Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Christmette in der St. Jacobi-Kirche zu Göttingen
24. Dezember 1997
Röm. 1, 1-7
Landessuperintendent Dr. Hinrich Buß


Liebe Gemeinde in der Heiligen Nacht,

schöne Karten gibt es, die zu Weihnachten ins Haus flattern. Kirchtürme unserer Stadt sind auf einer abgebildet; Jacobi, Johannis, Michael ragen in den nachtdunklen Himmel. Darüber Sterne in großer Zahl. Einer mit einem Schweif, der geradezu explodiert vor Helligkeit und Strahlkraft, einem Feuerwerk gleich.

Bethlehem und Göttingen sind beide vom himmlischen Licht erleuchtet. Darunter Menschen, die musizieren. Töne steigen auf aus Mündern und Instrumenten, kommen aus gesammelter Ruhe. Explosion Gottes und Konzentration der Menschen. Gott geht aus sich heraus, Menschen in sich hinein. Ein Bild, das in Bewegung setzt.

Welcher Text paßt dazu, welcher kann einfangen, was das Bild ausdrückt? "Ein frohes Fest", ein "friedvolles", ein "glückliches"? Unsere Worte bleiben merkwürdig blaß, wenn wir anderen Weihnachtswünsche zusprechen.

Genau anders herum verhält es sich mit dem Predigttext für die Christnacht. Er bordet über. Ich möchte ihn vergleichen mit einer Weihnachtskarte, die von einem Rand zum anderen voll geschrieben ist, dazu in kleiner Schrift. Wenn wir in unserer Familie eine solche Karte erhalten, legen wir sie erst einmal beiseite, nicht ohne aufzustöhnen. Ist sie das Richtige für die Heilige Nacht, für jetzt also, wo Geschenke ausgepackt sind, der Leib gesättigt, der Geist noch wach und die Seele in Erwartung gespannt?

Jedenfalls lese ich Ihnen den dicht geschriebenen Text vor, den Anfang des Römerbriefes, von Paulus im Jahr 56 nach Christi Geburt geschrieben:

1. Paulus, ein Knecht Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes,
2. das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift,
3. von seinem Sohn Jesus Christus, unserm Herrn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch,
4. und nach dem Geist, der heiligt, eingesetzt ist als Gottes Sohn in Kraft durch die Auferstehung von den Toten.
5. Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens auszurichten unter allen Heiden,
6. zu denen auch ihr gehört, die ihr berufen seid von Jesus Christus.
7. An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Da haben wir die Bescherung. Ein Wort jagt das andere, ein Begriff türmt sich auf den nächsten, ein ganzes Gedankengebäude ist errichtet. Doch keine Bange, starke Worte müssen uns nicht schrecken. Es sind Schätze zu heben.

Ich nehme als erstes den Gruß auf, der uns zu Weihnachten erreicht: "Gnade sei mit euch". Von ihm kommt der Wunsch, von ihm der Segen. "Gnade" wird uns gewünscht. Ein ungewohntes Wort in einer Zeit, die hart geworden ist und die lieber von Gnadenlosigkeit spricht. Was ist gemeint?

Erlauben sie einige "ist, wenn" - Definitionen, die jeder Lehrer verbietet, die aber das Leben hervorbringt:

Gnade ist, wenn ich morgens aufwache und mich auf den Tag freue, obwohl ich keinen Grund dazu habe.
Gnade ist, wenn mir nichts mehr einfällt und über Nacht die rettende Idee kommt.
Gnade ist, wenn mir jemand auf die Schulter tippt und sagt: Schön, daß du da bist.
Gnade ist, wenn ein Freund, dem ich etwas angetan habe, mir sagt: Du, es ist wieder gut, und mir zugetan ist.
Gnade ist, wenn am Heiligabend eine gerade überreichte Kristallschale in tausend Scherben fällt, und die ganze Familie nach einer Schrecksekunde lauthals lacht. Laß fahren dahin ...

Ihnen fallen gewiß weitere "ist, wenn" - Sätze ein. Gnade kommt auf leisen Sohlen daher, mitunter auch scheppernd. Sie stellt sich überraschend ein und ist öfter da, als man wahrhaben möchte. Sie reißt aus Kummer, aus Sorgen, aus Trübsal, aus Schuld. Gott läßt grüßen. Nicht "Vier Fäuste für ein Halleluja", sondern der Gnade folgend "vier Halleluja für eine Faust". "Freu dich Erd und Sternenzelt, Halleluja, Gottes Sohn kam in die Welt, Halleluja."

Hanns-Dieter Hüsch, Kabarettist mit dem schnellen Mundwerk, hat beschrieben, was Gnade bewirkt:

"Ich bin vergnügt,
erlöst,
befreit
Gott nahm in seine Hände meine Zeit
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen
Mein Triumphieren und Verzagen
Das Elend und die Zärtlichkeit

Was macht, daß ich so fröhlich bin
An vielen dunklen Tagen
Es kommt ein Geist in meinen Sinn
Will mich durchs Leben tragen

Was macht, daß ich so unbeschwert
Und mich kein Trübsinn hält
Weil mich mein Gott das Lachen lehrt
Wohl über alle Welt. "

Das ist heiter gesagt, wohltuend, beschwingt. Ist es zu leicht dahergeredet? Heute abend hat es in etlichen Familien gekracht; wer weiß, womöglich hat sich die eine oder der andere in die Kirche davongestohlen. Wenn hoch gespannte Erwartungen und menschliche Schrullen aufeinanderstoßen, kommt es zu weihnachtstypischen Entladungen. - In Gefängnissen, so habe ich gehört, darf man an diesem Abend das Lied "Stille Nacht" nicht erwähnen, geschweige denn spielen oder gar singen. Sonst droht Zoff. Wie soll man Gnade aushalten, wenn Gnadenlosigkeit das Leben prägt? Wie feiern, wenn man von der Weihnachtsgesellschaft ausgeschlossen ist, notorisch nicht dazugehört?

Es ist deutlich: Wenn der Gesang der Engel unter dem Himmel hängen bleibt, erreicht er die Niederungen nicht. Die Gnade muß geerdet werden.

Damit komme ich zur zweiten Aussage des Paulus, die ich hervorheben möchte, wiederum ein Schatz, den es zu heben gilt. Er steht gleich im 3. und 4. Vers, also vor dem Gruß von der Gnade. Er gibt ihm gewissermaßen die Grundlage.

Darum schreitet Paulus auch gleich zur Tat. Kaum hat er seinen Namen erwähnt, schreibt er um den Absender herum die Hauptbotschaft, deckt den Namen fast mit seiner message zu. Es geht um das Evangelium von Jesus Christus: "der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch und nach dem Geist eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft der Auferstehung von den Toten. " Es geht also um einen Menschen aus Fleisch und Blut und zugleich um einen vom Geist Gottes Begabten; es geht um Davidssohn und Gottessohn; es geht um eine historische Gestalt aus dem jüdischen Volk und um den Christus, der auf die Seite Gottes gehört. Erde und Himmel zusammengebunden in einer Person.

Diese doppelte, in ihrer Spannung kaum zu fassende Aussage ist Geheimnis und Zentrum des Weihnachtsfestes. Gott in Jesus ein Mensch. Ich kann es auch so sagen: Aus der Krippe hört man das Wimmern eines Neugeborenen und vernimmt darin den Jammer aller Kinder dieser Welt. Darüber erklingt der Jubel der himmlischen Heerscharen, und sie intonieren den Gesang, der durch die Jahrtausende geht.

Will sagen: Gott ist nicht nur vorübergehend auf der Erde erschienen, zur Stippvisite, wie ein Minister, der eine Baustelle besucht, durch den Dreck schreiten muß, sich dazu Stiefel anzieht und bald wieder abstreift. Gott ist dauerhaft in Fleisch und Blut übergegangen, sie sind ihm zur zweiten Natur geworden, und so stiefelt er durch die Niederungen der Erde, ist nicht mehr zu trennen von diesem Jesus von Nazareth. Er ist auf Dauer Mensch, ausgeliefert der Zerrissenheit solcher Existenz, er hält die Spannung aus, die Kräche, die Tragödien, trägt die Schuld, und ist gerade darin Gott. Jesus, Davidssohn und Gottessohn.

In dieser Nacht, in der wir Christmette feiern, rufen bei der Telefonseelsorge Menschen an. In Göttingen und anderen Orten. Sie haben nur dies Telefon, bringen ihr Anliegen vor, stockend, mitunter schweigend. Auch sie fühlen sich ausgeschlossen von der gnadenbringenden Weihnachtszeit. Am anderen Ende der Leitung sitzt eine Frau, ein Mann, horcht in die Muschel hinein, hört zu, fragt, schweigt mit, tröstet. Dies sieht aus wie ein Herausfallen aus der Gnade und ist doch gerade ihr tastendes Aufspüren. "Geht auch mir zur Seite, still und unerkannt. .. ". Hier ist die Gnade geerdet, ist ganz unten angekommen und behält doch die Verbindung nach oben. Es gibt niemanden, der menschlicher wäre als Gott in Gestalt dieses Jesus. Er ist menschlicher, als ich je sein kann; er kommt mir näher als ich mir selbst.

Mit Luther gesprochen:
"Wir fassen keinen Gott als den,
der in jenem Menschen ist,
der vom Himmel kam.
Ich fange bei der Krippe an."

Eingesetzt ist dies Krippenkind als Gottessohn. "Horizo" steht da als griechisches Wort, wo wir deutsch "einsetzen" lesen. Man ahnt sofort, worauf es hinauswill. Der Horizont wird neu abgesteckt. Was bisher über unseren Horizont ging, was wir nicht begreifen wollten oder konnten, wird in grandioser Manier nach unten und oben erweitert. Weit ist nun der Gesichtskreis, unauslotbar die Menschlichkeit, unermeßlich die Gnade.

Ein letzter Gedanke, ein kurzer. Wir schreiben unsere Weihnachtskarten in aller Regel an Verwandte und Freunde. Paulus richtet seine Epistel an Menschen in Rom, die er noch nie gesehen hat. Er nennt sie gleichwohl "Geliebte Gottes und berufene Heilige", wie in Vers 6 nachzulesen. Wie können Fremde Freunde sein?

Für Paulus wird einfach, was sonst schwierig ist. Er setzt in die Tat um, was er glaubt. Wenn der Horizont weit gesteckt ist, werden, mit Gottes Augen betrachtet, aus Fremden Freunde und aus normalen Menschen Heilige. Sie wachsen zusammen zur weltweiten Gemeinde. Jeder ist gesehen, jede angesehen, gegrüßt, geliebt.

Amen

Dr. Hinrich Buß Landessuperintendent für den Sprengel Göttingen Von-Bar-Str. 6, 37075 Göttingen, Tel.: 0551-5 63 61