Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Himmelfahrt
13. Mai 1999
Predigttext: 1. Könige 8,11-14.26-18
Verfasser: Prof. Dr. Axel Denecke

I
Himmelfahrt - das ist bei Lichte betrachtet wohl das merkwürdigste, verrückteste und zugleich auch spannendste Fest der Christenheit. Jesus - nach der altchristlichen Tradition gerade vom Tode erstanden - ist 40 Tage nach Ostern wieder abhanden gekommen. Ist entschwunden, hat sich verflüchtigt. Christus ist weg aus dem Leben, aus dem sichtbaren Leben. Gott ist weg. Wo ist Gott? Oben im Himmel? Christus "sitzend zur Rechten Gottes"? Doch wo ist der Himmel? Wo ist Gott? Wo ist Christus? In meinem Leben? Merkwürdig - verrückt - und spannend zugleich.

II
Das war nicht erst zur Zeit Jesu so, das war schon 1000 Jahre vorher so, zur Zeit des Königs Salomo. Wo ist Gott? Ich sehe ihn nicht! Die klassische jüdische Antwort lautet: Du brauchst ihn gar nicht zu sehen. Sehen kannst du ihn sowieso nicht. Aber er zieht mit dir in deinem Leben. Er ist vor dir, hinter dir, über dir, unter dir, in dir. "Ich bin schon bei dir, auch wenn du mich nicht sehen kannst", hat er gesagt. "Ich will in deinem Leben, in eurem Leben bei euch sein, ohne daß ihr mich festhalten, festnageln könnt - siehe hier, siehe da." Doch reicht das aus?
Das Volk Israel drängt den König Salomo, endlich einen Tempel zu bauen. "Damit wir ganz genau wissen: Hier ist Gott! Hier ist sein heiliger Ort!" Und Salomo tut's. Mit viel Einsatz. Endlich ein prächtiger Tempel. Ein großes Einweihungsfest. Eine feste Burg, steinern dahingestellt, da soll Gott seine Wohnung haben, da soll er Platz nehmen. Der heilige Ort, das Allerheiligste auf Erden. Doch dann hat Salomo seine Zweifel. "Sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen?" Kein Haus auf der Erde kann ihn fassen und sei es noch so prächtig. Alle Himmel können ihn nicht fassen. Und Salomo verläßt sein ganzer Mut. Was hab' ich bloß gemacht, als ich mir einbildete, Gott in den Griff zu bekommen, als ich dies prächtige Haus, den Tempel baute. Und er erhebt seine Hände gen Himmel, starrt mit erhobenen Händen nach oben. Wo ist / wohnt Gott?

III
Das war nicht nur zur Zeit des Königs Salomo so, das war auch noch so 1000 Jahre später. Als die Jünger in der Gemeinschaft mit Jesus lebten. Da hatten sie das Gefühl, Gott war leibhaft unter ihnen, neben ihnen, zum Anfassen nah. Eine wunderbare Erfahrung. Und dann - Karfreitag, Ostern, 40 Tage später - war es auf einmal vorbei, wie ein Spuk vorbei. Jesus ist abhanden gekommen, Gott ist abhanden gekommen. --- Die Phantasie der Maler will es ganz genau wissen. Die Fußstapfen Jesus werden abgebildet. Das bleibt zurück, doch er ist weg, himmelweltenweit weg. Zurück bleiben die Jünger. Allein, verlassen. Starren entsetzt und verzückt zugleich in den Himmel - wie Salomo 1000 Jahre vorher. Wo ist / wohnt Gott?

IV
Und das ist natürlich auch heute unsere Frage. Wo ist Gott? Wir suchen ihn in Tempeln und Kirchen. Wir suchen ihn in der Bibel. Wir suchen ihn im Gebet. Wir suchen ihn im Gespräch. Wir suchen ihn in unseren Lebens-/Glaubenserfahrungen. Wir suchen ihn in frommen Vorbildern. Manchmal scheinen wir ihn erhascht zu haben, aber dann entschwindet er wieder. Ist nicht zu bannen, gar festzuhalten, ist immer wieder weg, ist immer wieder woanders. Oft versteckt, ein dunkles Geheimnis. Gott verbirgt sich uns. Nicht zu fassen. Und dann starren wir wieder nach oben - oder auch nach unten, oder auch nach innen - und fragen: Wo ist Gott? Wo ist er in meinem Leben?
Diese Frage läßt uns nicht los, läßt uns ein Leben lang nicht los. Seit Salomos Zeiten, seit Jesu Zeiten, seit allen Zeiten. Kein Mensch ist fertig mit dieser Frage. Sie nagt an uns. Ja natürlich, man kann sie verdrängen, auf Zeit, aber ausschalten kann man sie nicht. Irgendwann holt sie uns wieder ein, kommt aus dem Untergrund, dem Unterbewußten wieder hervor. Spätestens bei einem besonderen Schicksalsschlag im Leben. Da meldet sich die Frage: "Wo ist Gott?" Dann ist sie wieder da, und wir stehen da wie einst Salomo und die Jünger. Und starren nach oben, nach unten, nach innen. Und da ist es oft leer und dunkel, so wie bei Salomo. "Sollte Gott wirklich auf der Erde, an diesem Ort, wohnen, hier oder da?" Wo ist Gott? Die alte Frage nach Gott. Und keine befriedigende Antwort da. Und dann noch schlimmer: Die alte "Warum"-Frage, die in uns nagt, die auch vor uralten Zeiten schon in Hiob nagte. "Warum, oh Gott, hast du das zugelassen? Warum bloß scheint immer das Böse zu siegen? Warum muß es den sinnlosen Krieg geben? Und wo ist Gott? Warum dies alles?" Und keine befriedigende Antwort da. Schwer auszuhalten ist dies. Es ist aber so. Und wir starren und fragen und suchen und finden keine Antwort, die uns schnell befriedigt.

V
Weil viele es nicht aushalten, hier keine schnell befriedigende Antwort zu erhalten und weil die Frage sie doch elementar und exentiell berührt, suchen sie rasch nach Ersatzantworten. Sie erklären die Bibel kurzerhand frisch und frei für unrealistisch und erfinden ihre Realität selbst. Und der bleibende dunkle Fleck wird mit wissenschaftlichem Aberglauben ausgefüllt. So wie es bei dem Astronautenforscher von Däniken besonders schön anschaulich wird. "Wenn wir einmal den technischen Stand der Astronautengötter erreicht haben, dann werden wir zu den Sternen zurückkehren" schreibt er, und viele glauben ihm hingebungsvoll. 30 % der Deutschen glauben an Horoskope, 40 % an Sternweisungen, 50 % an Kartenlegen - habe ich gelesen. Die Himmelfahrtserzählung der Bibel ist sicher nicht unglaubwürdiger oder unrealistischer als all die Horoskope oder die Erzählungen des Astronautenforschers von Däniken. Der dunkle Fleck, die Frage: "Wo ist Gott?" muß irgendwie beantwortet werden. Denn sie nagt doch in uns, ist nicht totzukriegen. Wo ist Gott? Wo finden wir ihn? Suchen tun wir ihn, das ist klar. Doch wo können wir ihn finden? In den Horoskopen, in den Karten, in den Sternen? Oder doch in den altmodischen biblischen Texten?

VI
Ich versuche Ihnen eine doppelte Antwort zu geben, so gut wie ich eben Antwort geben kann. Eine negative und eine positive Antwort.
1. Die negative Antwort zunächst: Wir können Gott - siehe Salomo, siehe die Jünger - nicht festbannen. Siehe hier, siehe da ist er. Er entzieht sich uns immer wieder. Können nicht sagen: So ist er! Da ist er! Da ist er ganz bestimmt! Schon wenn wir's sagen, stimmt es nicht mehr. Denn er entzieht sich uns immer wieder. Gerade das erfuhr Salomo, als er Gott im so wunderschönen Tempel ‚festnageln' wollte. Gerade das erfuhren die Jünger, als sie meinten, der Herr sei immer leibhaft unter ihnen. Gott läßt sich nicht festnageln, festlegen. Das mag schmerzlich sein. Aber so ist es. Und gut, ja heilsam, dies zunächst zu akzeptieren, sich dadurch nicht irre machen zu lassen.
2. Doch nun die positive Antwort. Ich erzähle Ihnen einfach ein paar Gleichnisse, Erfahrungen von Menschen, die meinen, Gott - wie einen Blitz - aufleuchten gesehen zu haben. Wie ein Blitz - wie ein Traum - wie eine Sternschnuppe, siehe hier, siehe da - ganz real, und doch nicht zu fassen. Wer Ohren hat, der höre.
a) "Es waren einmal zwei Mönche, die lasen miteinander in einem alten Buch, am Ende der Welt gäbe es einen Ort, an dem Himmel und Erde sich berührten und das Reich Gottes begänne. Sie beschlossen, ihn zu suchen und nicht umzukehren, ehe sie ihn gefunden hätten. Sie durchwanderten die Welt, bestanden unzählige Gefahren, erlitten alle Versuchungen, die einen Menschen von seinem Ziel abbringen können. Eine Tür sei dort, so hatten sie gelesen. Man brauche nur anzuklopfen und befände sich im Reich Gottes. - Schließlich fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür, bebenden Herzens sahen sie, wie sie sich öffnete. Und als sie eintraten, standen sie zu Hause in ihrer Klosterzelle und sahen sich gegenseitig an. Da begriffen sie: Der Ort, an dem Gott wohnt, befindet sich auf der Erde, an der Stelle, die Gott uns zugewiesen hat" (Russische Legende).
b) "Wo wohnt Gott?" Der Rabbi überraschte mit dieser Frage seine Gäste. Diese waren gelehrte Männer und lachten über ihn. "Wie redest du? Die ganze Welt ist doch voll seiner Herrlichkeit!" Er antwortete aber auf die Frage: "Gott wohnt dort, wo man ihn einläßt." (M. Buber, Erzählungen der Chassidim)
c) "Gott begegnet mir auch nachts im Traum" sagte einst ein weiser Mann. "Wie kannst du nur solch einen Unsinn reden" sagte ein anderer zu ihm. "Gott ist so groß, daß alle Himmel ihn nicht fassen können. Und er sollte nicht auch in meiner Seele zuhause sein, in meiner Seele, die am Tage schläft, aber in der Nacht erwacht?" antwortete er.
Da alsowohnt Gott! Jeden Tag, alle Zeit, für alle Menschen! Aufgefahren in den Himmel in uns!

VII
Schlußendlich: Wohnt er aber auch im Tempel, im steinernen Haus der Kirchen? Über die Gründung des Tempels von Jerusalem wird folgende Geschichte erzählt: "Zwei Brüder besaßen jeder ein Ackerfeld. Nachdem die Ernte eingebracht war, lag jeder wachend bei dem Ertrag. Der ältere Bruder grübelte. Ich habe Frau und Kinder, bin reich genug, um leben zu können. Aber mein Bruder ist allein und auf fremde Hilfe angewiesen. Deshalb braucht er mehr Geld. Darum will ich ein Teil meiner Ernte zu der seinigen legen, ohne daß er es merkt. - Zur gleichen Zeit aber dachte der jüngere Bruder: Mein Bruder hat eine große Familie zu ernähren, darum braucht er viel Geld. Ich habe für niemanden zu sorgen, brauche also weniger Geld, ich will einen Teil meiner Ernte zu der seinigen legen, ohne daß er es merkt. - So brachten beide in der Nacht heimlich einen Teil ihrer Ernte zum anderen. Unterwegs aber trafen die beiden zusammen. Sie erkannten gegenseitig ihr Vorhaben, fielen sich in die Arme und errichteten einen Tempel. Der soll da gebaut werden, wo Himmel und Erde zusammentreffen."
Ja, Gott wohnt im Tempel, wenn Salomo den Tempel auf einen solchen Platz gebaut hat, wenn er sich dabei betend zu Gott wendet. - Ja, Gott wohnt in der steinernen Kirche, wenn auch dieser Ort auf solch einem Platz gebaut ist. - Ja, Gott wohnt auch in uns, wenn unser Herz solch ein Tempel ist. - Ja, Gott wohnt auch in deinem Gespräch mit Gott, in deinem Gebet zu Gott. Ja, da wohnt er!
Wo ist Gott aber dabei zu sehen? Ach sehen, was heißt schon sehen! Wer Augen hat, der sieht schon. Der sieht, wie Gott hineingefahren ist in den Himmel, also in unsere Welt, also hinein in unser Herz. Und da wohnt er und will gefunden werden. Machen wir uns auf Entdeckungsreise, immer wieder neu. Starre nicht entsetzt oder verzückt nach oben! Sieh in dich hinein! Salomo tat, nachdem er den steinernen Tempel gebaut hatte, das einzig richtige. Er schaute in sich hinein, betete zu Gott, sprach mit ihm. Und so im Gespräch versunken, entdeckte er ihn. Wo ist Gott? Da ist Gott! So im Gespräch mit ihm versunken, entdeckte er ihn. Das können wir auch.
Amen

Nachbemerkung:
Das Himmelfahrtsfest hat kaum etwas mit der sog. "aktuellen Tagespolitik" zu tun. (Das saloppe Stichwort "Himmelfahrtskommando", das man flugs auf den Krieg im Kosovo beziehen könnte, ist kein Gegenargument, sondern eher Ausdruck der Verlegenheit, mit "Christi Himmelfahrt" sinnvoll umzugehen.) "Wo ist / wohnt Gott?" ist die theologisch-religiöse Grundfrage des Himmelfahrtsfestes, unabhängig von aktuellen Zeitereignissen. Die Frage hat "Salomo" (vgl. Predigttext) in gleicher Weise gestellt wie die Jünger zur Zeit Jesu. Und diese Frage stellen wir heute immer noch, immer wieder. Die Frage ist so monoton, so zum xten Mal hin und her gewendet wie sie gleichzeitig aktuell und immer wieder spannend ist. "Wo ist / wohnt Gott in meinem Leben? Ja, wo?"


Prof. Dr. Axel Denecke
(Hauptpastor St. Katharinen Hamburg)
Herbert-Weichmann-Str. 34
22085 Hamburg
Tel.040 336275 oder 335686
Fax 040 339105

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