Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Kantate
2. Mai 1999
Predigttext: Mt. 21,14-17
Verfasser: Wolfgang Petrak

Anmerkungen zur Predigt, s. am Ende des Textes

Liebe Gemeinde, vor allem liebe Eltern und Paten, liebe Amelie,

"Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder". Es ist die Melodie des Lebens. Und als ihr vorhin gesungen habt: "Nun freut euch liebe Christengmein", so richtig voll und von innen heraus, dabei eure Tochter ganz dicht haltend, mit den Armen umfangen `-ich glaube, ihr habt in Gedanken diese fröhlichen Sprünge mitgemacht, euch vielleicht dabei vorgestellt, wie Amelie in einem halben Jahr aufrecht durch die Wohnung pesen wird und später durch den Garten springen könnte, denn jeden Tag könnt ihr sehen, wie sie wächst und etwas dazu kommst. Also Amelie, mir hattest du am Montag auf dem Bauch liegend den gelben Ball zugepaßt. Und gelacht hast du, unglaublich!- Du, geschenktes Leben, ein Wunder. Und man spürt die Kraft, die da ist.

Die Kantate vorhin (Bach: "Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen") nimmt das auf. Bei allem Klagen, die sich im Leben wie schroffe Akkorde und gegenläufige Linien auftürmen, steht am Ende - wie aus gegensätzlicher Harmonik moduliert -dieses: "Euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen"(Joh 16,22). Gott hat uns gegeben nicht den Geist der Furcht, sondern den Geist der Kraft.

Ach Amelie, daß du Kraft hast, das kann man hören. Und so hast du ja vorhin auch gleich mitgesungen, so daß sich deine Stimme mit der des Tenors mischte, und auch beim Schlußchoral warst du voll dabei. Ob es aus Freude ist, einfach im Konzert der Stimmen mit dabei zu sein und sich hören zu lassen? Ob es aus Furcht ist, weil doch hier alles für dich so anders und fremd ist? Weil Du vielleicht Hunger hast und überhaupt alles zu lange dauert? Weißt du: du hast ja noch keine Worte, um sagen zu können, was wichtig ist. Ganz sicher glaube ich, daß deine Mutter, dein Vater und natürlich deine Schwester Julia dich besser verstehen können als wir anderen. Doch hören wir dich, und lassen uns von deiner Stimme ganz in Anspruch nehmen. Natürlich, als du vorhin nach der Arie die Pause mit deiner Stimme fülltest, gab es jenes Husten und Räuspern, wie es unter Erwachsenen dann manchmal üblich ist, innerlich hochgezogene Augenbrauen lassen sich denken. Doch das Schreien eines Kindes hat vor Gott seinen Platz und muß ihn auch hier haben. Hört mal, was von Jesus und den Kindern erzählt wird:

Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme in den Tempel, und er heilte sie. Da aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten sahen die Wunder, die er tat und die Kinder im Tempel schreien und sagen: Hosianna, dem Sohne Davids; wurden sie entrüstet und sprachen zu ihm: Hörest du auch, was diese sagen? Jesus sprach zu ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen: "Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du Lob zugerichtet"?. Und er ließ sie da (stehen) und ging zur Stadt hinaus gen Bethanien.(Lutherbibel, Frankfurt 1879)

Kinder im Tempel, die schreien. Und zwar so, daß es Gegenwart ist. Und Jesus sagt ganz einfach: Ja. Vielleicht, weil der Schrei alles aus sich herausläßt, nichts durch Worte oder ergreifende Melodien transportieren läßt, sondern unmittelbar erreichen will: den, der da ist. Kinder, schreit ruhig.

Andere Bilder drängen sich mir auf. Das Bild von Edward Munch. Der Schrei. Wie aus der Tiefe, dem Dunkel, das der Mund entschließt, der Schrei heraufbricht und alles, das Gesicht, die Kleidung, den Himmel mit seinen Rändern erfaßt. Nichts bleibt unberührt. Auch er nicht. Schreit ruhig, Kinder.

Die Bilder dieser Woche, die der Verteidigungsminister fast stumm, voller Entsetzen, zeigte: man dürfte gar nicht hinsehen, so gräbt sich die Macht der Zerstörung ein, man müßte laut schreien. Die Bilder eines von Bomben zerstörten Krankenhauses; Trümmer dort, wo ein Kinderzimmer war; zersplitterte Fensterscheiben einer Universität: zerstörtes Wissen. Die Gesichter des Alten auf der Luftmatraze im Zelt. Daneben ein Kind, das versucht zu spielen und spielend seine Umwelt zu begreifen. Es ist die Welt des Krieges.

Stumm sehe ich die Bilder an. Ich weiß, daß Rassismus und nationalistische Verblendung der Grund für diese fünfte Woche im Kosovo ist. Es stimmt: keiner, der politische Verantwortung für das Zusammenleben tragen will, kann das Ermorden und Vertreiben wehrloser Menschen hinnehmen. Und doch ist in dieser Woche nichts zu erkennen von der Macht einer Zerstörung, die befreit. Die Worte des serbischen Vizepräsidenten, an die man zu Wochenbeginn Hoffnungen geknüpft hatte, erwiesen sich als Sprechblase. Die Bomben finden ihren Weg. Als kleines Kind habe ich mich gewehrt, indem ich im Sandkasten die Burgen und Brücken des anderen zerstört habe. Als Erwachsener meinte ich, daß man die Aggressionen in Griff kriegen und die Hoffnung haben könne, aus der Geschichte zu lernen. Jetzt bin ich stumm. Kinder, warum schreit denn keiner?

Die Kinder im Tempel schreien. Eigentlich sind sie ganz am Rand des geheiligten Bezirkes, kommen in seiner geordneten Welt kaum vor. Sie haben keine Macht, kein geübtes Ritual, nicht einmal eine einfache Liturgie. Vielleicht wissen sie gerade deshalb, daß es jenseits dieser Welt mit ihren Mächten noch eine andere Macht gibt. Sie schreien zu Jesus, und er sagt : Ja. Zu ihnen. Warum werden wir nicht auch wie die Kinder und werfen alles auf ihn? Denn er ja aus seinem heiligen Bezirk herausgegangen, vom Tempel auf die Menschen zu, so daß Blinde sehen und Zerschlagene frei sein sollen.

Ja, Amelie, du kannst schreien, aus voller Kraft. Die Freude und die Angst. Man kriegt das nicht zusammen. Und ich bin wie gelähmt, die Bilder, die ich sehe, lassen mich nicht weit blicken. Meinst, daß ich von euch Kindern lernen könnte ? Nein, ich meine das nicht so, wie das Grönemeier einmal gesungen hat: Kinder an die Macht. Weil es nicht mit der Macht der Menschen, auch nicht mit unserer Macht getan ist. Weil es jetzt darum geht, alles auf eine andere Macht zu werfen. Sie besteht nicht aus Speicherplätzen und programmierbaren Zielen. Klänge von Nationalhymnen werden sie nicht tangieren. Ihr Zeichen ist der Bogen des Bundes und des Friedens, von Gott an den Himmel gesetzt. Nur auf diese Macht können wir unsere Hoffnung setzen, und, weißt du, wenn ich das mit meinen Worten nicht ausdrücken kann, dann sind da doch die Worte seiner Macht. Die Kinder schreien zu Jesus: Hosianna, dem Sohn Davids. "Ja", sagt Christus: "Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen". Die Macht dieser Worte wird bleiben, keine Macht der Menschen wird sie jemals auslöschen können.

Nun bist du (vielleicht) eingeschlafen Amelie, hörst nicht mehr die vielen Worte und die Klänge um dich herum. Verstehst auch nicht, sondern bist ganz für dich und zugleich spürst Du die ganz sichere Nähe. Auf Gottes Macht wollen wir dich taufen: er gibt uns nicht einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Und wenn wir dabei dein Gesicht sehen, voller Zutrauen und Offenheit, dann können wir bei all unseren Gedanken und unserer Angst gar nicht anders als Gott zu danken, der das Wunder des Lebens schenkt; wir können auch nicht anders als ihn zu bitten:

Verleih uns Frieden gnädiglich

Nachtrag:

1: Aus redaktionellen Gründen ist die Abfassungszeit sehr kurz gewesen. Vielleicht gibt diese deshalb kurze Predigt trotzdem Anregungen.

2: An dem Sonntag wird bei uns im Hauptgottesdienst ein Kind zu taufen sein. Als ich beim Taufgespräch ihm vorgestellt wurde, fing es laut an zu schreien, was sicher nicht nur an meinem Aussehen, sondern auch an seinem ‘Fremdeln’ , das im zehnten Monat nun auch wirklich beginnen muß, gelegen haben mag. Dementsprechend lebendig stelle ich mir den Gottesdienst, an dem es eine Bachkantate geben wird, vor. Sie kennen das.- Sollte Amelie wider Erwarten nicht brüllen, muß ich den Beginn ändern und zum Beispiel von einer ähnlichen Erfahrungen erzählen.

Sollte gar keine Taufe stattfinden, läßt sich die Geschichte auch erzählen.

3: Der Predigttext soll in der Predigt verlesen werden.

Wolfgang Petrak
Pastor an St. Petri-Weende
Schlagenweg 8a
37077 Göttingen
Tel.: 0551/31838


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