Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Gottesdienst am Nachmittag des 24.12.1997
Text: Johannes Titus 2, 11-14
Verfasser: Walther Lührs, Göttingen


Predigt am Heiligabend im Gottesdienst um 17.00 Uhr

Predigttext: Titus 2, 11 -14

Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt uns in Zucht, daß wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.

Predigt

I.
In einem Buch über das Weihnachtsfest las ich den Satz: "Wir sind alle anfällig für Weihnachten." Das stimmt! Dieses Fest zieht uns in eigentümlicher Weise an. Wir lassen uns in seinen Bann ziehen. Was erwarten wir von diesem Fest? Es gibt eine Fülle verschiedenster Erwartungen: Die einen freuen sich auf ein paar festliche Stunden, die uns aus dem Alltag herausheben. Andere sehnen sich einfach nach ein bißchen Ruhe von der Hetze der Zeit. Nicht wenige gehen in die Gottesdienste - vielleicht in dem unbestimmten Gefühl, ohne das wird es nicht Weihnachten, und vielleicht auch mit einer seltenen Bereitschaft zu hören. Und es gibt viele Menschen, die erwarten wenig oder nichts von diesem Fest.

Was kann uns dieses Fest bieten? Weihnachten - so will ich es einmal formulieren - ist das Angebot Gottes an unser Leben: Gott will sich mit uns verbinden. Mit uns, die wir oft so fern von ihm sind, die wir oft nicht wissen, warum und wozu wir leben; die wir uns hin- und hergerissen fühlen zwischen Glück und Unglück oder herausgefordert von dem täglichen Streß, mit uns, die wir älter werden und nicht wissen, wohin der Weg geht. Mit uns will sich Gott verbinden.

Aber wie sollen wir das verstehen? Ist Gott für uns nicht die große Unbekannte des Lebens? Wir leiden darunter, daß wir ihn so wenig kennen. In einer jüdischen Anekdote heißt es: Ein Schüler kommt zu einem Rabbi und fragt: "Früher gab es Menschen, die Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Warum gibt es die heute nicht mehr?" Darauf antwortet der Rabbi: "Weil sich heute niemand mehr so tief bücken will." Ich kenne wenige Worte, die so treffend andeuten, was Weihnachten ist. Du mußt dich ganz tief bücken, um ihn zu entdecken.

Wie oft suchen wir Gott in der falschen Richtung, schauen nach oben oder suchen ihn in großen Ereignissen und wundern uns, wenn wir Gott da nicht finden. Die Hirten von Bethlehem wurden nicht auf einen heiligen Berg geschickt, um Gott zu suchen, sondern in einen einfachen Stall ihrer Heimatstadt. Und was sie fanden, war nichts weiter als ein Kind, wie es tausendfach geboren wird. Und da war Gott!

So sollen auch wir ihn nicht "oben", auch nicht in spektakulären Ereignissen suchen. Da hat schon mancher vergeblich auf Gott gewartet. Gott kommt ganz anders: in den kleinen Dingen des Alltags, vielleicht auch in einem Kind, das mir begegnet, das mich freundlich anlächelt oder auch weint. Vielleicht in einem unscheinbaren alten Menschen, den ich auf der Straße sehe oder der neben uns wohnt und den man so leicht übersehen kann.

Das ist das Überraschende, das Revolutionäre der Weihnachtsgeschichte, daß Gott so menschlich, so niedrig begegnet. Als das Kind geboren wurde in Bethlehem, da haben Kaiser Augustus und die Mächtigen der Welt nichts gemerkt; wie sollten sie auch? Die Weltgeschichte kann sich doch um die Geburt eines einzelnen Kindes nicht kümmern. Die läuft nach anderen Kategorien und Maßstäben. Da geht es um das Schicksal von Völkern, um Macht und Politik, um Krieg und Frieden, um Wirtschaft und Ölvorkommen, um Wachstum und Umweltschäden. Was zählt da der Einzelne? Was zählen da zwei unbekannte Menschen, die ein Kind bekommen?

Doch gerade hier liegt das Faszinierende der Weihnachtsgeschichte, daß sie die großen Maßstäbe beiseite läßt und etwas erzählt, das täglich unter uns geschieht. Da kommen wir vor. - So will uns Gott begegnen. Und vielleicht ist er uns viel öfter begegnet, wir haben's nur nicht gemerkt, wir haben's übersehen. Wir haben Gott im falschen Maßstab gesucht, nach oben geblickt, in die Ferne geschaut, und dabei ist er längst bei uns!

II.
Und was will nun Gott? Er will das, wonach wir uns sehnen: Er will unser Leben sinnvoll machen. Unser Bibelwort sagt: "Erschienen ist die heilsame Gnade Gottes allen Menschen." "Gnade" - ein angestaubter Begriff? Wir reden von "Gnade vor Recht", von Gnadengesuch und Begnadigung. Dies Wort steht in irgendeiner Beziehung zu Unrecht, zu Schuld und Strafe. Oder ganz anders: Da redet man von "gnädiger Frau" und früher vom "gnädigen Fräulein" - eine seltsam unpersönliche Anrede; das Wort "gnädig" ist zu schade dafür!

Das biblische Wort Gnade meint etwas ganz anderes. Darin steckt Leben, Bewegung, Bejahung. Das griechische Wort im Urtext heißt "charis", kommt von freuen, von Freude. Ich denke an eine festliche Feier. Wenn jemand Geburtstag hat oder ein Jubiläum feiert, dann will er nicht allein sein mit seiner Freude, er lädt die anderen ein, spendet ein Festessen oder lädt sie zum Umtrunk ein. Festlich, aufgeschlossen, fröhlich - das ist die Atmosphäre der Gnade. Gott lädt uns zum Fest ein, zur Freude am Leben, das er uns gab, zur Freude am andern, den er uns gibt, zur Freude an der Geburt des Kindes. Wer möchte nicht hineingezogen werden in diese Atmosphäre der Gnade, die Gott uns umsonst, aus freien Stücken anbietet!

Oder wollen wir darauf verzichten; nicht aus der Gnade Gottes leben? Es gibt Menschen, die das kategorisch ablehnen; sie wollen aus sich selbst leben; wollen empfangen, was sie verdienen, wollen beurteilt werden nach dem, was sie leisten, wollen nichts umsonst - "Ich möchte nichts geschenkt haben!", wollen nur Recht und Ordnung, Verdienst und Leistung. Ja, dann ist das Leben ein Rechenexempel, das übrigens in den seltensten Fällen aufgeht.

Und außerdem: Wer nicht aus Gnade leben will, der ist auch mit anderen ungnädig und mißt sie nach seinem Maßstab und nach ihrer Leistung und gibt ihnen, was sie "verdienen". Wieviel Unmenschlichkeit und Unheil entspringen dieser Haltung (die sich früher häufig genug auch im Strafvollzug verwirklichte).

III.
Gott aber will das Leben aller heilen: "Erschienen ist die heilsame Gnade Gottes allen Menschen." So ist Weihnachten für die heil-lose Welt gedacht, für ein Leben, das nicht heil ist.

Wer jetzt meint: 'Das betrifft mich nicht', der mag dies ruhig denken. Dann ist halt Weihnachten für ihn im Augenblick oder wenigstens in diesem Sinn nicht akut. Denn Weihnachten ist nicht Glanz über einer heilen Welt. Ach, wie oft ist dies Fest so mißverstanden und so gefeiert worden. Und daher kommt ja der Verdruß vieler ernster Menschen an dieser Feierei. Und daher kommt der fatale Irrtum, Weihnachten sei nur für glückliche Menschen feierbar. Nein, umgekehrt: für die Traurigen zuerst, für die Machtlosen, für die Einfachen (die Hirten), für die Suchenden (die Weisen), für alle, die sich danach sehnen, daß ihr Leben sinnvoll und heil wird.

Wie soll das geschehen? Unser Bibelwort sagt: "Die Gnade Gottes erzieht uns". Luther übersetzt schärfer: "Sie nimmt uns in Zucht". Das klingt seltsam am Heiligabend. Sind wir auf Erziehung oder sogar Zucht eingestimmt? Das klingt so nach falschem Preußentum und Disziplin. Möchten wir uns nicht von solchen Dingen wenigstens in diesen Stunden dispensieren? War nicht zuerst von Fest und Festlichkeit, von der Atmosphäre der Freiheit und der Freude die Rede? Nun, ein gutes Fest zieht seine Kreise. Und ihm folgt kein blauer Montag oder Aschermittwoch. (Eine gute Geburtstagsfeier macht auch am nächsten Tag noch Spaß und bestimmt, ja verändert sogar unser Leben.)

Unser Weihnachtsfest ist in drei Tagen vorbei. Aber wenn es etwas wert war, dann arbeitet es in uns weiter. Und genau darum geht es: Gottes Gnade will an uns, in uns arbeiten. - Im griechischen Urtext steht das Wort "paideuein". Das hat also etwas mit Pädagogik, mit Erziehung zu tun. Ja, das will Weihnachten bei uns: einen Lernprozeß in Gang setzen; etwas in unserem Leben zum Heil verändern. Oder - wie es im Text heißt - daß wir mit bestimmten Dingen, die uns und andere belasten, aufhören, daß wir uns nicht auf falschen Wegen verirren, sondern ein Ziel haben. Es könnte soviel Gutes daraus werden!

Vielleicht sind wir solchen Lernprozessen gegenüber heute bereiter, als man das in früheren Zeiten für möglich hielt. Früher hatte man mit 18 Jahren in der Regel ausgelernt. Da war man fertig. Man konnte etwas, man war für Beruf und Leben ausgebildet. Und blieb dann ja auch meistens in diesem Beruf ein Leben lang. - Heutzutage müssen wir alle viel öfter umlernen, dazu lernen, umschulen, neue Wege gehen. D.h., wir sind flexibler geworden. Und ich kann mir denken, daß dies auch auf unser Christsein seine Auswirkung hat: daß wir die Pädagogik Gottes an uns arbeiten lassen und bereit sind, um zu neuen Ufern aufzubrechen, neue Wege zu beschreiten und dem Ziel entgegenzugehen, das Gott für uns bereithält.

Superintendent i.R. Walther Lührs, Unter den Linden 28, 37085 Göttingen,
Tel.0551 - 79 34 07