Vorbemerkung:
Die vorliegende Predigt stellt bewußt an die Hörerschaft
sowohl sprachlich wie auch gedanklich erhöhte
Anforderungen. Dies hängt mit ihrer argumentativen
Grundstruktur zusammen. Damit ist sich auch der Autor darüber
durchaus im Klaren, daß man den Predigttext gewiß auch
ganz anders aufnehmen und zur Darstellung bringen kann.
Insofern kann seine Predigt auch als ein Fundus
betrachtet werden, aus dem sich verschiedene Teilaspekte
herausziehen und unter veränderten homiletischen
Auspizien mit anderer Zielrichtung und in verwandelter
Gestalt verwenden lassen.
Hier kam es wesentlich darauf an, den einen
Zentralgedanken dieses johanneischen Ostertextes, nämlich
den der anagnorisis, in einer dezidierten und
prononcierten Weise in den Mittelpunkt zu stellen und ihn
auf einem Hintergrund zum Leuchten zu bringen, der aus
Osterkerygma onthropologisch generell in den Blick faßt.
Zugleich sollte die christologische Perspektive so
aufgezeigt werden, daß die Dimension der Frage nach dem
irdischen, sprich vorösterlichen Jesus in ihrer
theologischen Bedeutsamkeit dabei nicht unterschlagen,
sondern als notwendige Voraussetzung erkennbar wird.
Schließlich leitete Vf. die Intention, den im engeren
Sinne theologischen, wenn auch in der Geschichte selbst
nur unausdrücklich als begleitender und unterfangender
Horizont präsenten Kern der Erzählung so sichtbar zu
machen, daß dessen erkenntniskritische wie weltlich
paradoxale Struktur angemessen zum Austrag kommt.
Liebe Gemeinde!
"Alle Menschen sind sterblich." Dieser bekannte
Buchtitel eines vielgelesenen Erfolgsschriftstellers
unserer Tage trifft auch auf sie zu, die Zuhörer dieser
Predigt.
Den Beweis dafür kann man handgreiflich hier in dieser
Kirche vor sich sehen, wenn man so durch die Reihen
schaut. Wie viele, ja praktisch wohl fast alle von denen
fehlen, die hier vor ungefähr 20/30 Jahren aus der
Generation derer, die noch den ersten Weltkrieg bewußt
miterlebt hatten, weißhäuptig die Plätze füllten.
Und heute sind die, die damals in der vollen Kraft der
Mitte ihres Lebens standen, selber alt geworden und
gezeichnet vom Daseinskampf, und noch einmal eine Reihe
von Jahren, und auch ihre Sitze werden von anderen
besetzt oder aber vielleicht gar ganz leer sein.
Und aus den Kindern von damals sind heute Leute geworden
und werden morgen Greise sein.
Liebe Gemeinde, alle Menschen sind sterblich und aufs
Vergehen gestellt. Und alle Kulturen und Zeiten haben das
gewußt und eindringlich und manchmal herzzerreißend vom
Schmerz des Vergehens und der wehmütigen Erfahrung der
verrinnenden Zeit zu singen vermocht, wie etwa Matthias
Claudius in seinem bekannten Gedicht:
"Empfangen und genähret,
vom Weibe wunderbar,
kömmt er und sieht und höret
und nimmt des Trugs nicht wahr,
gelüstet und begehret
und bringt sein Tränlein dar;
verachtet und verehret,
hat Freude und Gefahr,
glaubt, zweifelt, wähnt und lehret.
Hält nichts und alles wahr.
Erbauet und zerstöret
Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst und zehret;
Trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet,
wenns hoch kommt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder
Und er kömmt nimmer wieder."
Liebe Gemeinde, beginnt so eine österliche Predigt über
einen Ostertext, denn das ist Johannes 21 ja!?
Ja, so beginnt eine Osterpredigt, weil unser Text so
beginnt! Auch wenn er das für sie vielleicht ganz
unbemerkt tut, gleichsam unter der Hand: auf einer auf
den ersten Blick verborgenen, unterirdischen Ebene redet
er nämlich von einer verlorenen Vergangenheit und so vom
Vergehen des Vergänglichen, sprich den ehemaligen
Fischern, die es wieder neu werden mußten und es doch
nicht mehr richtig sind und sein können.
Vor dieser Tür, vor dem Wiedereinstieg in diese alte,
verlorene Vergangenheit, vor dieser Wiederanknüpfung an
das Abgelebte ist ein Riegel, sein Name heißt Tod, Tod,
der auch mitten im Leben anwest, wo er eine bestimmte
Gestalt des Lebens unwiderruflich alt werden läßt wie
ein altes abgetragenes Gewand, in das man durch die
gelebte Erfahrung nicht mehr hineinpaßt. Vor dem
verlorenen galiläischen Jugendparadies der Jünger (und
wer von uns hatte kein solches) steht unerbittlich der
Engel mit dem Flammenschwert der Zeitlichkeit der Zeit
und verwehrt den Zutritt und die Wiederkehr (auch für
jeden von uns im Blick auf seine eigene Gewesenheit).
Keiner kann sich mehr einholen, sich selbst wieder-holen
als der, welcher er einst gewesen. Alles wird zu einer
stets schwächer werdenden, allenfalls
melancholisch-schwermütig eingetrübten und uns noch
einmal abständig erfassenden und möglicherweise überschwemmenden
Erinnerung. Kein vergangenes Gefühl ist in seiner
verlorenen Aktualität revozierbar, keine erlebte
Situation in voller, ungeminderter Präsenz erneuerbar.
Es bleibt schemenhaft und unwirklich, was wir erfuhren,
wovon wir einmal voll und ganz bestimmt waren. Wir sind
uns selbst Entgleitende, und gerade dort um so mehr, wo
wir uns um jeden Preis halten möchten. Der Hand, die
sich krampft, wird das Gehaltene um so gewaltsamer
entzogen. Die Zeitlichkeit der Zeit ist für uns immer
auch und zuletzt die Tödlichkeit des Todes.
Den Jüngern in unserer Geschichte, die mit ihrer Rückkehr
in ihre galiläische Heimat nach den katastrophischen
Jerusalemer Ereignissen, die sie all ihrer Hoffnungen und
Träume beraubt hatten, einen Anknüpfungspunkt an ihr
altes Leben suchten, mußten wohl auch feststellen, daß
dies so nicht ging, wie sie sich das vielleicht gedacht
hatten: den alten, abgebrochenen Faden wiederaufnehmen.
Mit diesen Erlebnissen im Rücken waren sie nicht mehr
dieselben, als die sie ausgezogen waren und alles hinter
sich gelassen hatten einschließlich ihrer Fischerei.
Wenn man als ein anderer dahin zurückkehrt, wo man noch
jener gewesen war, dann findet man sich dort nicht mehr
als dieser! Die Jünger, die mit Jesus mitgezogen und ihm
auf seinem Wege bis nach Jerusalem nachgefolgt waren, die
konnten nicht so tun, als ob nichts gewesen wäre, die
kehrten als tiefgreifend Veränderte, Verwandelte dorthin
zurück, von wo sie einst ausgezogen waren, mögen sie
das zunächst auch vor sich selbst verborgen haben. Und
mag ihre Heimat auch äußerlich nahezu unverändert
dieselbe geblieben sein, sie selber aber waren nicht mehr
dieselben, ihre Perspektive, ihr Menschsein hatte sich
verwandelt. Es ist nichts mehr mit der Fischerei! Man
kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen (Heraklit)!
Und in dieser Erfahrung wird der Stachel der
Sterblichkeit als Ausdruck der fallenden Zeit in uns
beunruhigend wach.
Also, verehrte anwesende Sterbliche, das ist das erste,
was wir heute aus unserem Ostertext zu lernen haben: der
Tod als die Vollendung und Vollstreckung der Zeitlichkeit
der Zeit ist uns nichts Äußerliches, kein Zufall, dem
wir da irgendwann am Ende einmal ausgesetzt sind,
gleichsam eine Art unerwarteter, bedauerlicher
Betriebsunfall, der etwa in seinen Folgen rückgängig
gemacht oder bei vorsichtigerem Verhalten oder besserer
Beachtung der Bedienungsvorschriften hätte vermieden
werden können.
Nein, er ist unser Ureigenstes, das uns Innerlichste, das
wir ständig wie eine Frucht in und mit uns herumtragen,
die wir langsam ausreifen; er ist die Signatur unserer
Existenz als eines Seins zum Tode. Das war auch die
Erfahrung der Jünger in unserer Geschichte, die sie
allerdings wohl kaum schon voll und bewußt realisierten,
die sie vielmehr eher verdrängten durch ihren nicht
gelingenden Rückkehrversuch ins alte Leben, in die alte
Lebenswelt, in ihre vergangene Lebensgestalt, als ob die
Schlange in ihre alte, abgeworfene Haut zurückkehren
wollte.
Ja, und das versuchen wir in unsrer ganzen Gesellschaft
ja permanent auch mit den alten Rezepten und Mitteln auf
die Herausforderungen der Zukunft zu reagieren, unser
grundlegend verändertes Sein wieder loszuwerden, zu
vergessen, unsere Erfahrungen gleichsam rückgängig und
ungeschehen zu machen! Und so verschlimmern wir von Tag
zu Tag unsere Situation, taumeln bewußtlos ins Nichts,
in eine sich ausbreitende Leere, die Wüste des
sinnentleerten Lebens, das die Orientierung verloren hat
und einfach nur so weitermacht.
Und weil wir die lebendige und umwandelnde Erfahrung der
Tödlichkeit der sich zeitigenden und an uns sich
auszeitigenden Zeit ausgrenzen, nicht einmal mehr
wahrhaben wollen, was die frühere Menschheit
lebensbegleitend umschloß, was jederzeit in geballter,
beklemmender und auch lösender Eindringlichkeit um sie
herumstand, darum hat unsere Verdrängung uns auf der
Gegenseite den Kult der Todesverherrlichung in Video und
Fernsehen beschert, wo der Tod massenhaft künstlich
inszeniert wird, um seinen Sporn auf eine abstruse Weise
zu spüren, nämlich um damit die Unlebendigkeit des
faktisch gelebten Lebens zu übertönen und zu
kompensieren in einem. Und so schlägt das Weggedrängte
uns nur um so gewisser in seinen nun als Nervenkitzel und
Brutalität denaturierten Bann.
Der Tod ihrer - auch religiösen - Hoffnungen und Lebenswünsche,
die sie mit Jesus verbunden hatten, hatte die Jünger den
verzweifelt-resignierten Schritt nach Galiläa zurück
tun lassen.
Aber ihr Lebenszusammenhang war doppelt unterbrochen, der
alte als einfache Fischer am See, aus dem sie der Ruf
Jesu herausgerissen hatte, der neue als Nachfolger des
Meisters, der ihnen Karfreitag auf Golgatha abhanden
gekommen war. Sie sind die Verlassenen schlechthin, denen
die Kontinuität ihres Lebensentwurfes zerrissen,
zerbrochen ist, die nur noch Fragmente in den Händen
halten und es selber noch nicht so recht wissen. Es ist
der Verlust der Zukunft mitten in der Zeit, mitten in
ihrem irdischen Leben, der ihnen auf die Stirn
geschrieben ist.
Die kleinen Tode, die wir schon mitten im Erdendasein
sterben, sind ja nichts anderes als Vorabbildungen,
Vorboten, Vorausdarstellungen des großen Tods, der auf
uns wartet.
Und schon das kleine Kind, dem der bunte Ball, an dem
sein Herz hängt, in einen rostigen Nagel fliegt und
zerplatzt, kennt diesen Schmerz, den Schmerz der Vergänglichkeit,
der Unbeständigkeit und des Abschiednehmenmüssens, der
Irreversibilität der Zeit und allen Geschehens.
Nein, das ist uns nicht fremd, vielmehr ganz nah. Wer hat
das nicht schon gespürt, daß etwas in ihm abstirbt,
verwehrende Spuren gelebten Lebens, Zerbrechen von
Zukunftsentwürfen, Lebensplänen, Glückserwartungen.
Dafür muß man keine Beispiele suchen. Sie liegen auf
der Straße.
Und in dieser durchgängigen Abschiedlichkeit unseres
ganzen lebendigen Daseins bereitet sich - wie gesagt -
doch nur vor und zeigt sich doch nur an, was sich am Ende
im leiblichen Sterben vollendet und zusammenfaßt. Da
kommt doch nur heraus, was wir in Wahrheit schon immer
sind, endliche, begrenzte Wesen, die am Ende gar von sich
selber Abschied nehmen müssen!
Der Tod gehört zum Leben wie das Salz in die Suppe.
Deshalb: die Titelseiten der Illustrierten, auf denen im
wahrsten Sinne des Wortes stets nur das große Leben
prangt, lügen. Sie lügen gut, aber es ist nur die eine
Seite, und die andere wird wohlweislich vertuscht.
Denn am Ende, da müssen wir in der Tat nicht nur vom
prallen Leben, sondern sogar vom Innersten, von unserem
Eigentlichsten, nämlich von selbst Abschied nehmen. Da
erweist sich, daß wir nicht einmal uns selber wahrhaft
haben, besitzen und festhalten können. Wir gehören uns
nicht einmal selbst! Und was sich da im Sterben
offenbart, das ist ja nichts anderes als die innere
Struktur des Lebens selbst, um die wir darum auch schon
jetzt wissen können.
Das ist das eine, wovon die Jünger betroffen sind und
wir mit ihnen. Aber da gibt es noch ein anderes, und
dieses andere ist der Verlust Gottes im Verlust ihres
Herrn und Meisters. Das ist der Tod ihrer Seele als dem
Ort der tiefsten und höchsten Lebenshoffnungen, das
Kraftzentrum. In ihm ist ein Zerbruch eingetreten. Kern
und Stern ihres Daseins sind verschwunden. Da ist eine
tiefgreifende Lähmung eingetreten. Jetzt leben sie so
dahin. Was bleibt sonst, wenn Gott als das Lebenselexier
des Menschen sich aus der Mitte seines Lebens
verabschiedet hat, wenn er sich entzog. Das ist der
eigentliche Tod!
Und an dieser Stelle kippt nun unsere Geschichte, schlägt
um, wird sie zur Ostergeschichte, denn an dieser Stelle
geschieht nun für die Jünger das, was Ostern heißt, nämlich
anagnorisis: im Morgengrauen steht Jesus am Ufer! Die
hungrigen Jünger haben leere Netze. Saft und Kraft ihres
Lebens sind ausgelaufen, zerronnen, zerplatzt. Ziellos
vagieren sie dahin, heimatlos zuhause. Da steht Jesus am
Ufer, er steht am Ufer des Meeres und holt die Fische aus
dem verschlossenen See, d.h. er öffnet das verstellte
Leben für die ihm entzogene Nahrung, für das Leben, das
sich ob der erfahrenen Enttäuschung in sich eingehaust
hat: "Habt ihr denn nichts zu essen?"
"Nein!" "Werft die Netze ins Meer!"
Da zappelt das entschwundene Leben in ihnen. Und da
geschieht anagnorisis, Wiedererkennung: "Es ist der
Herr"!
Das ist das Osterereignis in dieser Geschichte:
anagnorisis! Das gestorbene Leben lebt, das entschwundene
Leben wird als das nahe, als das anwesende erkannt, der
verlorene Gott taucht aus den Fluten des Vergessens, aus
den Wassern des Todes, aus dem See wieder auf, kommt
empor aus dem Brunnen der Vergangenheit, denn: "Tief
ist der Brunnen der Vergangenheit" (Th. Mann).
Und er teilt Fisch und Brot aus, Brot und Wein, eben sich
selbst. Dahin werden auch die dunklen Pfade des Wanderers
geführt, dessen Haus durch eine von Schmerz versteinerte
Schwelle unzugänglich geworden war, wie es Georg Trakl
beschrieben hat:
"Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor aus dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein."
"Mitten wir im Leben sind von dem Tod
umfangen", so sagt das bekannte mittelalterliche
Kirchenlied. "media vita in morte -kers umb- medis
morte in vita sumus. sic dicit, sic credit
Christianus." Also: mitten im Leben sind wir im
Tode, kehr es um, mitten im Tode sind wir im Leben, so
spricht, so glaubt ein Christ, so sagt es Luther in einer
Predigt zu Mariä Heimsuchung 1523.
Ostern hat am Tod etwas verändert, genauer: an der Tödlichkeit
dieses Todes. Der gottverlorene Christ fällt nämlich
sterbend nicht mehr ins Nichts, in die absolute
Selbstverlorenheit, er fällt auch lebend nicht mehr in
die resignative Verzweiflung an der Sinnlosigkeit des
weltverlorenen und erdentfremdeten, des irreversibel
vergehend-vergänglichen, weil zeithaft-geschichtlichen
Daseins, er fällt vielmehr in die anagnorisis: es bist
ja Du, Du bist es ja, ja, Du bist es! Der heimgegangene Jünger
fällt an den heimgegangenen Gott heim. Denn er begegnet
diesem Gott im Tod seines Lebens! Im Gottesverlust als
Lebensentzug, im Lebensverlust als Gottesentzug begegnet
Gott.
Das kommt, weil Gott selber im Tode ist und den Jünger
dort empfängt, in der resignatio ad inferum, der
absoluten Verzweiflung, der desparatio. Und die kann ganz
unmerklich-unausgesprochen sein wie bei den Jüngern in
der Geschichte.
Das ist der Kern unseres Predigttextes: im Tod, in seinem
eigenen Tod, in seinem Sterben für den Menschen ist Gott
lebendig. Der gestorbene Gott lebt! Der dem Menschen aus
der Mitte seines Lebens entzogene Gott ist der Nahe, der
ihn ans Ufer winkt und dort auf ihn mit den Gaben des
Lebens wartet.
Das läßt sich wohl nur so verstehen, daß Gott sich mit
dem gekreuzigten Jesus, der ihn als den heilvollen in
seinem Wirken und Geschick vollmächtig in Anspruch
genommen und seine sündenvergebende Liebe ereignet
hatte, zu Ostern identifiziert, sich zu ihm bekannt hat
und dadurch anzeigt, daß der Tod, aus dem er Jesus zu
sich herausruft, ihm selber fortan nichts Fremdes mehr
ist, sondern nun als ein Moment ins Leben Gottes
hineingehört. In Jesu Todesleiden, so muß man sich das
wohl deutlich zu machen suchen, hat sich Gott der Macht
des Negativen, der Spitze der Endlichkeit ausgesetzt und
sich in diesem Prozeß zwischen Leben und Tod erhalten
und als der todüberwindende Lebendige erwiesen. Indem er
in der Auferweckung Jesus gegenüber seinen Gegnern ins
Recht setzt, bestätigt er die Verkündigung Jesu vom
rettenden Vatergott und erweist sich an seinem zu Tode
gebrachten westlichen Repräsentanten in der Weise als
schöpferischer Erretter, als der ihn dieser in seinem
Wort und Werk zur Darstellung gebracht hatte. Eben dieses
Handeln aber war es gewesen, das Jesus nach Golgatha
gebracht hatte! Und so steht in Jesu Todespassion nichts
Geringeres auf dem Spiel als Recht und Wahrheit seines
Gottesglaubens und seiner Gottesverkündigung durch Wort
und Tat. Am Kreuz Jesu leidet Gott selber mit, treibt er
auf die Höhe seiner passio magna, seiner großen Passion
an der Welt.
Und also kommt das österliche Wort von dem auferweckten
Jesus aus der Tiefe der göttlichen Todesgemeinschaft mit
dem Nazarener. So wie der ihm lebend die Treue gehalten
hatte bis in den Tod, so erwidert sie ihm Gott sterbend
bis ins Leben! In das neue Leben, das göttliche Leben.
Gott ist im Tod als der Lebendige. Und Auferweckung heißt
dann nichts anderes als Leben im und aus dem Tod, daß im
Tod das Leben ist, so paradox das auch klingen mag.
Dadurch aber, liebe Gemeinde, daß sich im Osterereignis
etwas im Verhältnis Gottes zum Tod verändert hat, verändert
sich auch etwas an der Tödlichkeit unseres Lebens als
der sich in ihm als Zeitlichkeit zeitigenden Zeit, wo und
sofern wir uns in dieses Geschehen zwischen Gott und
Jesus hineinnehmen lassen.
Wo jedoch ereignet sich dieses Geschehen für uns?
Dieses Geschehen begegnet uns im Wort der Predigt! Die
Predigt ist für uns der See Genezareth der Jünger, der
Ort der anagnorisis. Im gepredigten Wort von Karfreitag
und Ostern können wir der Hoffnung gewiß werden, daß
Gott auch unserem Tod die Tödlichkeit genommen hat, weil
und indem er die Tödlichkeit unseres Lebens begrenzte,
dadurch daß er sich diese an dem Mann aus Nazareth
auswirken ließ, so daß wir im Sterben nicht mehr durch
die Abgründigkeit des unserem Wesen geschuldeten
schlechthinnigen Vergehens begrenzt werden, sondern durch
nichts anderes als Gott selber! Denn Ostern ist die
Osterbotschaft als Gestalt der Wirksamkeit des
Ostergeschehens.
Und so ist Ostern die Ostergewißheit, daß wir im Tod
nicht dem Nichts, sondern dem unsterblichen Gott begegnen
zu ewiger Gemeinschaft mit ihm. Und dieser Tod und damit
auch seine Überwindung finden mitten im Leben statt.
Denn diese ewige Gemeinschaft hat wie die zeitliche
Entfremdung schon eine irdische Vorgeschichte, die genau
da anhebt, wo uns der Zuspruch des Lebens mitten im
irdischen Leben ins Herz trifft und wir der Stimme Gottes
inne werden, die uns aus der Gefangenschaft ins eigene
Ich und dessen Drang in die Verhältnislosigkeit des
Todes herausruft zu der Begegnung mit der Quelle des
Lebens, welche ein bleibendes Verhältnis schafft: durch
anagnorisis!
Der Gott, der uns im Tode bewahrend und verewigend auffängt
und unser vergängliches Dasein in ein neues, unvergängliches
Leben wendet, der beginnt und will seine Geschichte mit
uns schon vorher beginnen, mitten in der vergehenden
Zeitlichkeit, hier und jetzt und wann immer das Wort an
uns ergeht; ja in Jesu Wirken, Tod und Auferweckung hat
er sie schon begonnen. In ihm hat er das Gespräch mit
uns und der ganzen Menschheit schon angefangen und so den
Grund dafür gelegt, daß wir schon jetzt mitten in all
der Todverfallenheit unseres Wesens und dieser ganzen
Welt in ein unzerstörbares Leben hineingenommen sind,
das kein Tod mehr töten kann, weil Ostern des Todes Tod
ist.
Liebe Gemeinde, ich könnte es nicht besser sagen als der
alte Luther, der an einer Stelle bekennt: "Wo aber
und mit wem Gott redet, es sei im Zorn oder in der Gnade,
derselbe ist gewiß unsterblich. Die Person Gottes, der
da redet, und das Wort Gottes zeigen, daß wir solche
Kreaturen sind, mit denen Gott bis in die Ewigkeit und
unsterblicherweise reden will."
Unsere heutige Ostergeschichte zeigt den Gott in Jesus,
der mit den hoffnungslosen und enttäuschten Jüngern und
ihren stumm gewordenen Seelen mitten in der Nacht ihres
Lebens ein Gespräch beginnt, der sie anredet und das
Brot reicht.
Nicht also unsere vielmehr in allem vergehend-vergängliche
Natur ist es, die uns Unsterblichkeit verbürgt, sondern
allein die Tatsache, daß der unendliche Gott das Gespräch
mit seinem endlichen Geschöpf schon mitten in dessen
Endlichkeit aufgenommen hat und es auch dann nicht abreißen
läßt, wenn uns im leiblichen Sterben in ohnmächtigem
Verstummen die Möglichkeit zur Antwort aus der Hand
genommen wird. Darum ist es an uns um so mehr und mit
ganzer Aufmerksamkeit dafür Sorge zu tragen, daß wir
jetzt in der Stunde, wo es für uns noch Tag ist, den
Faden des göttlichen Sprechens mit uns aufnehmen und ihm
antworten, damit unser Selbstsein in Gott geborgen ist,
wenn wir ins Schweigen unserer Rede einkehren. Sein Leben
als Christen führen heißt also, das Gespräch, welches
uns Gott mit sich im Gekreuzigten und Auferweckten
anbietet, als lebendige Gestalt unseres ganzen Daseins führen.
Das Bestimmtwerden von dieser Kommunikation ist die Form,
in welcher das österliche Leben unter uns Realität
wird!
Dem Tode in all seinen Äußerungsformen ist im
Christusereignis der Stachel der Gottverlassenheit
gezogen worden, und er ist im Leben Gottes zurückgeblieben!
Das ist das Wort, durch das der ewige Gott heute in
dieser österlichen Zeit als Zeitigung einer neuen Zeit
in der alten sein unendliches Gespräch mit uns anheben
und in der Stunde unseres Todes herrlicher und in der
vollendeten Gestalt verwandelter Gemeinschaft fortsetzen
will. Damit ist die Wende gesetzt, in welcher sich der
Spieß der vergehend-vergänglichen Zeit in die Vergänglichkeit
des Vergehens und das Vergehen der Vergänglichkeit
selbst umgesetzt hat und wo die Enttäuschung der Jünger
als Täuschung ent-täuscht wird, d.h. wo ihnen die
gehaltenen Augen geöffnet und sie sehend werden.
Als derart zum Erkennen gebrachte Erkannte, die sehen, daß
die Geschichte der Erkenntnis Gottes eine Geschichte
seines Wiederkennens (anagnorisis) im Christus am See
ist, können wir dem uns anredenden Gott lebend in
glaubendem Gehorsam antworten, damit wir uns ihm sterbend
wortlos überantworten können.
Amen.
Privatdozent Pfarrer Dr. Reinhard Weber
Blaue-Kuppe-Str. 37
37287 Wehretal
Tel./Fax: 05651/40225
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