Unter den vielen Ostergeschichten, die im Neuen Testament
überliefert sind, ist die aus dem letzten Kapitel des
Johannes-Evangeliums von besonderem Reiz. Sie erzählt
dasselbe, was die übrigen auch erzählen, aber sie
erzählt es so anders, daß es gar nicht leicht ist, zu
erkennen, daß es dieselbe Geschichte ist. Die
christlichen Gemeinden müssen unaufhörlich darüber
nachgedacht haben, was am Ostertag passiert war, und so
haben sie immer wieder angefangen, Geschichten zu
erzählen. Sie haben auch schnell bemerkt, daß, wer
Geschichten erzählt, dafür sorgen muß, daß der
Hörer, daß der Leser wiedererkennt, wovon die Rede ist.
Darum kümmert sich das letzte Kapitel aus dem
Johannes-Evangelium. Es fragt einfach: Wer ist dieser
Jesus? Woran können die Jünger erkennen, daß er
zurückgekehrt ist? Woran erkennen sie, daß er derselbe
ist, den sie kannten, als er zusammen mit ihnen die Wege
am See Tiberias entlangging?
Die Jünger können nur erkennen, sie können nur
wiedererkennen, wenn sich Jesus offenbart. Und es heißt,
daß er sich dreimal offenbart habe. Würde er sich nicht
offenbaren, bliebe er verborgen. Dann könnten Gerüchte
entstehen und Vermutungen, aber keiner würde ihn
wiedererkennen, wenn er am Ufer des Sees stünde.
Offenbart er sich, dann tritt er aus der Unsichtbarkeit
heraus, dann muß er aber auch dafür sorgen, daß die
Seinen ihn an solchen Ereignissen erkennen, die sie schon
einmal erlebt haben, die sich nun wiederholen und die
Erinnerungen heraufkommen lassen, die genau so sind wie
das, was sie jetzt sehen. Sieben Jünger halten sich am
See Tiberias auf. Dieser See gehört in die Anfänge
ihrer Geschichte mit Jesus. Dort haben sie ihn gesehen,
als sie mit den Booten beschäftigt waren. Dort hat er
sie angesprochen. Dort hat er es vermocht, daß sie alles
verließen, um ihm zu folgen. Am See Tiberias begann die
Geschichte ihrer Erkenntnis.
Am See Tiberias offenbart sich Jesus den Jüngern. Es
scheint sich zu wiederholen. was schon einmal geschehen
war. Und doch ist es ganz anders.
Wenn sich nur wiederholt, was schon einmal war, dann kann
es langweilig werden. Und doch müssen sich Dinge
wiederholen, damit die Erinnerung belebt wird und der von
der Erinnerung Bewegte an den Punkt geführt wird, an dem
er sagen kann: Es ist der Herr. Erkennen ist immer auch
Wiedererkennen. Wenn das Erkennen nicht wiedererkennt,
dann ist auch die Offenbarung ohne Ertrag. Die
Offenbarung enthält nicht schon die Garantie, daß sie
auch erkannt wird.
"Jesus offenbarte sich den Jüngern am See
Tiberias." Was dann als Offenbarung beschrieben
wird, ist sehr merkwürdig. Jesus offenbart sich so, daß
noch einmal geschieht, was schon geschehen war. Schon
einmal hatte Petrus gesagt: Ich will fischen gehen. Das
hatte er schon oft gesagt. Es sind Worte, die zu seinem
Beruf gehören. Mit dem Boot hinausfahren, das gehörte
zu seiner täglichen Beschäftigung. Und die anderen, die
wie Petrus Fischer waren, sagen: Wir wollen mit dir
gehen. Auch das wiederholte sich immer wieder. Tag für
Tag. Fischer fahren hinaus, um ihre Netze auszuwerfen.
Daran ist gar nichts Geheimnisvolles. Erst als die Sieben
bemerken, daß sich wiederholt, was schon einmal war,
daß sie Spieler in einem Spiel sind, dessen Regeln sie
nicht festgelegt haben, erkennen sie, was sie schon
einmal erkannt haben. Aber dieser Augenblick steht ihnen
noch bevor.
Jetzt fahren sie hinaus. Die Nacht fängt an. Sie werfen
das Netz aus, und das Netz bleibt leer. Auch diese
Erfahrung gehört zu ihrem Alltag. Und doch erzählt der
Verfasser die Geschichte so, daß im Hintergrund aller
Vorgänge der steht, der gekommen war, um sich zu
offenbaren.
Am Morgen ist es dann soweit. Jesus steht am Ufer. Die
Nacht ist vorüber, die Zeit seiner Verborgenheit geht
zuende. Er steht dort, wo er schon oftmals gestanden hat.
Die Jünger sehen ihn, aber sie erkennen ihn nicht. Wer
nach kurzer Zeit, aber gegen alles Erwarten an den Ort
vergangener Tätigkeit zurückkehrt, der muß damit
rechnen, nicht wiedererkannt zu werden. Wer von den Toten
zurückkehrt, wird leicht für jemand anderen gehalten.
Es ist schwer, sich erkennbar zu machen; es ist schwer,
zu erkennen. Sich zu offenbaren allein genügt nicht.
Einen Mann am Ufer stehen zu sehen, genügt auch nicht.
Deshalb spricht Jesus die Jünger an und sagt: Habt ihr
nichts zu essen? Sie verneinen. Dann aber sagt er etwas,
was er schon einmal gesagt hat: Werft die Netze aus. Die
Jünger tun es. Und es passiert, was schon einmal
passiert war. Das Netz ist voll und so schwer, daß sie
es nicht mehr ans Ufer ziehen können.
Einer von den Sieben weiß es auf einmal. Er hat dasselbe
gesehen, was die anderen auch gesehen haben, aber er
weiß, was er gesehen hat: das Ufer, das Boot, der Fang -
und er sagt: Es ist der Herr. Einer verknüpft das, was
gerade geschehen ist mit dem, was vor langer Zeit
geschah, und indem er verknüpft, verschmilzt die Person
von damals mit der von heute, die am Ufer steht. Dieser
eine, der erkennt, ist der Jünger, den Jesus liebhatte.
Liebe öffnet die Augen. Liebe fügt zusammen, was
zusammengehört. Liebe findet die Worte für das
Wiedererkennen: Es ist der Herr.
Petrus hört diese Worte, und er springt ins Wasser.
Petrus muß etwas tun. Vielleicht denkt er: Handeln ist
mehr als erkennen. Handeln macht nach diesem Fang die
Hungrigen satt. Aber Petrus kommt zu spät. Auf den
Kohlen am Ufer liegen Fische und Brot. Das Mahl ist schon
bereitet. Und doch kommt Petrus ans Ziel. Er zieht den
Fang an Land, und im Netz befinden sich 153 Fische. Wir
wissen nicht, was diese Zahl bedeutet. Wir wissen nicht,
was die Jünger vielleicht wußten. Wir haben kleine
Anhaltspunkte, um zu wiederholen, was wiederholt werden
muß, damit Erkenntnis zustande kommt.
Was dann geschieht, ist schon einmal geschehen. Jesus
lädt die Jünger zum Mahl. Sie hören Worte, die er
ihnen sagt, sie kennen diese Worte, aber sie wagen nicht
zu fragen, wer er sei. Sie brauchen ihn nicht zu fragen.
Sie wissen, daß es der Herr ist. Sehen - erkennen -
wissen, und am Ende die Aussage: Es ist der Herr.
Jesus nimmt das Brot und gibt es ihnen. So haben sie es
schon einmal gegessen. Er reicht ihnen Brot und Fisch,
und sie wissen Bescheid. Jesus hat sich offenbart, und
für die Jünger hat sich wiederholt, was sie zu seiner
Erkenntnis führt. Sie haben in dem Mann am Ufer den
Auferstandenen und im Auferstandenen den Herrn erkannt.
Sie haben in dem Auferstandenen den wiedererkannt, mit
dem sie zu Lebzeiten am See Tiberias waren.
Der Tod hat diese Erkenntnis nicht verhindern können.
Der wollte trennen, was zusammengehört. Der Herr zeigt
sich als der eine und derselbe, und die Jünger halten
zusammen, was sich ihnen im Wiedererkennen gezeigt hat.
Es war das dritte Mal, daß Jesus seinen Jüngern
offenbart ward. Offenbarung muß sich wiederholen, damit
Erkenntnis zustandekommt.
Amen.
Anmerkungen
Der Abschnitt Joh. 21, 1-14 besteht nach Auskunft der
Kommentare aus zwei, zunächst unabhängig voneinander
überlieferten Geschichten. Die eine erzählt von dem
glücklichen Ausgang eines Fischfangs, die andere von
einem gemeinsamen Essen.
Der Redaktor, der diese beiden Geschichten
zusammengefügt hat, hat freilich Spuren seiner Arbeit
hinterlassen: Spannungen, kleine Ungereimtheiten, Härten
in der gedanklichen Fügung.
Aber diese Beobachtungen, so zutreffend sie sind, fallen
nicht sehr ins Gewicht. Wer immer den Abschnitt 21, 1-14
in seine Endfassung gebracht hat, hat eine Geschichte von
großem Reiz erzählt. Und dieser Reiz geht von dem aus,
was nicht ausgesprochen wird, was aber über
Wiederholungen zum Erkennen führt. Obwohl das Wort
"Glauben" nicht verwendet wird, ist das
Zustandekommen von "Glauben" beschrieben.
Glauben ist der Akt, der mit dem Sehen beginnt und im
Erkennen oder im Wissen endet.
Dr. Hans W. Schütte, Kirchstraße 40a, 29221 Celle
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