelebte ist ein Riegel, sein Name heißt Tod, Tod, der auch mitten im Leben anwest, wo er eine bestimmte Gestalt des Lebens unwiderruflich alt werden läßt wie ein altes abgetragenes Gewand, in das man durch die gelebte Erfahrung nicht mehr hineinpaßt. Vor dem verlorenen galiläischen Jugendparadies der Jünger (und wer von uns hatte kein solches) steht unerbittlich der Engel mit dem Flammenschwert der Zeitlichkeit der Zeit und verwehrt den Zutritt und die Wiederkehr (auch für jeden von uns im Blick auf seine eigene Gewesenheit). Keiner kann sich mehr einholen, sich selbst wieder-holen als der, welcher er einst gewesen. Alles wird zu einer stets schwächer werdenden, allenfalls melancholisch-schwermütig eingetrübten und uns noch einmal abständig erfassenden und möglicherweise überschwemmenden Erinnerung. Kein vergangenes Gefühl ist in seiner verlorenen Aktualität revozierbar, keine erlebte Situation in voller, ungeminderter Präsenz erneuerbar. Es bleibt schemenhaft und unwirklich, was wir erfuhren, wovon wir einmal voll und ganz bestimmt waren. Wir sind uns selbst Entgleitende, und gerade dort um so mehr, wo wir uns um jeden Preis halten möchten. Der Hand, die sich krampft, wird das Gehaltene um so gewaltsamer entzogen. Die Zeitlichkeit der Zeit ist für uns immer auch und zuletzt die Tödlichkeit des Todes.
Den Jüngern in unserer Geschichte, die mit ihrer Rückkehr in ihre galiläische Heimat nach den katastrophischen Jerusalemer Ereignissen, die sie all ihrer Hoffnungen und Träume beraubt hatten, einen Anknüpfungspunkt an ihr altes Leben suchten, mußten wohl auch feststellen, daß dies so nicht ging, wie sie sich das vielleicht gedacht hatten: den alten, abgebrochenen Faden wiederaufnehmen.
Mit diesen Erlebnissen im Rücken waren sie nicht mehr dieselben, als die sie ausgezogen waren und alles hinter sich gelassen hatten einschließlich ihrer Fischerei. Wenn man als ein anderer dahin zurückkehrt, wo man noch jener gewesen war, dann findet man sich dort nicht mehr als dieser! Die Jünger, die mit Jesus mitgezogen und ihm auf seinem Wege bis nach Jerusalem nachgefolgt waren, die konnten nicht so tun, als ob nichts gewesen wäre, die kehrten als tiefgreifend Veränderte, Verwandelte dorthin zurück, von wo sie einst ausgezogen waren, mögen sie das zunächst auch vor sich selbst verborgen haben. Und mag ihre Heimat auch äußerlich nahezu unverändert dieselbe geblieben sein, sie selber aber waren nicht mehr dieselben, ihre Perspektive, ihr Menschsein hatte sich verwandelt. Es ist nichts mehr mit der Fischerei! Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen (Heraklit)!
Und in dieser Erfahrung wird der Stachel der Sterblichkeit als Ausdruck der fallenden Zeit in uns beunruhigend wach.
Also, verehrte anwesende Sterbliche, das ist das erste, was wir heute aus unserem Ostertext zu lernen haben: der Tod als die Vollendung und Vollstreckung der Zeitlichkeit der Zeit ist uns nichts Äußerliches, kein Zufall, dem wir da irgendwann am Ende einmal ausgesetzt sind, gleichsam eine Art unerwarteter, bedauerlicher Betriebsunfall, der etwa in seinen Folgen rückgängig gemacht oder bei vorsichtigerem Verhalten oder besserer Beachtung der Bedienungsvorschriften hätte vermieden werden können.
Nein, er ist unser Ureigenstes, das uns Innerlichste, das wir ständig wie eine Frucht in und mit uns herumtragen, die wir langsam ausreifen; er ist die Signatur unserer Existenz als eines Seins zum Tode. Das war auch die Erfahrung der Jünger in unserer Geschichte, die sie allerdings wohl kaum schon voll und bewußt realisierten, die sie vielmehr eher verdrängten durch ihren nicht gelingenden Rückkehrversuch ins alte Leben, in die alte Lebenswelt, in ihre vergangene Lebensgestalt, als ob die Schlange in ihre alte, abgeworfene Haut zurückkehren wollte.
Ja, und das versuchen wir in unsrer ganzen Gesellschaft ja permanent auch mit den alten Rezepten und Mitteln auf die Herausforderungen der Zukunft zu reagieren, unser grundlegend verändertes Sein wieder loszuwerden, zu vergessen, unsere Erfahrungen gleichsam rückgängig und ungeschehen zu machen! Und so verschlimmern wir von Tag zu Tag unsere Situation, taumeln bewußtlos ins Nichts, in eine sich ausbreitende Leere, die Wüste des sinnentleerten Lebens, das die Orientierung verloren hat und einfach nur so weitermacht.
Und weil wir die lebendige und umwandelnde Erfahrung der Tödlichkeit der sich zeitigenden und an uns sich auszeitigenden Zeit ausgrenzen, nicht einmal mehr wahrhaben wollen, was die frühere Menschheit lebensbegleitend umschloß, was jederzeit in geballter, beklemmender und auch lösender Eindringlichkeit um sie herumstand, darum hat unsere Verdrängung uns auf der Gegenseite den Kult der Todesverherrlichung in Video und Fernsehen beschert, wo der Tod massenhaft künstlich inszeniert wird, um seinen Sporn auf eine abstruse Weise zu spüren, nämlich um damit die Unlebendigkeit des faktisch gelebten Lebens zu übertönen und zu kompensieren in einem. Und so schlägt das Weggedrängte uns nur um so gewisser in seinen nun als Nervenkitzel und Brutalität denaturierten Bann.
Der Tod ihrer - auch religiösen - Hoffnungen und Lebenswünsche, die sie mit Jesus verbunden hatten, hatte die Jünger den verzweifelt-resignierten Schritt nach Galiläa zurück tun lassen.
Aber ihr Lebenszusammenhang war doppelt unterbrochen, der alte als einfache Fischer am See, aus dem sie der Ruf Jesu herausgerissen hatte, der neue als Nachfolger des Meisters, der ihnen Karfreitag auf Golgatha abhanden gekommen war. Sie sind die Verlassenen schlechthin, denen die Kontinuität ihres Lebensentwurfes zerrissen, zerbrochen ist, die nur noch Fragmente in den Händen halten und es selber noch nicht so recht wissen. Es ist der Verlust der Zukunft mitten in der Zeit, mitten in ihrem irdischen Leben, der ihnen auf die Stirn geschrieben ist.
Die kleinen Tode, die wir schon mitten im Erdendasein sterben, sind ja nichts anderes als Vorabbildungen, Vorboten, Vorausdarstellungen des großen Tods, der auf uns wartet.
Und schon das kleine Kind, dem der bunte Ball, an dem sein Herz hängt, in einen rostigen Nagel fliegt und zerplatzt, kennt diesen Schmerz, den Schmerz der Vergänglichkeit, der Unbeständigkeit und des Abschiednehmenmüssens, der Irreversibilität der Zeit und allen Geschehens.
Nein, das ist uns nicht fremd, vielmehr ganz nah. Wer hat das nicht schon gespürt, daß etwas in ihm abstirbt, verwehrende Spuren gelebten Lebens, Zerbrechen von Zukunftsentwürfen, Lebensplänen, Glückserwartungen. Dafür muß man keine Beispiele suchen. Sie liegen auf der Straße.
Und in dieser durchgängigen Abschiedlichkeit unseres ganzen lebendigen Daseins bereitet sich - wie gesagt - doch nur vor und zeigt sich doch nur an, was sich am Ende im leiblichen Sterben vollendet und zusammenfaßt. Da kommt doch nur heraus, was wir in Wahrheit schon immer sind, endliche, begrenzte Wesen, die am Ende gar von sich selber Abschied nehmen müssen!
Der Tod gehört zum Leben wie das Salz in die Suppe.
Deshalb: die Titelseiten der Illustrierten, auf denen im wahrsten Sinne des Wortes stets nur das große Leben prangt, lügen. Sie lügen gut, aber es ist nur die eine Seite, und die andere wird wohlweislich vertuscht.
Denn am Ende, da müssen wir in der Tat nicht nur vom prallen Leben, sondern sogar vom Innersten, von unserem Eigentlichsten, nämlich von selbst Abschied nehmen. Da erweist sich, daß wir nicht einmal uns selber wahrhaft haben, besitzen und festhalten können. Wir gehören uns nicht einmal selbst! Und was sich da im Sterben offenbart, das ist ja nichts anderes als die innere Struktur des Lebens selbst, um die wir darum auch schon jetzt wissen können.
Das ist das eine, wovon die Jünger betroffen sind und wir mit ihnen. Aber da gibt es noch ein anderes, und dieses andere ist der Verlust Gottes im Verlust ihres Herrn und Meisters. Das ist der Tod ihrer Seele als dem Ort der tiefsten und höchsten Lebenshoffnungen, das Kraftzentrum. In ihm ist ein Zerbruch eingetreten. Kern und Stern ihres Daseins sind verschwunden. Da ist eine tiefgreifende Lähmung eingetreten. Jetzt leben sie so dahin. Was bleibt sonst, wenn Gott als das Lebenselexier des Menschen sich aus der Mitte seines Lebens verabschiedet hat, wenn er sich entzog. Das ist der eigentliche Tod!
Und an dieser Stelle kippt nun unsere Geschichte, schlägt um, wird sie zur Ostergeschichte, denn an dieser Stelle geschieht nun für die Jünger das, was Ostern heißt, nämlich anagnorisis: im Morgengrauen steht Jesus am Ufer! Die hungrigen Jünger haben leere Netze. Saft und Kraft ihres Lebens sind ausgelaufen, zerronnen, zerplatzt. Ziellos vagieren sie dahin, heimatlos zuhause. Da steht Jesus am Ufer, er steht am Ufer des Meeres und holt die Fische aus dem verschlossenen See, d.h. er öffnet das verstellte Leben für die ihm entzogene Nahrung, für das Leben, das sich ob der erfahrenen Enttäuschung in sich eingehaust hat: "Habt ihr denn nichts zu essen?" "Nein!" "Werft die Netze ins Meer!" Da zappelt das entschwundene Leben in ihnen. Und da geschieht anagnorisis, Wiedererkennung: "Es ist der Herr"!
Das ist das Osterereignis in dieser Geschichte: anagnorisis! Das gestorbene Leben lebt, das entschwundene Leben wird als das nahe, als das anwesende erkannt, der verlorene Gott taucht aus den Fluten des Vergessens, aus den Wassern des Todes, aus dem See wieder auf, kommt empor aus dem Brunnen der Vergangenheit, denn: "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit" (Th. Mann).
Und er teilt Fisch und Brot aus, Brot und Wein, eben sich selbst. Dahin werden auch die dunklen Pfade des Wanderers geführt, dessen Haus durch eine von Schmerz versteinerte Schwelle unzugänglich geworden war, wie es Georg Trakl beschrieben hat:

"Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor aus dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein."

"Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen", so sagt das bekannte mittelalterliche Kirchenlied. "media vita in morte -kers umb- medis morte in vita sumus. sic dicit, sic credit Christianus." Also: mitten im Leben sind wir im Tode, kehr es um, mitten im Tode sind wir im Leben, so spricht, so glaubt ein Christ, so sagt es Luther in einer Predigt zu Mariä Heimsuchung 1523.
Ostern hat am Tod etwas verändert, genauer: an der Tödlichkeit dieses Todes. Der gottverlorene Christ fällt nämlich sterbend nicht mehr ins Nichts, in die absolute Selbstverlorenheit, er fällt auch lebend nicht mehr in die resignative Verzweiflung an der Sinnlosigkeit des weltverlorenen und erdentfremdeten, des irreversibel vergehend-vergänglichen, weil zeithaft-geschichtlichen Daseins, er fällt vielmehr in die anagnorisis: es bist ja Du, Du bist es ja, ja, Du bist es! Der heimgegangene Jünger fällt an den heimgegangenen Gott heim. Denn er begegnet diesem Gott im Tod seines Lebens! Im Gottesverlust als Lebensentzug, im Lebensverlust als Gottesentzug begegnet Gott.
Das kommt, weil Gott selber im Tode ist und den Jünger dort empfängt, in der resignatio ad inferum, der absoluten Verzweiflung, der desparatio. Und die kann ganz unmerklich-unausgesprochen sein wie bei den Jüngern in der Geschichte.
Das ist der Kern unseres Predigttextes: im Tod, in seinem eigenen Tod, in seinem Sterben für den Menschen ist Gott lebendig. Der gestorbene Gott lebt! Der dem Menschen aus der Mitte seines Lebens entzogene Gott ist der Nahe, der ihn ans Ufer winkt und dort auf ihn mit den Gaben des Lebens wartet.
Das läßt sich wohl nur so verstehen, daß Gott sich mit dem gekreuzigten Jesus, der ihn als den heilvollen in seinem Wirken und Geschick vollmächtig in Anspruch genommen und seine sündenvergebende Liebe ereignet hatte, zu Ostern identifiziert, sich zu ihm bekannt hat und dadurch anzeigt, daß der Tod, aus dem er Jesus zu sich herausruft, ihm selber fortan nichts Fremdes mehr ist, sondern nun als ein Moment ins Leben Gottes hineingehört. In Jesu Todesleiden, so muß man sich das wohl deutlich zu machen suchen, hat sich Gott der Macht des Negativen, der Spitze der Endlichkeit ausgesetzt und sich in diesem Prozeß zwischen Leben und Tod erhalten und als der todüberwindende Lebendige erwiesen. Indem er in der Auferweckung Jesus gegenüber seinen Gegnern ins Recht setzt, bestätigt er die Verkündigung Jesu vom rettenden Vatergott und erweist sich an seinem zu Tode gebrachten westlichen Repräsentanten in der Weise als schöpferischer Erretter, als der ihn dieser in seinem Wort und Werk zur Darstellung gebracht hatte. Eben dieses Handeln aber war es gewesen, das Jesus nach Golgatha gebracht hatte! Und so steht in Jesu Todespassion nichts Geringeres auf dem Spiel als Recht und Wahrheit seines Gottesglaubens und seiner Gottesverkündigung durch Wort und Tat. Am Kreuz Jesu leidet Gott selber mit, treibt er auf die Höhe seiner passio magna, seiner großen Passion an der Welt.
Und also kommt das österliche Wort von dem auferweckten Jesus aus der Tiefe der göttlichen Todesgemeinschaft mit dem Nazarener. So wie der ihm lebend die Treue gehalten hatte bis in den Tod, so erwidert sie ihm Gott sterbend bis ins Leben! In das neue Leben, das göttliche Leben. Gott ist im Tod als der Lebendige. Und Auferweckung heißt dann nichts anderes als Leben im und aus dem Tod, daß im Tod das Leben ist, so paradox das auch klingen mag.
Dadurch aber, liebe Gemeinde, daß sich im Osterereignis etwas im Verhältnis Gottes zum Tod verändert hat, verändert sich auch etwas an der Tödlichkeit unseres Lebens als der sich in ihm als Zeitlichkeit zeitigenden Zeit, wo und sofern wir uns in dieses Geschehen zwischen Gott und Jesus hineinnehmen lassen.
Wo jedoch ereignet sich dieses Geschehen für uns?
Dieses Geschehen begegnet uns im Wort der Predigt! Die Predigt ist für uns der See Genezareth der Jünger, der Ort der anagnorisis. Im gepredigten Wort von Karfreitag und Ostern können wir der Hoffnung gewiß werden, daß Gott auch unserem Tod die Tödlichkeit genommen hat, weil und indem er die Tödlichkeit unseres Lebens begrenzte, dadurch daß er sich diese an dem Mann aus Nazareth auswirken ließ, so daß wir im Sterben nicht mehr durch die Abgründigkeit des unserem Wesen geschuldeten schlechthinnigen Vergehens begrenzt werden, sondern durch nichts anderes als Gott selber! Denn Ostern ist die Osterbotschaft als Gestalt der Wirksamkeit des Ostergeschehens.
Und so ist Ostern die Ostergewißheit, daß wir im Tod nicht dem Nichts, sondern dem unsterblichen Gott begegnen zu ewiger Gemeinschaft mit ihm. Und dieser Tod und damit auch seine Überwindung finden mitten im Leben statt.
Denn diese ewige Gemeinschaft hat wie die zeitliche Entfremdung schon eine irdische Vorgeschichte, die genau da anhebt, wo uns der Zuspruch des Lebens mitten im irdischen Leben ins Herz trifft und wir der Stimme Gottes inne werden, die uns aus der Gefangenschaft ins eigene Ich und dessen Drang in die Verhältnislosigkeit des Todes herausruft zu der Begegnung mit der Quelle des Lebens, welche ein bleibendes Verhältnis schafft: durch anagnorisis!
Der Gott, der uns im Tode bewahrend und verewigend auffängt und unser vergängliches Dasein in ein neues, unvergängliches Leben wendet, der beginnt und will seine Geschichte mit uns schon vorher beginnen, mitten in der vergehenden Zeitlichkeit, hier und jetzt und wann immer das Wort an uns ergeht; ja in Jesu Wirken, Tod und Auferweckung hat er sie schon begonnen. In ihm hat er das Gespräch mit uns und der ganzen Menschheit schon angefangen und so den Grund dafür gelegt, daß wir schon jetzt mitten in all der Todverfallenheit unseres Wesens und dieser ganzen Welt in ein unzerstörbares Leben hineingenommen sind, das kein Tod mehr töten kann, weil Ostern des Todes Tod ist.
Liebe Gemeinde, ich könnte es nicht besser sagen als der alte Luther, der an einer Stelle bekennt: "Wo aber und mit wem Gott redet, es sei im Zorn oder in der Gnade, derselbe ist gewiß unsterblich. Die Person Gottes, der da redet, und das Wort Gottes zeigen, daß wir solche Kreaturen sind, mit denen Gott bis in die Ewigkeit und unsterblicherweise reden will."

Unsere heutige Ostergeschichte zeigt den Gott in Jesus, der mit den hoffnungslosen und enttäuschten Jüngern und ihren stumm gewordenen Seelen mitten in der Nacht ihres Lebens ein Gespräch beginnt, der sie anredet und das Brot reicht.
Nicht also unsere vielmehr in allem vergehend-vergängliche Natur ist es, die uns Unsterblichkeit verbürgt, sondern allein die Tatsache, daß der unendliche Gott das Gespräch mit seinem endlichen Geschöpf schon mitten in dessen Endlichkeit aufgenommen hat und es auch dann nicht abreißen läßt, wenn uns im leiblichen Sterben in ohnmächtigem Verstummen die Möglichkeit zur Antwort aus der Hand genommen wird. Darum ist es an uns um so mehr und mit ganzer Aufmerksamkeit dafür Sorge zu tragen, daß wir jetzt in der Stunde, wo es für uns noch Tag ist, den Faden des göttlichen Sprechens mit uns aufnehmen und ihm antworten, damit unser Selbstsein in Gott geborgen ist, wenn wir ins Schweigen unserer Rede einkehren. Sein Leben als Christen führen heißt also, das Gespräch, welches uns Gott mit sich im Gekreuzigten und Auferweckten anbietet, als lebendige Gestalt unseres ganzen Daseins führen. Das Bestimmtwerden von dieser Kommunikation ist die Form, in welcher das österliche Leben unter uns Realität wird!
Dem Tode in all seinen Äußerungsformen ist im Christusereignis der Stachel der Gottverlassenheit gezogen worden, und er ist im Leben Gottes zurückgeblieben! Das ist das Wort, durch das der ewige Gott heute in dieser österlichen Zeit als Zeitigung einer neuen Zeit in der alten sein unendliches Gespräch mit uns anheben und in der Stunde unseres Todes herrlicher und in der vollendeten Gestalt verwandelter Gemeinschaft fortsetzen will. Damit ist die Wende gesetzt, in welcher sich der Spieß der vergehend-vergänglichen Zeit in die Vergänglichkeit des Vergehens und das Vergehen der Vergänglichkeit selbst umgesetzt hat und wo die Enttäuschung der Jünger als Täuschung ent-täuscht wird, d.h. wo ihnen die gehaltenen Augen geöffnet und sie sehend werden.
Als derart zum Erkennen gebrachte Erkannte, die sehen, daß die Geschichte der Erkenntnis Gottes eine Geschichte seines Wiederkennens (anagnorisis) im Christus am See ist, können wir dem uns anredenden Gott lebend in glaubendem Gehorsam antworten, damit wir uns ihm sterbend wortlos überantworten können.

Amen.

Privatdozent Pfarrer Dr. Reinhard Weber
Blaue-Kuppe-Str. 37
37287 Wehretal
Tel./Fax: 05651/40225


[Zum Anfang der Seite]

[Zurück zur Hauptseite] [Zum Archiv] [Zur Konzeption] [Diskussion]