Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


13. Sonntag nach Trinitatis
29. August 1999
Predigttext: Markus 3, 31-35, III. Reihe
Verfasser: Heinz Fischer

Liebe Gemeinde,

[ I. Der Text ]

die Lebensform Jesu ist eine ungeheure Provokation für jede nur denkbare Familienbindung!
Ich stelle mir das einfach mal vor: Einer unserer Söhne zieht in seinen zwanziger Lebensjahren mit 12 anderen jungen Männern mittellos durch`s Land und sagt: Einer von ihnen sei der Sohn Gottes ! Der Gedanke ist zumindest gewöhnungsbedürftig, aber keineswegs hergeholt. Denken wir an die jungen Leute bei uns, die irgendeiner Weltanschauung und ihrem Führer verfallen sind! Ich will das nicht direkt vergleichen, aber ich denke an die Familie Jesu. Die wußte ja damals am Anfang noch nicht, wie das weitergeht. Die Familie dachte ganz menschlich.
Das dritte Kapitel gehört bei Markus in die Phase, in der sich Jesu Berufung zeigt. Eine Katastrophe für jede Familie! Einige Verse vorher steht (21.22) in demselben Kapitel:
Er ging in ein Haus. Und da kam abermals das Volk zusammen, so daß sie nicht einmal essen konnten. Und als es die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten ihn festhalten; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen!

Dann wird hier im heutigen Predigttext deutlich, daß die Sache noch keineswegs ausgestanden ist (31):

Es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen und schickten
zu ihm und ließen ihn rufen!

Damit ist der Konflikt deutlich: Der von Gott Berufene, der Messias, Heiland, Sohn und Erlöser wird von seiner Familie gerufen !
Seine Familie erlebt nun, daß sie an dieses Familienmitglied einfach nicht mehr herankommt.
(32) Das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, dein Mutter und deine
Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.
So erfahren wir ganz verhalten etwas über die Familie Jesu, der Vater wird hier nicht genannt!
(33) Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und [ wer
sind ] meine Brüder?
(34) Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach:
Siehe das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
(35) Denn WER DEN WILLEN GOTTES TUT, DER IST MEIN BRUDER
UND MEINE SCHWESTER UND MEINE MUTTER.

[ II. Kanzelmeditation ]

Für jüdisches Denken gab es schlechthin keine stärkeren Bindungen auf Erden als den Familienverband. Der konservative, bisherige Ministerpräsident in Israel, Netanjahu, praktizierte das zum Entsetzen der Gastgeber und des Protokolls auch in unserer Zeit und reiste zu Konferenzen und Verhandlungen in die USA und nach Europa mit seiner ganzen umfangreichen Familie.
Jesus stellt diese Familienbindungen nicht etwa in Frage, sondern in einen größeren Zusammenhang. Wer seine Einbindung in diese Welt nicht nur biologisch erlebt, sondern auch geistig, der bekommt in der christlichen Gemeinde auch eine neue Verwandtschaft. Alle, die zu Gott "Vater" sagen, sind als Gemeinde eine große Familie und untereinander Geschwister.
Wir können das gar nicht deutlich genug sagen: Durch die Taufe werden wir neu geboren aus Wasser und Geist und Kinder des einen Vaters, der alles in allem ist. So werden wir untereinander Geschwister und dürfen auch Schwester Gerdes (Vors. des KV) und Bruder Hoymann (Küster, den alle kenne) sagen.
Wenn wir von Kirchenmitgliedern langsam zu überzeugten Christen mutieren, dann bleibt diese Spannung auch heute spürbar. Unsere Familie findet das ja vielleicht gar nicht so toll, wenn wir uns ganz bewußt und engagiert zur christlichen Gemeinde halten und in unserer Zeit Gott verehren, gemeinsam mit anderen "Schwestern und Brüdern" in der großen Zahl der Kinder Gottes!
Um diese Spannung geht es hier. Jesus kannte das also aus eigenem Erleben. So konnte er an anderer Stelle sagen (Mt. 10,36): "Des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert!" - Harte, klare Worte! Glauben gibt es nicht zum Null - Tarif und die Nachfolge Jesu schon gar nicht !
Wenn ich so überlege, wer hier in unserer Gemeinde (Name der Gemeinde) den Willen Gottes tut, dann frage ich mich natürlich, wer hier wessen Verwandter im Sinne Jesu ist. Zugleich frage ich mich etwas beklommen: Bin ich selbst überhaupt in der Lage solch ein Verwandter Jesu zu sein? Tue ich denn den Willen Gottes und trage ich zu diesen neuen verwandtschaftlichen Beziehungen in der Gemeinde bei?
Wer ist eigentlich fähig, diese neuen Familienbindungen Jesu in einer heutigen Kirchengemeinde zu leben? Sieht unser Gemeindeleben so aus, wie Jesus das gemeint hat? Da könnte sich bei uns noch viel Geschwisterliches entfalten!
Ich beobachte hier bei uns, daß mein Verein, mein Club, meine Verbindungen, meine Partei, mein angestammter Freundeskreis und vieles mehr den größeren Zusammenhang stiften, in dem ich über meine Familie hinaus "zu Hause" bin!
Was vermag die Gemeinschaft in Wasser und Wort, in Brot und Wein für mich an Gemeinschaft zu stiften?

[ III. Ohne Entscheidung geht es nicht! ]

Von diesem Predigttext her verstehe ich neu, daß Jesus nicht gekommen ist, Frieden zu bringen, sondern das Schwert! Das steht tatsächlich in der Bibel (Mt. 10, 34). Die eingangs genannte Spannung bleibt auch für uns bestehen. Als Jesus seine Jünger berufen hat, da war das ein Ruf heraus aus der damaligen Gesellschaft. In jedem, der Jesus nachfolgen will, bleibt der Stachel stecken, daß wir aus unserer bürgerlichen, satten Gesellschaft herausgerufen werden. In diesen Zusammenhang gehören die Worte Jesu:
"Wer sein Leben findet, der wird`s verlieren und wer sein Leben verliert um
meinetwillen, der wird`s finden" (Mt. 10,39).
Oder: "Wer mich bekennt vor den Menschen, den will auch ich bekennen vor
meinem himmlischen Vater. Wer mich aber leugnet vor den Menschen, den will
ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater." (Mt. 10, 32.33)

Wer sich mit Jesus wirklich einläßt, der wird neu, der kann einfach nicht so bleiben wie er bisher war. Das wird ein Mensch sein, der in neuen Zusammenhängen lebt, der neue Verwandtschaft entdeckt, der konzentriert und offen zugleich leben lernt.

Der "neue Mensch" in mir ist zugleich immer eine Provokation für den "alten Menschen" in mir! Mit dem Glauben wächst diese Spannung.

Beim christlichen Glauben geht es nicht ohne Entscheidungen. Entscheidungen sind oft eine ärgerliche Sache, weil wir gern im Kompromißfeld von "Jain" und "Ja, aber" leben.
Dieser ganze Predigttext geht uns wider die Natur und dann sagt Jesus auch noch:
Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!" (Mt. 11,6)

Das heißt in freier Übertragung und klaren Worten: Selig ist, wer die Grundentscheidungen seines Lebens ebenso fällt, wie Jesus es getan hat, und sich an Gott allein bindet und an nichts mehr als an Gott, den Vater, der alles in allem ist.

Ich kannte eine Frau hier in unserer Stadt, die sprach in ihrem Familien- und Freundeskreis frei über ihren eigenen Tod. Sie sprach über Abschied und Leben in Gottes Hand. "Geborgen in ihm" war für sie keine fromme oder leere Phrase!
Sie strahlte sehr viel Vertrauen aus, gerade auch als sie so krank war.

Sie war eine "wahre Verwandte" in dem Sinn, den Jesus gemeint hatte. Sie war eine entschiedene Frau, die sich nicht an ihm ärgerte und zu ihrer Lebensentscheidung stand. Bei ihrer Beerdigung konnte ich voller Überzeugung ein Gedicht von Kurt Marti lesen, der auch solche Menschen gekannt und diese Verse geschrieben hat:

wenn ich gestorben bin hat sie gewünscht
feiert nicht mich und auch nicht den tod
feiert DEN der ein gott von lebendigen ist,

wenn ich gestorben bin hat sie gewünscht
zieht euch nicht dunkel an das wäre nicht christlich
kleidet euch hell singt heitere lobgesänge

wenn ich gestorben bin hat sie gewünscht
preiset das leben das hart ist und schön
preiset DEN der ein gott von lebendigen ist

Wer nur zu Weihnachten und bei Familienfesten in die Kirche geht, bekommt von diesem Jesus kaum etwas mit.
So bleibt dieses Wort Jesu von der Wahlverwandtschaft den meisten Zeitgenossen verborgen.
WER DEN WILLEN GOTTES TUT, DER IST MEIN BRUDER
UND MEINE SCHWESTER UND MEINE MUTTER.
Halten wir Ausschau nach unseren wahren Verwandten. Die "Familie Gottes" ist ein uraltes Bild für die lebendige Gemeinde. Keiner hindert uns in unseren großen Kirchengemeinden, kleine Gruppen und Kreise zu bilden, die das Leben in der Gemeinde zu ihrer Sache machen. Auf solch einem Weg werden wir viele nette Menschen entdecken und Freude haben. Wer Glauben lebt, wird fröhlich sein !

Amen.


Propst Heinz Fischer, Großer Kirchhof 6, 38350 Helmstedt





Anhang:

Psalm 112 - 13. So. nach Trinitatis


Wohl dem, der den Herrn fürchtet,
der große Freude hat an seinen Geboten.

Sein Geschlecht wird gewaltig sein im Lande;
Die Kinder der Frommen werden gesegnet sein.

Wohl dem, der barmherzig ist und gerne leiht
Und das Seine tut, wie es recht ist!

Denn er wird ewiglich bleiben;
der Gerechte wird nimmermehr vergessen.

Vor schlimmer Kunde fürchtet er sich nicht;
sein Herz hofft unverzagt auf den Herrn.

Sein Herz ist getrost und fürchtet sich nicht,
bis er auf seine Feinde herabsieht.

Er streut aus und gibt den Armen; seine Gerechtig-
keit bleibt ewiglich.
Seine Kraft wird hoch in Ehren stehen.

Der Gottlose wird`s sehen, und es wird ihn verdrießen;
Mit den Zähnen wird er knirschen und vergehen.
Denn was die Gottlosen wollen, das wird zunichte.

Ehre sei dem Vater und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,

wie im Anfang, so auch jetzt
und alle Zeit / und in Ewigkeit.
Amen.


(Abgrenzung abweichend vom Perikopenbuch:
V 1. 2 und 5 - 9 u. 10)

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