Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag Trinitatis
30. Mai 1999
Predigttext: Jesaja 6
Verfasser: Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach

Liebe Gemeinde,
I.
unser Predigttext heute trifft genau unsere Situation.
Diese Aussage überrascht Sie. Mich auch, als mir der Gedanke kam. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr sehe, verstehe ich die Richtigkeit der Feststellung. Hören Sie die Gründe, die mich überzeugen.
Ein Mensch sieht Gott sitzen und erschrickt. Es ist der Prophet Jesaja. Das heißt, genau genommen ist Jesaja noch nicht Prophet, als er Gott sieht. Er wird erst im Laufe der Begegnung zum Propheten werden. Also, zu Beginn ist er es noch nicht.
Jesaja lebt in Jerusalem. Wir schreiben das Jahr 736 vor Jesu Geburt, also von heute aus gerechnet vor rund 2736 Jahren. Jesaja kennt den Tempel in Jerusalem; er kennt ihn sogar gut. Er arbeitet dort. Er kennt den Tempel von außen. Dieser war ohnehin unübersehbar. Jesaja als Mitarbeiter kennt aber auch das Innere, die verschiedenen Details, die der Tempel wie jedes Bauwerk besitzt. Er kennt besonders schöne Stellen und auch leicht schadhafte. Jesaja gleicht uns heute, die wir fast 3.000 Jahre später leben. Auch wir kennen unsere Kirchen, die in unserem Dorfe, die in den Innenstädten unserer Städte, oft am Marktplatz oder Rathaus oder sonst zentral, gelegen sind. Wir sind an unseren Kirchen - der in unserem Dorf oder der in der Innenstadt - vorbeigegangen, oft vorbeigegangen. Vielleicht wurden wir sogar in dieser Kirche getauft, konfirmiert, vielleicht gar getraut, oder vielleicht werden wir noch konfirmiert werden oder heiraten. Um an Kirchen vorbeizugehen oder in sie hineinzugehen, muß man nicht kirchlicher Mitarbeiter sein. Also auch insofern gleichen wir Jesaja. Erst jetzt geschieht es, daß sich anscheinend unsere Wege trennen. Dazu gleich mehr. Zunächst aber der Reihe nach, eines nach dem anderen. Noch ist es nicht soweit. Ich muß erst noch genauer erzählen, wie das war, als Jesaja Prophet wurde.

II.
Als er es wurde, passierte etwas ganz Neues. Das hatte selbst er, der Mitarbeiter am Tempel, dort noch nicht erlebt.
Jesaja sieht Gott.
Er erschrickt zutiefst. Er sieht seinen Tod. Der Grund: Er, Jesaja, sieht Gott, und Gott ist der Herr. Der Mächtige, der ganz Andere, der Heilige. Jesaja aber ist ein ganz normaler Mensch - wie ich und du. Das kann nicht gutgehen. Zwei Welten prallen aufeinander.
Dann erneut eine Wende. Jesaja wird aus seiner Normalität erlöst. Die zwei Welten werden zu einander gebracht ohne Kollision!
Jesajas Unreinheit, im Text heißt es "unreine Lippen" - weil Jesaja nachher reden soll, werden die Lippen besonders ins Visier genommen - , also seine Lippen werden gereinigt. Wir in der Kirche sprechen sonst von "Sünde". Sünde, unreine Lippen, meint, daß wir nicht zu Gott passen, mit ihm auf Kollisionskurs sind. Im Neuen Testament wird einmal gesagt, daß, wer zum König geht, einen hochzeitlichen Anzug anhaben muß. Korrektes "Dressing" gehört zur Begegnung mit Gott. Heilig, rein ist Gottes Umgebung. Da passen wir nicht hin. Wenn wir in die Nachrichten hineinschauen, sehen wir Ungerechtigkeit, Krieg, Vertreibung. Aber auch bei uns geht es nicht heilig zu. Wie oft haben wir auf dem Sessel vor dem Fernseher sitzend uns schon gestritten, unsinnig und trotzdem heftig gestritten. Heilig geht es auch nicht am Arbeitsplatz oder in der Schule oder auf der Straße zu. Unser Ton ist so wenig heilig, daß wir nicht einmal den Versuch machen, ihn heilig zu nennen. Darin gleichen wir Jesaja. Auch er macht keine Ausflüchte. Da, ja da erlöst ihn Gott. Ein Engel reinigt Jesaja.
Diese Erlösung, Reinigung ist perfekt. Jesaja kann nun sogar ein Mitarbeiter Gottes, konkret, ein Bote werden. Er kann sich bewerben und wird angenommen.

III.
Was Jesaja als Nachricht zu überbringen hat, ist hart, sehr hart. Die Menschen sollen hören, aber nicht verstehen, sehen und doch nicht sehen. Anders ausgedrückt - und das wird ausdrücklich so gesagt - sie sollen taub und blind werden.
Da trennen sich unsere Wege. Jesaja wird Prophet, und wir bleiben schlichte Kirchgänger - so sieht es jedenfalls aus. Wenn wir jedoch genauer hinsehen, ist unsere Situation gar nicht so verschieden von der des Jesaja.
Wir sind zwar taub und blind. Sie meinen, ich gehe da zu weit? Es stimmt einfach nicht, daß wir taub und blind sind? Aber, seien wir doch einmal ehrlich, sind die Streitereien vom Fernsehsessel aus nötig, wirklich nötig? Ist es ein Zeichen unserer Weitsicht, unserem offenen Ohr für den anderen, wenn wir ihn gar nicht erst zu Wort kommen lassen?
Aber - und nun kommt eine Wende bei uns ins Spiel: Wir feiern heute "Trinitatis". Zwar sind wir auch taub und blind, was unser Wissen über Trinitatis betrifft. Jedoch helfen hier einige Hör- und Sehhilfen. Nach Weihnachten, dem Tag, an dem Jesus, Gottes Sohn, geboren wurde, nach Ostern, dem Tag, an dem Gott seinen Sohn aus dem Tode herausholte, und Pfingsten, dem Tag, an dem Gottes Geist zu der Gemeinde Christi kam, feiern wir heute Gott - den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.
Das wollten auch die Frauen und Männer sagen, die den Predigttext für heute aussuchten. Das Erlebnis des Jesaja, das starke Erleben des Gottes bringt die Wende. Wir sehen plötzlich in unserer Dorfkirche, in unserer Kirche am Marktplatz mehr als bisher. Sie wird zur Begegnungsstätte mit Gott. Sie ist ein Ort Gottes, eine heilige Stätte. Jesaja sieht auf einmal den Tempel anders, neu. Er soll von Taub- und Blindheit reden, nachdem er selbst taub und blind gewesen ist.

IV.
Auch wir sollen reden. Bislang reden wir nicht viel, eigentlich gar nicht von Gott. Selbst die gestrige Samstagszeitung, dieses dicke Bündel von Papier, spricht höchstens einmal von Gott, im Wort zum Sonntag. Wenn aber nicht geredet wird, kann nicht gehört werden. Taubheit kann auch am Nicht-Reden liegen. Jesaja mußten auch erst die Augen geöffnet werden. Erst dann sah er, der Mitarbeiter am Tempel, im Tempel Gott.
Trinitatis, der Tag Gottes, ist eine Rede an uns, und sie besagt, daß auch wir reden sollen. Nur so können die verstockten Tauben hören und die blindesten Blinden sehen.
Dazu helfe uns Gott. Jesaja muß von einem kleinen Rest sprechen, der nicht taub und blind sein wird. Gebe Gott, der uns einen Geist, den Geist des Erkennens, sandte, offene Ohren und sehende Augen!
Es segne und behüte uns Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist!

Amen

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach
Mittelberg 39
37085 Göttingen
Tel./Fax: 05 51-790 60 95
e-mail: unembac@gwdg.de


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