Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


6. Sonntag nach Trinitatis
11. Juli 1999
Predigttext: 5. Mose 7, 6-12
Verfasser: Pfarrer Paul Kluge

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Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder,
zwei Generationen hatten an den Wasser von Babylon gesessen und geweint, wenn sie an Zion dachten. Die Alten hatten den Jungen vom Tempel erzählt und von Jerusalem, der hoch gebauten Stadt. "Wollt' Gott, ich wär' in dir!" hatten dann die Alten geseufzt; die Jüngeren verstanden das noch. Doch den ganz jungen, den Enkelkindern kamen keine Tränen mehr, wenn es hieß: "Nächstes Jahr in Jerusalem!" Sie waren im babylonischen Ausland aufgewachsen, sprachen die Landessprache mindestens genau so gut wie ihre Muttersprache und fühlten sich in der Fremde zu Hause. Manche machten heimlich Witze über die Alten, wenn die ihre Zionslieder sangen, und andere schämten sich wegen der auffälligen Kleidung, in der manche der Alten und sogar einige der Jüngeren immer noch herumliefen.
Manchen Streit hatte es deshalb in den Familien gegeben: Die Alten träumten von der Heimat, in die sie 'dermaleinst' zurückkehren würden (sie waren sich da ganz sicher), doch die Jungen lebten in der neuen Umgebung, gingen hier zur Schule, lernten hier Berufe, hatten hier Freundinnen und Freunde. Für die Alten kam es einer Katastrophe gleich, wenn jemand von den Jungen einen Einheimischen ehelichte - das war wie Hochverrat und Gotteslästerung in einem. Es kam trotzdem vor.
Und dann eines Tages plötzlich und unerwartet die Nachricht: Wir können zurück. Keiner hatte damit gerechnet, auch die Alten nicht. Sie hatten sich in ihrer neuen Umgebung eingerichtet, hatten Arbeit gefunden, Häuser gebaut, bescheidenen Wohlstand errungen. Und plötzlich war aus dem "Dermaleinst" ein "Sofort" geworden. Nun mußten sie ihren Traum verwirklichen, und das war gar nicht so einfach: Wieder alles aufgeben, wieder nur das Nötigste mitnehmen, wieder die beschwerliche und gefährliche Reise, wieder von vorne anfangen. Manche fanden ihre alten Häuser noch vor, einige halb verfallen, andere von fremden Menschen bewohnt. Manche zogen vorsichtshalber gleich an andre als ihre Herkunftsorte. Denn die alte und bewährte Aufteilung des Landes galt längst nicht mehr. Und wieder dauerte es ein paar Jahre, bis sie sich halbwegs eingerichtet hatten, und noch länger dauerte es, bis die Kinder nicht mehr fragten: Wann gehen wir denn wieder nach Hause?
Ja, die Kinder: Um die mußte man sich besonders kümmern, denn sie hatten im Ausland vieles nicht gelernt, was für das Leben der Vorfahren selbstverständlich gewesen war: Sprache, Kultur, Religion, die ganzen Alltagssitten und -gebräuche; alles mußten sie neu lernen.
Auch die Eltern hatten unbemerkt und unbeabsichtigt fremdländische Gewohnheiten angenommen, kannten schon manches nicht mehr, was für die Großeltern noch gang und gäbe gewesen war.
Die zurückgekehrten Erwachsenen und mehr noch die Kinder mußten nun also lernen, mußten wieder lernen, wie das gewesen war mit der Erschaffung der Welt, mit Noah und der Sintflut, mit Abraham, Isaak und Jakob, mit Joseph und seinen Brüdern; mußten lernen, wie das mit Mose gewesen war, mit dem Leben in Ägypten (das kam ihnen bekannt vor), mit Auszug und Wüstenwanderung (auch das glaubte sie zu kennen); vor allem aber mußten sie die Gebote und alle Vorschriften lernen, die seit Mose überliefert waren.
Dafür wurden Bücher geschrieben, Lehrer wurden dafür ausgebildet, und Kinder und Erwachsene hörten die alten Geschichten, übten die alten Lieder und lernten die alten Gebote auswendig. Was sie zum ersten mal hörten, fanden die meisten nur "alt". Doch je öfter sie die Geschichten hörten, die Lieder sangen, die Gebote aufsagten, um so mehr erschlossen sie sich ihnen.
Und dann entdeckten sie ein Grundmotiv, daß sich wie ein roter Faden durch alles hindurch zog, durch die Geschichten ebenso wie durch die Geschichte, durch die Lieder wie durch das Leben, durch die Gebote wie durch die Gebete: Das Motiv von Gottes Treue zu seinem Volk.
Das kam ihnen schier unglaublich vor, denn es gab noch ein zweites Motiv: Die Untreue des Volkes gegenüber seinem Gott. Was hatte das Volk sich nicht alles geleistet an Eskapaden, an Verehrung fremder Götter, die gar keine waren; an Mißachtung der Gebote, die das Leben für alle lebenswert machen und die Schwachen schützen wollten. Könige hatten sie auf Throne gesetzt, obwohl ihr Gott allein regieren wollte, und hatten Menschen versklavt, obwohl ihr Gott sie aus der Sklaverei befreit hatte. Und das war noch lange nicht alles, was sie sich geleistet hatten.
Trotzdem, trotz alledem hatte ihr Gott zu ihnen gehalten. Hatte sie bestraft, aber nicht zerstört, hatte sie geknickt, aber nicht zerbrochen. Hatte ihnen immer wieder die Chance gegeben, neu anzufangen.
So wie jetzt, wo sie wieder da waren, wo sie hergekommen waren. Und wo sie nun doch bleiben wollten. Dazu mußten sie ihr Gemeinwesen regeln, wieder ein Volk werden, ihre Identität neu finden. Dabei konnten und sollten die Gebote Richtschnur sein. Und da tat es gut, was in den Lehrbüchern stand, denn es bestätigte sie in ihrem Vorhaben: Dt 7, 6 - 12

Liedvorschläge: EG 231; 249; 294; 409; 495.
Als (einleitenden)Teil der Fürbitte: 2. Makkabäer 1, 24ff

Pfarrer Paul Kluge, Diakonisches Werk i. d. Kirchenprovinz Sachsen e. V., Magdeburg.

Einige Vorbemerkungen zur folgenden Predigt: Sie knüpft einleitend an Psalm 137 an, das Klage- und Hoffnungslied Israels in der Babylo-nischen Gefangenschaft, und setzt dann die Situation der aus dem Exil zurückgekehrten Israeliten voraus: Sie mußten ihr ganzes Staatswesen, aber auch das Leben in Familie, Sippe und Nachbar-schaft neu ordnen. Dabei von den Geboten, dem "Grundgesetz" des Jahwebundes mit seinem Volk, auszugehen, war der Rat von Predi-gern und Propheten. Möglicherweise ist das 5. Buch Mose zu diesem Zweck geschrieben, mit Sicherheit benutzt worden. Die Situation von heimkehrenden Flüchtlingen, Gastarbeitern, Aussiedlern etc. heute ist durchaus mit damaligen Problemen vergleich-bar.

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