Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Quasimodogeniti
11. April 1999
Predigttext: Johannes 21, 1-14
Verfasser: Dr. Hans W. Schütte


Unter den vielen Ostergeschichten, die im Neuen Testament überliefert sind, ist die aus dem letzten Kapitel des Johannes-Evangeliums von besonderem Reiz. Sie erzählt dasselbe, was die übrigen auch erzählen, aber sie erzählt es so anders, daß es gar nicht leicht ist, zu erkennen, daß es dieselbe Geschichte ist. Die christlichen Gemeinden müssen unaufhörlich darüber nachgedacht haben, was am Ostertag passiert war, und so haben sie immer wieder angefangen, Geschichten zu erzählen. Sie haben auch schnell bemerkt, daß, wer Geschichten erzählt, dafür sorgen muß, daß der Hörer, daß der Leser wiedererkennt, wovon die Rede ist. Darum kümmert sich das letzte Kapitel aus dem Johannes-Evangelium. Es fragt einfach: Wer ist dieser Jesus? Woran können die Jünger erkennen, daß er zurückgekehrt ist? Woran erkennen sie, daß er derselbe ist, den sie kannten, als er zusammen mit ihnen die Wege am See Tiberias entlangging?
Die Jünger können nur erkennen, sie können nur wiedererkennen, wenn sich Jesus offenbart. Und es heißt, daß er sich dreimal offenbart habe. Würde er sich nicht offenbaren, bliebe er verborgen. Dann könnten Gerüchte entstehen und Vermutungen, aber keiner würde ihn wiedererkennen, wenn er am Ufer des Sees stünde. Offenbart er sich, dann tritt er aus der Unsichtbarkeit heraus, dann muß er aber auch dafür sorgen, daß die Seinen ihn an solchen Ereignissen erkennen, die sie schon einmal erlebt haben, die sich nun wiederholen und die Erinnerungen heraufkommen lassen, die genau so sind wie das, was sie jetzt sehen. Sieben Jünger halten sich am See Tiberias auf. Dieser See gehört in die Anfänge ihrer Geschichte mit Jesus. Dort haben sie ihn gesehen, als sie mit den Booten beschäftigt waren. Dort hat er sie angesprochen. Dort hat er es vermocht, daß sie alles verließen, um ihm zu folgen. Am See Tiberias begann die Geschichte ihrer Erkenntnis.
Am See Tiberias offenbart sich Jesus den Jüngern. Es scheint sich zu wiederholen. was schon einmal geschehen war. Und doch ist es ganz anders.
Wenn sich nur wiederholt, was schon einmal war, dann kann es langweilig werden. Und doch müssen sich Dinge wiederholen, damit die Erinnerung belebt wird und der von der Erinnerung Bewegte an den Punkt geführt wird, an dem er sagen kann: Es ist der Herr. Erkennen ist immer auch Wiedererkennen. Wenn das Erkennen nicht wiedererkennt, dann ist auch die Offenbarung ohne Ertrag. Die Offenbarung enthält nicht schon die Garantie, daß sie auch erkannt wird.
"Jesus offenbarte sich den Jüngern am See Tiberias." Was dann als Offenbarung beschrieben wird, ist sehr merkwürdig. Jesus offenbart sich so, daß noch einmal geschieht, was schon geschehen war. Schon einmal hatte Petrus gesagt: Ich will fischen gehen. Das hatte er schon oft gesagt. Es sind Worte, die zu seinem Beruf gehören. Mit dem Boot hinausfahren, das gehörte zu seiner täglichen Beschäftigung. Und die anderen, die wie Petrus Fischer waren, sagen: Wir wollen mit dir gehen. Auch das wiederholte sich immer wieder. Tag für Tag. Fischer fahren hinaus, um ihre Netze auszuwerfen. Daran ist gar nichts Geheimnisvolles. Erst als die Sieben bemerken, daß sich wiederholt, was schon einmal war, daß sie Spieler in einem Spiel sind, dessen Regeln sie nicht festgelegt haben, erkennen sie, was sie schon einmal erkannt haben. Aber dieser Augenblick steht ihnen noch bevor.
Jetzt fahren sie hinaus. Die Nacht fängt an. Sie werfen das Netz aus, und das Netz bleibt leer. Auch diese Erfahrung gehört zu ihrem Alltag. Und doch erzählt der Verfasser die Geschichte so, daß im Hintergrund aller Vorgänge der steht, der gekommen war, um sich zu offenbaren.
Am Morgen ist es dann soweit. Jesus steht am Ufer. Die Nacht ist vorüber, die Zeit seiner Verborgenheit geht zuende. Er steht dort, wo er schon oftmals gestanden hat. Die Jünger sehen ihn, aber sie erkennen ihn nicht. Wer nach kurzer Zeit, aber gegen alles Erwarten an den Ort vergangener Tätigkeit zurückkehrt, der muß damit rechnen, nicht wiedererkannt zu werden. Wer von den Toten zurückkehrt, wird leicht für jemand anderen gehalten. Es ist schwer, sich erkennbar zu machen; es ist schwer, zu erkennen. Sich zu offenbaren allein genügt nicht. Einen Mann am Ufer stehen zu sehen, genügt auch nicht.
Deshalb spricht Jesus die Jünger an und sagt: Habt ihr nichts zu essen? Sie verneinen. Dann aber sagt er etwas, was er schon einmal gesagt hat: Werft die Netze aus. Die Jünger tun es. Und es passiert, was schon einmal passiert war. Das Netz ist voll und so schwer, daß sie es nicht mehr ans Ufer ziehen können.
Einer von den Sieben weiß es auf einmal. Er hat dasselbe gesehen, was die anderen auch gesehen haben, aber er weiß, was er gesehen hat: das Ufer, das Boot, der Fang - und er sagt: Es ist der Herr. Einer verknüpft das, was gerade geschehen ist mit dem, was vor langer Zeit geschah, und indem er verknüpft, verschmilzt die Person von damals mit der von heute, die am Ufer steht. Dieser eine, der erkennt, ist der Jünger, den Jesus liebhatte. Liebe öffnet die Augen. Liebe fügt zusammen, was zusammengehört. Liebe findet die Worte für das Wiedererkennen: Es ist der Herr.
Petrus hört diese Worte, und er springt ins Wasser. Petrus muß etwas tun. Vielleicht denkt er: Handeln ist mehr als erkennen. Handeln macht nach diesem Fang die Hungrigen satt. Aber Petrus kommt zu spät. Auf den Kohlen am Ufer liegen Fische und Brot. Das Mahl ist schon bereitet. Und doch kommt Petrus ans Ziel. Er zieht den Fang an Land, und im Netz befinden sich 153 Fische. Wir wissen nicht, was diese Zahl bedeutet. Wir wissen nicht, was die Jünger vielleicht wußten. Wir haben kleine Anhaltspunkte, um zu wiederholen, was wiederholt werden muß, damit Erkenntnis zustande kommt.
Was dann geschieht, ist schon einmal geschehen. Jesus lädt die Jünger zum Mahl. Sie hören Worte, die er ihnen sagt, sie kennen diese Worte, aber sie wagen nicht zu fragen, wer er sei. Sie brauchen ihn nicht zu fragen. Sie wissen, daß es der Herr ist. Sehen - erkennen - wissen, und am Ende die Aussage: Es ist der Herr.
Jesus nimmt das Brot und gibt es ihnen. So haben sie es schon einmal gegessen. Er reicht ihnen Brot und Fisch, und sie wissen Bescheid. Jesus hat sich offenbart, und für die Jünger hat sich wiederholt, was sie zu seiner Erkenntnis führt. Sie haben in dem Mann am Ufer den Auferstandenen und im Auferstandenen den Herrn erkannt. Sie haben in dem Auferstandenen den wiedererkannt, mit dem sie zu Lebzeiten am See Tiberias waren.
Der Tod hat diese Erkenntnis nicht verhindern können. Der wollte trennen, was zusammengehört. Der Herr zeigt sich als der eine und derselbe, und die Jünger halten zusammen, was sich ihnen im Wiedererkennen gezeigt hat.
Es war das dritte Mal, daß Jesus seinen Jüngern offenbart ward. Offenbarung muß sich wiederholen, damit Erkenntnis zustandekommt.
Amen.



Anmerkungen

Der Abschnitt Joh. 21, 1-14 besteht nach Auskunft der Kommentare aus zwei, zunächst unabhängig voneinander überlieferten Geschichten. Die eine erzählt von dem glücklichen Ausgang eines Fischfangs, die andere von einem gemeinsamen Essen.
Der Redaktor, der diese beiden Geschichten zusammengefügt hat, hat freilich Spuren seiner Arbeit hinterlassen: Spannungen, kleine Ungereimtheiten, Härten in der gedanklichen Fügung.
Aber diese Beobachtungen, so zutreffend sie sind, fallen nicht sehr ins Gewicht. Wer immer den Abschnitt 21, 1-14 in seine Endfassung gebracht hat, hat eine Geschichte von großem Reiz erzählt. Und dieser Reiz geht von dem aus, was nicht ausgesprochen wird, was aber über Wiederholungen zum Erkennen führt. Obwohl das Wort "Glauben" nicht verwendet wird, ist das Zustandekommen von "Glauben" beschrieben. Glauben ist der Akt, der mit dem Sehen beginnt und im Erkennen oder im Wissen endet.

Dr. Hans W. Schütte, Kirchstraße 40a, 29221 Celle


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