Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


1. Sonntag nach Trinitatis
06. Juni 1999
Predigttext: Johannes 5, 39-47
Verfasser: Pfarrer PD Dr. Rudolf Keller


Liebe Gemeinde!

I.
In unserem Schriftwort ist Jesus im Gespräch mit hochreligiösen Menschen. Er muß ihnen nicht erst den Hinweis auf die Bibel geben. Sie suchen schon darin. Die Bibel ist ihnen schon zu einem wichtigen Buch geworden. Wenn sie darin lesen, dann bleibt es nicht nur dabei, daß sie lesen und zur Kenntnis nehmen, was sie da finden. Sie suchen darin. Das ist mehr, als nur einmal hineinzuschauen.
Für den religiösen Menschen ist es gar nicht selbstverständlich, zum Buch der Bibel zu greifen. Er hat schließlich seine Erfahrung und seine Beobachtung. Mit anderen Menschen, mit der Schöpfung, mit der Natur hat er etwas erlebt, was sein religiöses Denken formt. Auch der religiöse Mensch greift nicht ohne weiteres zur Bibel. Und hier sind nun solche, die das tun. Es müßte doch eine hocherfreuliche Begegnung für Jesus gewesen sein. Zur Bibel haben diese Menschen schon gefunden. Sollte man sich also nicht freuen, daß da Menschen auf einem guten Weg sind, auf dem sie das ewige Leben zu finden hoffen? Was würde ich da sagen? Wie würde ich mit der Situation umgehen?

II.
Was Jesus hier tut, ist sehr direkt. man kann es keinesfalls einfach so nachmachen, denn so werden Gesprächspartner brüskiert, die voll sind von guter Absicht. Nicht alles, was Jesus getan hat, ist zur Imitation geeignet. Das hat er auch nie gewollt. Seine direkten Worte sind einmalig und haben etwas Befreiendes. Er, der ins Verborgene sieht, hat erkannt, daß die Menschen, denen er hier begegnet, das ewige Leben aus dem Buch der Bibel suchen. Er muß hier Klärungen vornehmen. In diesen klärenden Worten geht es um mehr als um Rechthaberei. Er öffnet die Augen dafür, daß die eigene Absicht so nicht an ihr Ziel kommen kann. Eifriges Schriftstudium allein führt noch nicht zum ewigen Leben. Nicht am Bibelbuch entscheidet sich, wem das ewige Leben geschenkt wird. Das ewige Leben hängt an der Person des Jesus von Nazareth selbst. Und das faßt kein anderer als er selbst hier klärend in Worte. Aus dieser Begegnung wird ein Streitgespräch über diesen Jesus, der hier spricht: "Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf", heißt es von ihm im Prolog zum Johannesevangelium. Das ist die Erfahrung, die Jesus hier sehr direkt und ohne alle Umschweife in der Ich-Form anspricht: "Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an." Er geht kritisch auf die religiöse Aufnahmebereitschaft und geistige Interessenlage dieser Menschen ein.

III.
Dieser Jesus von Nazareth kommt nicht aus eigenem Antrieb, sonder im Namen seines Vaters im Himmel. Weil Gott ihn zu uns Menschen gesandt und ihn unser Fleisch annehmen ließ, ist er zu uns gekommen. Es ist nicht der besondere Kulturkreis in seinem Volk, der ihn aus der Menge der anderen Menschen herausstellt. Es ist nicht der Beifall der Menge, der ihn hoch auf ein Podest hebt. Alle diese Vorzüge, die besondere Menschen haben können, hatte er nicht. Er blieb unten bei den Menschen, zu denen er gesandt wurde. Und diese Niedrigkeit machte ihn verwechselbar mit anderen Menschen. Das ist sein Auftrag, mit dem er in die Welt gekommen ist. Mehr hat er nicht. Seine unscheinbare Gestalt ist es, die dazu führt, daß seine Sendung durch den Vater in Frage gestellt wird. Wenn dieser unscheinbare Mann von seiner Einheit mit dem Vater spricht, so kann das als Gotteslästerung empfunden werden. So empfanden es wohl viele Juden in seiner Zeit. Solche Klärungen über seinen Auftrag, seine Person und sein Tun werden heute immer wieder als dogmatische und lebensferne Aussagen weggewischt, als angeblich für den modernen Menschen nicht von Interesse sind. Wer ihn nicht kennt, kann meinen, daß man auf solche Streitgespräche und Klärungen verzichten könnte. Aber dann fehlt die Klärung, die er selbst anbietet und gibt. Wer in Verbindung mit ihm steht, will auch von ihm sagen und singen, wie es viele in der Bibel und in der Kirche getan haben.
Es ist dieser Jesus, der von sich behaupten darf, daß schon im Alten Testament durch Moses von ihm geschrieben wurde. In ihm, in seiner Person, seinem Wirken und seinen Lehren erschließt sich der wahre Sinn der heiligen Schriften, in denen Menschen das ewige Heil suchen.
Was wir da hören und erfahren, ist nichts anderes, als der Apostel Paulus einmal formulierte: Diese Botschaft vom gekreuzigten Christus ist "den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit". Gerade darin liegt jedoch die besondere Kraft, die sich in Jesus Christus zeigt. Gerade darin liegt die Quelle, die sich im Glauben an ihn erschließt, die schon hier erfahrbar wird, die aber erst im ewigen Leben zur wirklichen Vollendung kommt.

IV.
Unser Glaube braucht Gewißheit darüber, an wen er sich hält. Wie wird im Leben ein Mensch sich einem anderen Menschen anschließen, über den er nicht notwendige, vertrauensbegründende und tragfähige Informationen hat? Deshalb ist es gut, daß Jesus selbst eventuellen Fragen zuvorkommt und dadurch ausdrücklich klären kann, in wessen Namen er hier auftritt und handelt. Er ist mehr als einer, der nur zu einigen Podiumsgesprächen kommt und sich sonst zurückzieht. Er ist vor keinem Leiden zurückgeschreckt, denn er wußte, welchen Weg er im Gehorsam gegen den Vater zu gehen hatte. Er war seines Weges und seines Auftrags ganz gewiß. Nur deshalb konnte er so frei sein vom Urteil der Menschen. Nur deshalb war er so frei gegenüber dem Alten Testament und allen Schriften der Juden in seiner Zeit. Hier liegt aber auch der Grund dafür, daß er den ihm aufgetragenen Weg bis zum bitteren Ende gehen konnte, auch darin voller Mißverständlichkeit und Anfechtbarkeit. Er, der anderen Menschen so kraftvoll zu helfen gewußt hat, konnte und wollte sein eigenes Kreuz nicht von sich abschütteln. Er war gehorsam bis zum Tod am Kreuz und hat darin den Weg für die Menschen zum ewigen Leben freigemacht. Er hat meinen Weg zum ewigen Leben geöffnet und freigegeben.
Hinter ihm steht Gott selbst, der ihn gesandt hat, der ihm die Vollmacht gab für diesen Weg, auf dem er die ganze Christenheit zu Gott heimbringt. Was er da vertritt, ist mehr als seine Idee. Er kommt im Auftrag des göttlichen Vaters im Himmel. Wir brauchen einen verläßlich autorisierten Zeugen, über dessen Auftrag wir nicht im Zweifel sind. Jesu Gesprächspartner suchten in dieser Richtung. Deshalb hielten sie sich an die heiligen Schriften des Alten Testaments. Sie suchten autorisierte Urkunden, um daraus das Nötige zu verstehen. Er aber sieht auf einen Blick, was hier vorgeht, und er nennt es beim Namen: "Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir, denn er hat von mir geschrieben." Er entlarvt ihre Herzenshaltung sehr direkt und an der Wurzel.

V.
Wir diskutieren heute oft darüber, ob wir Christen jüdischen Zeitgenossen dies Schriftverständnis und diese Interpretation der Mosebücher zumuten dürfen. "Darf man nach dem Holocaust noch so argumentieren?" wird gefragt. Unser Text und sein Bild von Jesus und seiner Deutung der Bibel vor dem Hintergrund der Frage nach dem ewigen Leben liegt da wie ein schwerer Brocken im Weg. Wie kann man mit diesem Jesus denn zurechtkommen? Müßte er sich bei seinen Hörern von damals erst entschuldigen? Dann könnten wir uns mit der Sache leichter tun. Ist das wirklich eine Überlieferung am Rande der Botschaft Jesu?
Der Respekt vor der Religion des Volkes Israel gebietet uns, daß wir nicht schnell lospoltern sollten, etwa gar unter Beanspruchung des Namens Jesu. Der Reichtum der israelitischen Religion kann sich uns an vielen Stellen erschließen. Jesus hat andererseits sein eigenes Volk nicht sich selbst überlassen und von seiner Verkündigung ausgeschlossen. Die ganzheitliche Liebe zu seinem Volk macht an der Glaubensfrage nicht halt, sondern er umgreift die Glaubensfrage als den Zugang zum innersten Kern des menschlichen Selbstverständnisses.
Wir diskutieren weit weniger darüber, ob wir Christen denen, die sich von Glauben abgewandt haben, schweigend zusehen sollen. Können wir ihnen diesen Jesus von Nazareth wirklich noch zumuten? Gebietet es nicht der Respekt vor menschlichen freien Entscheidungen, daß wir uns da nicht einmischen? Das Evangelium des heutigen Sonntags spricht hier noch deutlicher als unser Predigttext. Mose und die Propheten zeigen den Weg zu Christus, wenn man sie recht versteht. Im Evangelium des heutigen Tages wünscht der reiche Mann für seine Brüder eine außergewöhnliche Belehrung und einen besonderen Ruf zur Buße, damit sie vorbereitet seien für das Gericht und die Trennung zwischen Himmel und Hölle am Ende der Tage. Abraham im Himmel weist jedoch auf diese Beschränkung hin und sagt: "Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde." Das Wort des lebendigen Gottes, wie es uns in den Schriften des Alten und Neuen Testaments überliefert ist, enthält alles, was wir wissen sollen.

VI.
Mit seinem Ruf zu den Schriften der Bibel will Jesus uns die Augen und das Herz öffnen, daß wir erkennen, was sie uns sagen soll. Der Herr hat uns den Weg zum ewigen Leben freigemacht und uns die Tür geöffnet, die einmal verschlossen war.
Wir hören täglich von Krieg und von vielfältigem Unglück und von Krankheit. Uns fällt es schwer, alle Phänomene in unserer ganz persönlichen und in der politischen Geschichte zu verstehen. Die Begegnung mit Jesus gibt uns die Langzeitperspektive auf unserem Weg mit ihm. Frei von allem Sich-behaupten-Müssen erlaubt er uns die Bitte: "Weise mir, Herr, deinen Weg, daß ich wandle in deiner Wahrheit". Da öffnet er uns den Blick, daß wir ihn und die Schriften verstehen und erkennen und so den Weg zum ewigen Leben trotz aller brennenden Fragen unserer Zeit nicht aus dem Auge verlieren.
Amen.


Pfarrer Dr. theol. habil. Rudolf Keller
Fliederstraße 12
91564 Neuendsettelsau
Tel.: 09874 / 66646
Fax: 09874 / 1315

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