Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


14. Sonntag nach Trinitatis
05. September 1999
Predigttext: Markus 1, 40-45
Verfasser: Christian Tegtmeier

Ferienende und Schuljahresbeginn - markante Abschnitte im Rhythmus unseres Jahres, wichtige Termine und Daten in unzähligen Kalendern. Und viel wird für das eine wie das andere getan. Denn diese Zeit, genauer gesagt der Wechsel aus der freien, selbstbestimmten Zeit in einen Zeitabschnitt des geordneten oder verordneten Mit- und Füreinanders wird von den Menschen besonders intensiv wahrgenommen und gestaltet. So wie der erste Ferien- und Urlaubstag besonders vorbereitet und geplant sein will, so soll auch die Rückkehr in den Alltag und die Welt der Geschäftigkeit bewußt geschehen. Denn der Mensch von heute und jetzt will fit sein für sein Leben:
Fit sein, wenn er aus dem Urlaub kommt, fit sein für die Mühe und Arbeit, die ihn erwarten und lange Zeit erst einmal nicht loslassen wollen. Fit sein, um einen Abschnitt seines Lebens, der nicht so sehr selbst gestaltet, aber zu verantworten ist, verkraften zu können. Solch ein markanter Tag im Wechsel der Zeiten ereignet sich für die gesunden Menschen, wobei sie ihre Gesundheit oft genug gleichsetzen mit der Fähigkeit und Tüchtigkeit, ihre Aufgaben und Pflichten zu erfüllen, Lasten zu tragen, die ihnen von anderen aufgebürdet werden, Widersprüche aushalten oder gar lösen zu können, letztlich auch die Grenzen der eigenen Machbarkeit und der eigenen Vitalität erkennen, annehmen und erleiden zu können, ohne vorab daran zu zerbrechen. Für diese reiche Vielfalt der Aufgaben muß der Mensch von heute und jetzt gesund, eben fit für das Leben sein.
Wer dächte da jetzt an die, die es nicht sind? Gestern wurden viele Jungen und Mädchen mit einem Schulgottesdienst in die Schulzeit geschickt, reich beschenkt und gesegnet mit mancherlei guten Wünschen. Wo waren die anderen, die kranken und behinderten Altersgenossen, für die ja auch ein anderer Zeit- und Lebensabschnitt beginnen könnte, wenn...? Wäre die Gesundheit in dem eben beschriebenen Sinne mein Leben? Wie sähe dieses Leben aus, wenn es mir an Gesundheit für Leib und Seele gebräche? Wie gehen diese Menschen mit dem Anbruch und Umbruch der Zeiten und Gewohnheiten um? Was haben sie von uns, die wir gesund und fit sind, zu erwarten? Was kann der Glaube an Jesus Christus ihnen geben bzw. bedeuten?
Markus, der Evangelist, berichtet uns dazu eine wunderbare Geschichte.

-Predigttext verlesen-

Schön wäre das, wenn sich dieses so rasch und so erfolgreich heute von neuem ereignen könnte: daß Menschen von ihren Gebrechen oder Krankheiten durch Jesus geheilt würden. Daß Jesus Christus, Grund unseres Glaubens für sie zum Anlaß neuen Vertrauens an ihn und seinen Vater würde! Doch leider sind unsere menschlichen Erfahrungen und die Enttäuschungen derer, die es sich wünschen, oftmals andere. Und doch wird uns diese Heilung berichtet und doch soll sie für unseren Glauben zum Trost gepredigt und weitererzählt werden.
Der Mensch, der auf Jesus aufmerksam geworden ist, leidet unter einer schweren, vielleicht einer der schwersten Erkrankungen, an Aussatz, früher gern Lepra genannt. Wer darunter litt, lebte in einer Leidensgeschichte ohnegleichen, in einer inneren und äußeren Bedrängnis und Einsamkeit, die sich ein gesunder Zeitgenosse kaum ausmalen kann. Sie bedeutete und bedeutet bis heute für den, der betroffen ist, daß ihn Menschen meiden: die nahen Angehörigen, die Freunde und solche, die zufällig auf ihn treffen. Mit kaum jemanden wird er länger sprechen, kaum jemand reicht ihm die Hand, die meisten verlassen fluchtartig seine Gegenwart. Mit wem sollte er seine Empfindungen und Gefühle teilen? Mit wem könnte er sich über das, was ihn bewegt, was er sich wünscht oder beunruhigt, aussprechen? Wer mag ihm zuhören, wer mag ihm jene Achtung und Würdigung geben, die wir im alltäglichen Umgang einander regelmäßig schulden und praktizieren? Für den Aussätzigen ist jede Berührung ein Zeichen des Lebens, auch wenn sie schmerzhaft ist. Für ihn ist jeder Wortwechsel, jede Aufmerksamkeit, die über den flüchtigen Blick oder den hastigen Satz hinausgeht, ein Tag der Sonne, ein Augenblick des Glücks. Und es wäre für ihn schon ein Trost, wenn das Bekenntnis zur Güte und Barmherzigkeit über die milde Gabe hinausweisen könnte auf eine Gemeinschaft, die trägt und duldet, die Achtung sät und Hoffnung mehrt, die ihm wie den anderen, die gesund sind und sich doch ängstigen, eine Gemeinschaft eröffnet, zu der er gehören kann und darf, trotz aller Unterschiede; mit anderen Worten: weil sie im Menschen den Menschen sieht, ihn gelten läßt und sich auch von ihm her im Glauben stärken und unterweisen lassen möchte. Jesus schlägt die Brücke zu ihm, der ihn anspricht, der ihn bittet, der ihm zuruft: Bitte, laß mich wieder gesund werden! Bitte, heile mich!
Wir erfahren, daß Jesus sich seiner annahm, sich seiner erbarmte und heilen wollte. Es mag ihn berührt haben, daß dieser leidgeprüfte Mensch die Hoffnung nicht aufgab, es auch bei Jesus oder gerade bei diesem Jesus von Nazareth versucht, ob er ihm nicht Linderung oder Heilung gewährte, die er so sehnlich erwartete. Jesus heilt, hat keine Berührungsängste, sucht die Gemeinschaft mit den Gebrechlichen und Sorgenden, legt seine heilenden Hände auf ihn und segnet ihn während der Heilung. In dieser persönlichen Zuwendung, in dieser verbindlichen, verbindenden, freundlichen Geste öffnet sich eine Gemeinschaft, die Gottes Heil erfahren läßt, auch heute und jetzt. Denn sie läßt den Betroffenen teilhaben am Ja Gottes zu uns, an seiner Liebe zu denen, die ihn suchen, anrufen und zu ihm beten. Jesus fragt nicht nach den Umständen, den Gründen, der Veranlassung seiner Krankheit, sondern redet ihn persönlich an, nimmt sein Begehren auf und heilt. Für mich zeigt sich in und an dieser Gemeinschaft, daß Gottes Reich mitten unter uns ist und wir alle, leidgeprüfte wie gesunde Menschen, daran teilhaben werden, vorausgesetzt, wir wagen es, wir vertrauen darauf, daß sich in diesem Jesus Christus eine neue Welt öffnet, eine Gemeinschaft spürbar und erfahrbar wird, die mich einläßt, aufnimmt und achtet. Die auf keinem anderen Grund der Hoffnung steht, wie dem, der sich in einem Lied von Paul Gerhardt so mitteilt:

" Lobet den Herren, alle die ihn ehren ...
daß unsre Sinnen wir noch brauchen können
und Händ und Füße,
Zung und Lippen regen,
Das haben wir zu danken seinem Segen.
Lobet den Herren!"

Nun, Jesus bedeutet dem Kranken, daß er über die erfahrene Gottesnähe und seine Heilung schweigen solle, doch wes des Herz voll ist, des geht der Mund über, und der vom Aussatz Geheilte begann von dem Wunder seines Lebens zu erzählen, Gott zu loben und zu preisen und die frohe Botschaft von Jesus unter die Leute zu tragen - wie wir wissen, nicht ohne Erfolg und von bleibender Wirkung. Manche werden Jesus begegnet sein, andere haben dieses Glück der persönlichen Gottesnähe vielleicht nicht so unmittelbar erlebt und doch den Glauben an Jesus Christus nicht verloren, sondern im Gegenteil ihren Glauben und ihr Vertrauen gestärkt, eine Gemeinschaft gefunden, die sich ihnen verbunden und offen genug zeigen wollte, so daß sie bei aller Gebrechlichkeit und Einschränkung dazugehören durften, so als wären sie heil und gesund. Daran lag ihnen und darin fanden sie ihr Glück und die Bestätigung dafür, daß bei diesem Gott kein Ansehen der Person gilt, sie alle gerufen und eingeladen sind. Und ich habe den Eindruck gewonnen, liebe Gemeinde, daß sich mit der guten und heilsamen Erfahrung, in den Kreis der Gesegneten eintreten dürfen, im Kraftfeld der Liebe Gottes zu den Menschen leben zu können, auch eine Veränderung der Sinne vollzog, gleichsam eine Umkehr von den Denkstrukturen, die lediglich klären wollen, woher die Krankheit kam, an der ich leide; damit ich dieses und jenes tun und machen kann und von anderem lasse. Sie gibt mir auf ganz andere Weise eine neue und tüchtige Kraft zum Leben und zur Freude, läßt mich den Schöpfer loben und preisen, auch dann noch, wenn ich die Frage nach dem Warum und Wozu und Woher nicht endgültig beantwortet habe. Sie gibt mir eine Gemeinschaft mit denen, die mit mir tragen und mit denen ich Leid und Sorge teilen und ertragen kann, ohne damit die Freude am Leben und das Glück zu verlieren. Die Geschichte, die Markus berichtet, lädt mich ein, in Gottes andere Welt. Sie befreit mich von dem, was einengend und vereinsamend wirkt; sie öffnet Türen und Tore für eine Gemeinschaft, von der wir Menschen träumen. Um Gottes Willen braucht es kein Traum zu bleiben; wer glaubt, hat schon jetzt Anteil an dem, was Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu den Menschen ausrichten können. Deshalb ist es eine wunderbare Geschichte zum Glauben und läßt mich nicht los; im Gegenteil, sie ermutigt mich, ebenso offen und einladend zu sein.
Amen.

Pfarrer Christian Tegtmeier, Steinweg 10, 37445 Walkenried

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