Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Misericordias Domini
18. April 1999
Predigttext: Hesekiel 34, 1-6.9-16
Verfasser: Prof. Dr. Ludwig Schmidt

Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Manche Dinge ändern sich wohl nie. Das war mein erster Gedanke, als ich die Kritik dieses Bibelabschnitts an den Hirten Israels gelesen habe. Natürlich wäre es ungerecht, wenn man die Vorwürfe pauschal auf Männer und Frauen überträgt, die in Politik, Wirtschaft oder Kirche führende Positionen bekleiden. Viele von ihnen sind sich ihrer Verantwortung bewußt. Sie wollen ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen. Aber für andere treffen jene beiden Vorwürfe zu, die gegen die Hirten Israels erhoben werden. Der erste lautet: Ihr lebt von der Herde, aber ihr weidet sie nicht. Die Hirten werden nicht kritisiert, weil sie sich von der Herde nähren und kleiden. Das ist ihr gutes Recht. Der Neid gegen "die da oben" liegt unserem Predigttext fern. In ihm werden den führenden Leuten ihr Einkommen und einige andere Vorteile, die sie durch ihr Amt haben, gegönnt. Kritisiert wird vielmehr, daß sie nur auf das Einkommen und die Vorteile sehen, die mit ihrer führenden Stellung verbunden sind. Solche Hirten gibt es wohl noch heute. Gelegentlich entscheiden sich ein Mann oder eine Frau für eine politische Tätigkeit, weil sie für sie ein höheres Gehalt bekommen als in ihrem Beruf. Vielleicht wollen sie in Presse und Fernsehen erwähnt werden, damit sie sich als bedeutende Persönlichkeiten fühlen können. Dann verfolgen sie mit ihrer politischen Arbeit lediglich das Ziel, eigene Wünsche zu befriedigen. Politik wird von ihnen nicht mehr als Aufgabe begriffen, die Gemeinschaft zu fördern und dafür zu sorgen, daß in ihr jeder seinen Platz findet. Diese Verpflichtung ist aber mit einer politischen Funktion untrennbar verbunden. Das wollten freilich auch jene Hirten Israels nicht wahrhaben. Deshalb wird ihnen in unserem Bibelabschnitt als zweites vorgeworfen, daß sie sich nicht um Menschen in Not kümmerten, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre. Ja, sie unterdrückten sogar die Starken, die nicht auf ihre Fürsorge angewiesen waren. Es ging ihnen eben nur um ihren Gewinn und um ihre Macht.
In unserem Predigttext wird von den Führern Israels ein erbärmliches Bild gezeichnet. Jeder Staat nimmt großen Schaden, wenn die Leute in führender Position so kläglich versagen. Aber Israel war nicht irgendein Volk. Gott hatte sich dieses Volk erwählt und ihm sein Land gegeben. Seine Führer sollten dafür sorgen, daß Israel als Gottesvolk in diesem Land lebte. Mit ihrem Versagen haben die Hirten Israels nicht nur einen Staat ruiniert, sondern das Gottesvolk. Durch ihr Verhalten mußten viele Israeliten das Land verlassen, das Gott Israel gegeben hatte. Sie lebten nun in anderen Ländern, in denen die Menschen ihre eigene Religion hatten, und Fremde herrschten über sie.
Doch Gott will sein Volk nicht aufgeben. Er kündigt in unserem Predigttext an, daß er die versprengten Israeliten in ihr Land zurückbringen will und daß er selbst jene Aufgaben übernehmen wird, an denen die Führer Israels versagt haben. Diese Verheißung ist mit Jesus Christus Wirklichkeit geworden. Allerdings hat sie Gott mit ihm auf andere Weise erfüllt, als es in unserem Predigttext angekündigt wird. Noch heute leben ja Juden in vielen Ländern. Es wird wahrscheinlich nie dazu kommen, daß alle Juden in dem Staat Israel vereinigt sind. Dieses Land ist zudem nicht gerade eine fette Weide. Die Menschen müssen auch dort für ihren Lebensunterhalt hart arbeiten. Wie für alle Verheißungen des Alten Testaments gilt auch für unseren Predigttext: Gott hält an seinen Zusagen fest, aber er behält sich vor, wie er sie erfüllt. Mit Jesus ist Gott über die Verheißungen unseres Predigttextes sogar hinausgegangen, denn Jesus ist nicht nur für jene Menschen, die von dem alttestamentlichen Gottesvolk abstammen, der gute Hirte, sondern für Juden und Nichtjuden. Für sie alle gab er sein Leben am Kreuz dahin. Darin unterscheidet er sich von jenen Hirten Israels, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren. Gerade in seinem Sterben erwies er sich als der gute Hirte. Weil Jesus auferstanden ist, erfüllt er auch heute die Zusagen Gottes in unserem Predigttext: "Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist" (V. 16).
Jesus sucht das Verlorene und bringt das Verirrte zurück. Das hat er beispielhaft an seinem Umgang mit Zöllnern und Sündern gezeigt. Sie waren ihre eigenen Wege gegangen und hatten sich nicht um Gott gekümmert. An der Gemeinschaft, die ihnen Jesus gewährte, erfuhren sie, daß selbst ihnen Gott nicht fern ist. Dadurch haben sie ihre Einstellung geändert. Das geschieht auch noch heute, wenn Jesus in das Leben eines Menschen tritt. Es gibt nicht nur Christen, die in diesem Glauben erzogen wurden und an ihm durch ihr Leben hindurch festhalten. Mancher wurde erst ein Christ, nachdem er sich lange nicht für Gott interessiert hatte oder Anhänger einer anderen Religion gewesen war. Jesus legt Menschen nicht auf das fest, was sie sind. Er schreibt keinen ab. Das ist gut zu wissen, weil niemand für seinen christlichen Glauben eine Garantie übernehmen kann. Wir beschreiten in unserem Leben mancherlei Irrwege. So kann es auch sein, daß wir uns mit unserer Lebenseinstellung einmal verrennen. Weil Jesus das Verlorene sucht, dürfen wir darauf vertrauen, daß Jesus uns auch dann auf den richtigen Weg zurückbringen wird.
Jesus verbindet das Verwundete und stärkt das Schwache. Alle Menschen wären gerne gesund und stark. Wer gesund ist, hat meist davor Angst, daß er einmal so krank werden könnte, daß er für den Rest seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen ist. Wie oft hört man: "Die Gesundheit ist doch die Hauptsache". Aber keiner weiß, ob nicht auch er einmal zu einem Pflegefall werden wird. Jesus garantiert uns nicht Gesundheit. Aber er wird uns unterstützen, wenn wir schwach und elend sind. Vielen Menschen hat schon ein Bibelwort oder der Gedanke an Jesus dazu verholfen, daß sie eine schwere Krankheit ertragen konnten. Vielleicht haben Sie das schon bei sich selbst erlebt oder bei anderen beobachtet. Jesus verbindet auch Wunden, die das Leben schlägt. Man sagt oft: "Die Zeit heilt Wunden". Aber manche Wunden werden durch die Zeit nicht geheilt, sondern sie bereiten nur weniger Schmerzen. Ich denke z.B. an Eltern, die ein Kind ins Grab legen mußten. Das bleibt für die meisten Mütter und Väter noch nach Jahrzehnten schmerzlich. Sie fragen sich immer wieder: Warum? Wenn sie sich bei Jesus geborgen wissen, wird diese Frage wohl nicht verstummen, aber sie können mit ihr leben. Ihnen bleibt es erspart, sich damit zu quälen, ob sie wirklich alles getan haben, um den Tod des Kindes zu vermeiden. Dieses Beispiel soll hier für die verschiedenen Wunden stehen, die das Leben schlagen kann.
Jesus behütet, was fett und stark ist. Als unser Bibelabschnitt niedergeschrieben wurde, konnten auch gesunde und kräftige Schafe ohne einen Hirten nicht überleben. Sie wurden sonst entweder von einem wilden Tier gefressen oder sie verirrten sich in unwegsamen Gelände und gingen elend zugrunde. Auch Menschen, die im Augenblick keine Probleme haben, sind darauf angewiesen, daß Jesus sie behütet. Man kann zwar immer wieder hören: "Der christliche Glaube ist nur etwas für schwache Leute. Ich bin dagegen stark und meistere mein Leben selbst." Aber wer ohne Jesus leben will, den wird der Tod fressen. Er hat keine Hoffnung, die über das Ende seines irdischen Lebens hinausreicht. Das ist schade, denn Jesus hat zugesagt, daß er seinen Schafen das ewige Leben bei Gott geben wird. Dafür ist er gestorben und auferstanden. Durch ihn hat unser Leben ein Ziel jenseits des Todes. Wir stehen freilich in der Gefahr, daß wir dieses Ziel aus den Augen verlieren. Unsere Gedanken werden gelegentlich von den Problemen und Anforderungen des Tages völlig beherrscht. In unserem pluralistischem Zeitalter stoßen wir zudem auf zahlreiche Weltanschauungen und Religionen. Sie können die Aufmerksamkeit so stark auf sich ziehen, daß Menschen richtungslos hin und her pendeln. Wir sind darauf angewiesen, daß uns Jesus immer wieder das ewige Leben als Ziel vor Augen stellt, damit wir nicht die Orientierung verlieren.
Mit der Zusage, daß er uns das ewige Leben geben wird, geht Jesus weit über die Ankündigungen in unserem Predigttext hinaus, daß Gott die zerstreuten Schafe sammeln und zu einer fetten Weide führen wird, denn das ewige Leben wird hier den Schafen nicht verheißen. Durch Jesus erhalten diese Ankündigungen einen neuen Sinn. Christen leben in der Welt unter Menschen mit anderen Religionen und Weltanschauungen. Man kann auf sie auch schwerlich schon das Bild von den Schafen, die auf einer fetten Weide grasen, übertragen. Ihr Leben gleicht oft eher einem Weg durch die Wüste. Doch dieser Zustand wird sich ändern. In dem ewigen Leben werden Christen aus den verschiedenen Völkern und Ländern, ja sogar aus den unterschiedlichen Zeiten beisammen sein und gemeinsam Gott loben, weil Not und Tod ausgelöscht sind. Dann wird sichtbar werden, daß Christen tatsächlich eine Herde sind und einen Hirten haben.

Amen.


Liedvorschläge:

EG 347 Ach bleib mit deiner Gnade
EG 380 Ja, ich will euch tragen
EG 274 Der Herr ist mein getreuer Hirt (Wochenlied)


Verfasser: Prof. Dr. Ludwig Schmidt, Karmelitenstraße 15, 91056 Erlangen (privat)

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