Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


12. Sonntag nach Trinitatis
22. August 1999
Predigttext: Jesaja 29, 17-24
Verfasser: Harald Welge

Die Ewigkeit fasziniert uns, weil sie vor uns liegt.
Der Augenblick des Geschehens ist tragisch, weil mit seiner Erfüllung die Vergangenheit, die Vergänglichkeit uns erfaßt hat.
Also: Gott sei Dank für jene Worte, die er vor über 2000 Jahren Jesaja in den Mund gelegt hat von einer neuen Welt, in der die Tyrannen ausgerottet, die Spötter verschwunden, die Fallensteller entfallen, die Irrenden zur Einsicht gekommen sind - und gar karge Berg- und Wüstenlandschaften zum paradiesischen Fruchtgarten verwandelt haben. Soll niemand behaupten, es gäbe keine Visionen mehr - die biblischen Schriften sind reich davon - und die Zeit sieht danach aus, daß sie noch lange als Visionen Bestand haben werden;
gut gelagert im Traum der Ewigkeit.
Was also soll die Ankündigung des Propheten "eine kurze Zeit" nur noch - und die große Wandlung bräche hervor und realisiere die Prophezeiung? Will der Seher der Zukunft uns der Vision, der Zukunft berauben und - um des kurzen Augenblicks der Erfüllung - uns der Vergänglichkeit überlassen, die eine Welt darstellt, die doch nicht von Dauer sein kann.
Ein Glück, daß wir TheologenInnen haben, die mich zurechtrücken in meinem Zeit- und Textverständnis dieser veränderten Jesajawelt und es einzuordnen wissen in den geschichtlichen Kontext jener Jahre, in denen Israel, durch die Macht Assur unterdrückt, nach Befreiung sich sehnte und aus dem Exil, der Okkupation, herausgeführt werden sollte.
Doch führen die historischen Erklärungen solch biblischer Zukunftsworte nicht zum Bankrott unseres Gottesdienstes, wenn er doch mehr sein will als Geschichtskunde.
Und ich frage Jesaja, was soll das heißen "nicht mehr soll Jakob sich nun schämen und sein Gesicht nicht mehr erbleichen" angesichts der gekommenen Zeiten von Auschwitz, mittelalterlichen Judenverfolgungen, Antisemitismus gestern wie heute, Massenvernichtungen und Unfriede im Heiligen Lande. Ach, Jesaja, dein enges Korsett der Zeit, deine klaren Bilder der Zukunft wirken lächerlich gegenüber den Erfahrungen der Menschen, deren futuristische Erwartungen gipfeln in ausgefeilten technokratischen Diktaturen - alles überschauend; was für Visionen!
Nichts gegen Zukunftsvisionen: Fernsehen und Kino wissen, daß sie magnetisch die Menschen an sich ziehen. Zukunftsbilder, ob optimistisch oder pessimistisch, werden akzeptiert aber eben nur in ihrer Zukünftigkeit; unglaubwürdig erscheinen sie erst in ihrem Anspruch auf Gegenwärtigkeit. Darin Jesaja, machst du dich unglaubwürdig mit deinen Sätzen der "kurzen Zeit", die nun schon über zwei Jahrtausende anhält - und uns in Atem hält.
Denn deine Worte, Jesaja, atmen den Hauch der Ewigkeit, die über unsere Zeiten hinwegzieht, sich immer wieder neu vor uns setzt - uns vorwegzieht wie einst die Feuers„ule beim Auszug Israels aus Ägypten. Deine Worte zeigen uns an, daß wir noch lange nicht am Ziel sind, weder am Ziel unserer Träume noch unseres Lebens. Wir brauchen eine Zukunft, die nicht durch uns erfüllbar ist, eine Vollkommenheit, die menschlicher Zerbrochenheit gegenübersteht. Das muß nicht Illusion heißen, so es einen Standpunkt, einen Standort auf der Welt unseres Lebens hat. Ist Jakob Israel nicht solch ein Standpunkt dieser Hoffnungszukunftswelt: zwar nicht im politisch territorialen Sinne heutiger Auseinandersetzung mit Palästina, sondern allein in der Existenz eines Glaubens von Menschen - überlebt die Vernichtungen der Zeiten.
Und ist nicht ein Standpunkt, ein Standort auf der Welt unseres Lebens der Messias, den wir Christus Jesus nennen, als die Zukunft der Geschichte, die mit ihm für alle Welt damals in Galiläa, in Jerusalem begonnen hat: eine Zukunft, die visionär den Einbruch einer anderen Geschichte auf diese verkrustete Erde bekundet.
Die beiden anderen Lesungen des heutigen Gottesdienstes, die Heilung des Taubstummen (MK 7) - Taube werden hören und Stumme werden reden -, der Wandel des Saulus zum Paulus: das Ende der Verfolger -, sehend werden und zur wahren Erkenntnis kommend - sind das nicht Aufnahmen der Vision Jesajas in unsere Wirklichkeit des Lebens - ohne dabei schon vollendet zu sein?
Die Endgültigkeit bleibt der kommenden Zeit vorbehalten; um so wichtiger, von der Zeit abzusehen und hinzusehen auf die Worte, auf den Inhalt, auf die Bilder, auf das Geschehen, das Jesaja und das der von Nazareth uns offeriert: ein anderes Bild der Welt; eine andere Anschauung, eine andere Perspektive: Gegensätze!
Sehend werden: zur Erkenntnis kommen, daß die vorfindliche, soziologisch beschriebene und tiefenpsychologisch analysierte und ökonomisch strukturierte
Welt nur je ein Blickwinkel ist - ohne mein Leben insgesamt damit begriffen und verstanden und erfahren zu haben.
Jesajas Worte sind Sprechübungen für eine Lebenswelt, die nicht aufgeht in der Verrechenbarkeit unserer "humankapitalisierten" Sprachpotenz. Jesajas Worte wollen die Gefangenschaft der Gegenwart und ihrer Vergänglichkeit aufheben und eine Zukunft öffnen, die anspricht die Elenden und Ärmsten, anspricht mich in meinem elenden und ärmsten Dasein: die Trauer im Menschen, die Leere, die Stumpfheit in der Sehnsuchtslosigkeit, da alles scheinbar befriedigt werden kann. Ansprechen, d. h. anspruchsvoll sein gegen das Einerlei, das nun auch den Sonntag zum Verkauf anbieten möchte, auf daß der Ruhetag zum Tag wie jede andere werde. Ansprechen heißt dann widersprechen.
Doch es wird keine Anordnung der Zukunft geben. Mit der Vision Jesajas betritt die Freiheit der Menschen die Bühne des Lebens.
Jubeln dürfen, nicht sollen; heiligen können, nicht müssen - "trotz alledem": so lauten die Sprechübungen, die gegenwärtig in die Ewigkeit sich strecken.
Die Worte des Propheten sind nicht aufgebraucht; sie heilen eine Menschenwelt, die im Unheil sich verfangen hat; denn sie brechen Erstarrtes und Liebloses auf und ermutigen, den Standort zu verlassen, der im Wahn der eigenen Machbarkeit sich aufgegeben hat. Nicht der Moment, der sogleich verfliegt; nicht die schnelle Erfüllung des begehrten Wunsches heilt den Menschen und befriedigt ihn in seiner unvollkommenen Existenz.
Gegen die Atemnot der Welt sprechen die Bilder des langen Atem jenes Gottes, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Harald Welge
Kirchstraße 12
38120 Braunschweig
Tel.: 0531-842208
Fax: 0531-842205

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