Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


12. Sonntag nach Trinitatis
22. August 1999
Predigttext: Jesaja 29, 17-24
Verfasser: Hans-Gottlieb Wesenick

17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.
18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; 19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, 21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.
22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. 23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - seine Kinder - in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. 24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.


Liebe Gemeinde,
manchmal mag ich einfach nicht mehr hinsehen und nicht mehr zuhören, wenn die Tagesschau läuft. Dann mag ich auch nicht mehr reden über die deprimierenden Nachrichten, die es da so oft zu sehen und zu hören gibt. Diese Unbeugsamkeit von einzelnen Menschen, von Gruppen, von Parteien! Diese Unmenschlichkeit, mit der Menschen einander bekämpfen! Es ist doch zum Verzweifeln, mit ansehen zu müssen, wie die Bevölkerungsgruppen im Kosovo einander nachstellen und ihrem Haß freie Bahn zu schaffen suchen. Monatelang hatten die Albaner zu Hunderttausenden zu leiden; zurückgekehrt in das geschundene Land, wenden sie sich nun voller Rachedurst gegen Serben und Roma, egal, ob die einzelnen ihnen etwas getan haben oder nicht. Und nicht minder grausam, nur unter etwas anderen Vorzeichen und aus etwas anderen Gründen, geht es neuerdings wieder in Tschetschenien und Dagestan zu. Und daneben gibt es wieder das übliche "Sommertheater" in Bonn und die verstopften Autobahnen zur Ferienzeit mit den schlimmen Unfällen.
Dann denke ich an das bekannte Symbol mit den drei Affen, das es als Andenken überall zu kaufen gibt: der Erste hält sich die Augen zu - er will nichts sehen; der Zweite hält sich die Ohren zu - er will nichts hören; und der Dritte hält seine Hände vor den Mund - er will nichts sagen.
Es heißt, die drei Affen mit ihren eindeutigen Gesten verkörperten die Haltung eines weisen Menschen. Manchmal, wenn ich nichts mehr sehen und hören und sagen will, scheinen mir die drei Affen tatsächlich ein sinnvolles Vorbild zu sein. Aber restlos überzeugt haben sie mich nicht. Und dann sehe ich doch wieder hin bei der Tagesschau und lese die Zeitung und rede über das Gesehene und Gehörte mit meiner Frau und mit anderen. Und dann habe ich den starken Verdacht, daß die drei Affen in Wahrheit gar nicht weise sind, sondern blind und taub und stumm. So möchte ich nun doch nicht sein.
Jedoch, liebe Gemeinde, zuviel kriegen von dem allen um uns herum, das kann ich manchmal durchaus. Und verstehen kann ich, wenn es Ihnen zuweilen auch so geht. Das Leben ist wirklich sehr kompliziert. Oft fühlen wir uns überfordert und sind es wohl auch, weil wir per Radio und Fernsehen und Zeitung übermäßig viele Nachrichten und Meinungen mitgeteilt bekommen, viel mehr als unsere Eltern oder Großeltern vor 40 und 50 Jahren. Was sollen wir nur mit all den Ereignissen anfangen? Fast immer reichen sie weit über die Lebensbereiche hinaus, die wir überschauen können, und meistens können wir sie auch gar nicht richtig einordnen und beurteilen. Vielleicht lebten wir leichter, wenn wir das alles nicht sähen oder hörten! Niemand kann doch die Schicksale der ganzen Welt allein auf seine schwachen Schultern heben, auch ein Christ nicht! Da gibt es wirklich genug Anlaß, einfach nichts mehr sehen und hören und sagen zu wollen und die Dinge eben einfach laufen zu lassen, wie sie nun einmal laufen.
Aber, liebe Gemeinde, bei allem Verständnis für den Überdruß an schlimmen und schwierigen Nachrichten: die drei Affen dürfen nicht unser Vorbild sein! Die Welt und die Menschen, die oft so bedrückt und ohne Vertrauen in ihre Zukunft leben, weil es hier oft so schlimm zugeht, sie haben eine Zukunft! Gott gibt sie ihnen.
Das meint jedenfalls der Prophet Jesaja in dem Abschnitt, den wir gehört haben. Er redet zu Menschen, die auch nichts mehr sehen und hören wollen, die keine Freude mehr am Leben haben. Sie werden verachtet werden und müssen schlimme Demütigungen ertragen, weil sie bisher treu an ihrem Gottesglauben festgehalten haben. Aber allmählich sind sie nahe daran, zu resignieren und doch nichts mehr von der Zukunft zu erwarten. Die schwierige Gegenwart können sie kaum noch aushalten, und eine Wende zum Besseren läßt auf sich warten.
Diese Leute erinnert der Prophet an die Erfahrungen, die ihre Vorfahren mit Gott gemacht haben. Er verweist auf ihren Urvater Abraham: der ist auf Gottes Zusage hin aufgebrochen in eine völlig ungewisse Zukunft. Der gehorchte einfach Gott - nicht mehr, nicht weniger, und machte sich auf den Weg. Mit seinem Glaubensgehorsam begann jene Geschichte, die zur Geschichte des Volkes Israel wurde, des Hauses Jakob, wie es hier heißt. Daran erinnert der Prophet seine verzagten Landsleute. Indem er Abrahams Namen nennt, erinnert er sie an den Gott, der Abraham gleichsam bei der Hand nahm und ihn zum Segen werden ließ für alle Nachkommen. Gott blieb nicht irgendwo in erhabener Ferne, sondern machte die Sache seines erwählten Volkes zu seiner eigenen Sache. Und welch überwältigende Erfahrungen es da zu berichten gibt, die Isaak und Jakob, die Mose und das ganze Volk Israel gemacht haben, das wissen sie ja. Das ist ihnen von Generation zu Generation immer wieder neu erzählt worden.
Und Sie, liebe Gemeinde, kennen diese Erfahrungen auch: Gott führte das geknechtete Volk aus Ägypten heraus. Er bewahrte es in der Trostlosigkeit während der Zeit der Wanderung durch die Wüste. Er gab dem Volk in David einen König, der die zwölf Stämme zu einem machtvollen Reiche vereinigte. Gott hielt schließlich auch zu seinem Volk in Zeiten des Niedergangs und der Katastrophen.
Solch gute Erfahrungen mit Gott haben bei den Menschen durch die Zeiten hin stets wieder neue Hoffnungen bei den Menschen begründet und haben ihnen neue Zuversicht gegeben, haben ihre Zweifel und Resignation überwunden. Sollte das jetzt etwa anders sein? "Nein, ihr werdet nicht mehr blaß werden vor Schrecken. Es wird alles anders werden. Gott wird das tun. Und Ihr werdet es merken, wie er am Werke ist!" So hat der Prophet gesprochen.
Und so, liebe Gemeinde, sind auch wir jetzt gefragt. Wie sehen wir in solch einem Zusammenhang unsere Erfahrungen? Können wir auch davon sprechen, daß Gott unsere Sache zu seiner eigenen gemacht hat? Haben wir so etwas erlebt?
Es ist ja für uns heutzutage immer ein wenig schwierig, die eigenen Lebenserfahrungen so unmittelbar mit Gott in Zusammenhang zu bringen, und nicht jeder vermag das so ohne weiteres. Manchmal haben wir den Eindruck, daß unsere Gebete überhaupt nicht erhört werden. Allerdings können wir auch nicht begreifen und wollen es schon gar nicht akzeptieren, daß Gottes Antwort darauf "Nein!" lautete. Aber dann fällt es auch schwer, zu anderer Zeit, in anderem Zusammenhang das "Ja!" wahrzunehmen, das uns zugerufen wurde.
Wie gesagt, hier ist Eindeutigkeit eigener Erfahrungen nicht selbstverständlich. Die Älteren unter uns haben das Kriegsende 1945 miterlebt - die einen als katastrophales Ende von Hoffnungen und Illusionen, die anderen als hoffnungsvolle Befreiung. Fast alle haben aber auch immense Schwierigkeiten durchstehen müssen, und das zum Teil jahrelang. Und dann gab es auch das Bewußtsein: wir werden gebraucht, wir müssen zupacken, damit es anders wird, damit sich unsere Lage noch einmal zum Guten wenden kann. Die großen Schwierigkeiten überall haben sie als Chancen wahrgenommen, einen Neuanfang zu wagen. Und wenn wir auf die 54 Jahre seither zurückblicken, dann können wir nur staunend ausrufen: "Was alles hat sich inzwischen verändert!" War das Gottes Werk? Waren das überwältigende Erfahrungen mit ihm?
Jüngere Menschen werden unsere Gegenwart oft genug anders sehen und erleben und auf Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit hinweisen, die sie nur als höchst problematisch, zum Teil sogar als verhängnisvoll beurteilen. Nicht wenige sind direkt davon betroffen. Sie würden gern zupacken und lernen und wichtige Aufgaben übernehmen, aber sie können es nicht: wer einen Beruf anstrebt, in dem er etwas leisten könnte, findet keinen Ausbildungsplatz. Wer sein Neigungsfach studieren möchte, bekommt keinen Studienplatz. Werden sich diese Hindernisse überwinden lassen? Wenn Ausbildung und Studium dann schließlich doch abgeschlossen sind, erheben sich neue Hindernisse. Wieder heißt es: suchen, warten, kämpfen. Und wer einen Gedanken, einen neuen Weg erproben will, der wird von einem Gespinst bürokratisierter Bedenken geräuschlos, aber wirksam aufgefangen.
So erscheint vielen jungen Menschen die Zukunft weitgehend verbaut, kanalisiert, zu einem Feld der Unfreiheit geworden. Was für einen Sinn hat das alles noch für mich? Warum soll ich mich interessieren und engagieren, warum überhaupt ein Ziel anstreben? So fragen viele. Und einige begehren auf und wenden sich blindlings gegen alles, was ihre, was unsere Welt ausmacht.
Liebe Gemeinde, da sind also zwiespältige Erfahrungen zu registrieren und nicht selten ein Nebeneinander von Hoffnung und Verzweiflung. Resignation liegt nahe.
"Nein!" sagt der Prophet. Und "Nein!" sage ich auch. Ich wage das, weil ich glaube, daß es keine billige Vertröstung ist.
Ich möchte Sie an eine Geschichte aus dem Neuen Testament erinnern. Jesus kam zum Gottesdienst in die Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth und wollte, wie andere Männer auch und wie es Brauch war, aus der Schrift vorlesen. Man reichte ihm das Buch des Propheten Jesaja, und er las daraus einen Abschnitt, der unserem Predigttext stark ähnelt. Und dann fügte er noch einen Satz hinzu: "Heute ist dies Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren!" (Luk. 4, 21)
"Heute" sagte er, nicht "eines schönen Tages". Heute sollen die Armen und die Blinden, die Stummen und die Tauben froh werden, heute sollen die Elenden wieder Freude haben am HERRN, heute sollen die Ärmsten unter den Menschen wieder fröhlich sein.
Die Leute in der Synagoge wunderten sich. Einige lachten, einige ärgerten sich und wollten handgreiflich werden. Ein paar Realos brachten die Sache rasch wieder in Ordnung: "Regt euch nicht auf! Den kennen wir doch. Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria, sind nicht Jakob und Joses und Simon und Judas seine Brüder? Also, warum regt ihr euch auf?" Da gingen die Leute wieder zur Tagesordnung über und ließen den Verrückten stehen. Es ist nichts weiter passiert.
Und ist bis heute etwas passiert? Haben wir nicht heute wie damals Blinde und Lahme, Stumme und Taube, Entrechtete und Ärmste unter uns? Werden nicht auch heute Herzen zerschlagen? Und kennen wir Jesus nicht inzwischen recht gut? Sagen wir nicht auch: "Den kennen wir doch! Seine Prediger sind unter uns und seine Anhänger, aber passiert ist nichts und passieren wird nichts." So haben sich viele Menschen entschlossen, doch lieber alles selber in die Hand zu nehmen. Den meisten will das nur nicht recht gelingen, die Hoffnung z.B. dieses alten Propheten, die Zusage Jesu in die Tat umzusetzen und durchzuhalten.
"Es wird ein Ende haben mit den Tyrannen", sagt der Prophet, "mit den Spöttern wird es aus sein. Es werden vertilgt alles, die darauf aus sind, Unheil anzurichten." Das also haben die Menschen selbst in die Hand genommen. Ergebnis: die Tyrannen, das sind immer die anderen. Die Spötter, das sind immer die anderen. Unheil, das richten immer die anderen an. So sind durch die Jahrhunderte und Jahrtausende der Geschichte immer wieder Menschen gegen Menschen aufgestanden und haben ihre Sache selbst in die Hand genommen. Wohin das führt, das können wir nicht nur im Kosovo und überhaupt auf dem Balkan sehen, sondern überall, wo Menschen die Waffen gegen ihresgleichen ergreifen. Nur: ihre Hoffnung hat sich dadurch nicht erfüllt, und viele haben den Glauben verloren, den Glauben an Gott und den Glauben an sich selbst.
Ist es also nichts mit der Verheißung des Propheten "Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte der Schrift, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen, und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn"? Und ist es auch nichts mit dem Ausspruch Jesu "Heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Ohren"?
Liebe Gemeinde, wenn wir die Hoffnung in unserem Leben nicht ganz verlieren wollen, wenn wir diese Welt nicht ganz und gar dem Menschen und seiner Willkür und Gewalt, der Angst und der Verzweiflung überlassen wollen, dann müssen wir auf Jesu Wort hören. Dann müssen wir zu ergründen suchen, was er mit dem "Heute" meint. Dann müssen wir auf ihn schauen.
In Jesus erkennen wir dann nämlich den Gott Abrahams und Jakobs, erkennen den Gott, der ein Auge hat auf die, die ihn brauchen, der ein Ohr hat für die, deren Elend zum Himmel schreit, und der seinen Mund auftut für die, denen bittere Erfahrungen die Lippen geschlossen haben. Für diesen Gott, für seine Liebe zu uns Menschen steht Jesus als Bürge ein. Er ist weder blind noch taub noch stumm. In Jesus hat Gott mit der Veränderung der Welt angefangen - wirklich, auch wenn wir es bisher nicht wahrgenommen haben und lieber nichts hören, nichts sehen, nichts sagen wollen von dem, was uns Not macht, und meinen, allenfalls wir selbst könnten unsere Sache in die Hand nehmen und zum Guten wenden.
Davon sind doch unsere Evangelien voll, daß Blinden die Augen aufgingen, daß Stumme wieder reden konnten. Sie sind voll davon, daß Menschen neue Hoffnung gewannen und fröhlich wurden in Gott. Seitdem gibt es den heimlichen Jubel, daß unsere Welt gegen allen Augenschein Grund und Anlaß zur Hoffnung hat.
Unsere Hoffnung gründet sich auf Jesus Christus, liebe Gemeinde. Dazu sind wir z. B. hier im Gottesdienst beieinander, daß wir nicht nur jammern und stöhnen, sondern auch - fast möchte ich sagen: ausnahmsweise - einmal Gott loben und "Freude haben am Herrn". Und leben uns das nicht auch immer wieder Menschen vor? Entsteht nicht Vertrauen in Gottes Sache immer wieder über das Vertrauen zu Menschen, die mit uns glauben? Können wir nicht an ihnen lernen, auch selber zu glauben? Gegenseitig können wir unsere Hoffnung anfachen und uns ermutigen zu mehr Ausdauer, zu geduldiger Liebe, zu Humor und auch dazu, das Murren der Unverständigen zu ertragen.
"Zu der Zeit" sagte der Prophet. "Heute ist diese Zeit", sagte Jesus - weil er der Herr jeder Zeit ist. Heute ist diese Zeit für jeden, der Christus glaubt. Wir haben allen Grund, Gott dafür zu loben und zu danken. Amen.

Pastor i. R. Hans-Gottlieb Wesenick, Stauffenbergring 33, 37075 Göttingen
Tel. 05 51 / 2 09 97 05, Fax 05 51 / 2 09 97 08, e-mail: H.-G.Wesenick@t-online.de

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