Navigation auf uzh.ch

Suche

Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät Zentrum für Kirchenentwicklung

Das Gottesbild wird nicht auf morgen virtuell

Ein Interview mit Thomas Schlag von Gerlind Martin, in:

Ensemble. Das Magazin der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn

Für die Kirche muss die Digitalisierung mehr bedeuten, als Informationen via Internet zu verbreiten. Viel mehr – und anderes!
Thomas Schlag, Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich und Leiter einer Forschungsgemeinschaft zur Digitalisierung, plädiert dafür, Kirchenleute umfassend in digitaler und theologischer Kompetenz zu schulen.

 

Ensemble:  Was  soll  ich  mir  konkret  vorstellen,  wenn von «Digitalisierung und Kirche» die Redeist?
Thomas Schlag: In der Anfangsphase, als Religion online ging, wurde die Digitalisierung verstanden als eine neue Form, zu informieren und viel mehr Menschen zu erreichen als bis anhin. Seit Ende der 90erJahre passiert im Netz etwas Neues: Religion bekommt selbst eine neue mediale Gestalt. Aus «Consumern» werden Internetuser zunehmend zu «Prosumern», zu Schöpferinnen und Schöpfern von Religion. Menschen nutzen das Internet und die Vielfalt von Netzwerken für ihre eigenen Glaubensvorstellungen. Etwa das Computerspiel «Second Life», Trauerforen, Gottesdienste, Seelsorge im Internet. Menschen diskutieren offen in neuen Netzwerken, oft nicht mehr im klassischen kirchlichen Rahmen.


Wird  die  von  der  Kirche  mit  ihren  Angeboten vermittelte  und  gestiftete  Gemeinschaft  damit  überflüssig?
Das Bedürfnis nach Annahme, Segen, Resonanz ist nach wie vor gross. Das Beispiel des Segensroboters der Hessischen Landeskirche von 2017 zeigt:  Manche  Menschen  brauchen  dafür  kein reales Gegenüber mehr. Man sagt dem Segensroboter, was man braucht, und er spuckt ein individuelles Segenswort aus, gesteuert von einem Zufallsgenerator. Von 2000 Befragten sagte die Hälfte, der Segensroboter habe sie nicht kaltgelassen, das persönliche Segenswort sei eindrücklich, bewegend.

Wen ersetzen solche Roboter: Pfarrpersonen? Gott?
Das  Netz  wird  für  Fragen  von  Religion  und  Glauben  genutzt.  Religion  verschwindet  nicht. Doch Studien beispielsweise bezüglich Robotern in japanischen Pflegeheimen zeigen, dass Menschen zu humanoiden Robotern eine Beziehung entwickeln. Die Interaktionen Maschine – Mensch werden besser, Roboter mit immer menschlicheren 

Gesichtern lernen dazu und übernehmen zunehmend das, was bis jetzt in der Begegnung zwischen Menschen geschah: Pflege, Beratung, Trost.
 
Joel Luc Cachelin, Autor des Buches «Internetgott», stellt Fragen wie: Was passiert, wenn immer mehr Roboter und künstliche Intelligenzen Teil der Gesellschaft werden, brauchen auch sie einen Gott – und ist es der gleiche wie unserer?
Die Frage ist, was mit den überlieferten Vorstellungen von Gott passieren wird. Die Bibel erzählt  Geschichten,  persönliche  Begegnungen, Erfahrungen und Ereignisse, die ein enges Verhältnis zwischen Gott und Menschen spiegeln. Und nun entsteht dieses virtuelle Gegenüber, das von einem ganz viel weiss, einen tröstet, berät. Offenbar brauchen immer mehr Menschen das gewohnte Gottesbild nicht mehr; es wird nicht eins­zu-eins von heute auf morgen virtuell, aber vielleicht auf Dauer immer bedeutsamer.
 
Was macht die Digitalisierung mit uns und unserem religiösen Verständnis?
Früher gaben Gebete und Gottvertrauen Orientierung und Schutz. Heute holen wir sie uns via Apps, zu Gesundheit, Wetter, Literatur, Partnervermittlung. Die Apple­Watch warnt vor einem drohenden Herzinfarkt. Menschen suchen immer mehr nach Gewissheit – die Computerindustrie und ihre Algorithmen liefern zunehmend gottähnliche, allwissende Informationen, bieten Lebensorientierung. Darauf sind wir ja angewiesen –  und  die  Digitalisierung  bietet  unglaubliche Möglichkeiten. Die Unternehmen haben den Anspruch, Perfektion zu schaffen, Sicherheit, Unendlichkeit, Allgegenwart. In den USA hat eine Programmiererin aus der E­Mail­Korrespondenz mit einem  Freund  nach  dessen  Unfalltod  ein  Programm  entwickelt,  das  ihr  den  weiteren  Austausch  mit  ihm  ermöglicht.  Und  weil  ihr  Programm  im  Laufe  der  aktuellen  Korrespondenz  dazulernt, kann der «Verstorbene» auf Geschehnisse eingehen, von denen er zu Lebzeiten noch gar nichts wusste. Dieses Programm ist ein grosser Erfolg in den USA.

Sind solche Geschichten wirklich die richtigen Beispiele, um – allenfalls skeptische – Kirchenleute für die Digitalisierung zu gewinnen?
Für mich sind das Aufweck­Geschichten: Die digitale Welt zeigt viel übers Menschsein, führt Grundbedürfnisse und Fragen vor Augen, welche die Menschen umtreiben. Sehnsüchte, Sinnfragen, Bedürfnis nach Beziehung, Austausch, Anerkennung. Es wäre kurzsichtig, dies als banal abzutun. Damit nimmt die Kirche die Leute nicht ernst. Sie sollte vielmehr genau wahrnehmen, was im Netz läuft.

Ohne Vorkenntnisse und Netzerfahrung wird das nicht  gehen...
Ja, da muss man vieles lernen. Zu unserem Forschungsprogramm gehören auch Fortbildungen für hauptund nebenamtlich in der Kirche Tätige. Dabei geht es um die Technik, um juristische Fragen, um Themen wie Privatheit, Zeitaufwand und Grenzen digitaler Kommunikation, um das eigene Selbstverständnis ebenso wie um die Frage, wie wir uns Kirche in der digitalen Welt vorstellen, wie wir kommunizieren. Wenn wir wie auf Twitter nur wenige Zeichen zur Verfügung haben, müssen wir inhaltlich Farbe bekennen. Es ist Chance und Herausforderung zugleich, die eigene Theologie prägnant und profiliert zu formulieren.

Wie wollen Sie Kirchenleute fit machen fürs profilierte Kommunizieren im und mit dem Netz?
Mit Forschung und Angeboten für den kompetenten theologischen und digitalen Mediengebrauch. Der elementare Schritt für Kirchenleute ist, Antworten zu finden auf die Frage: Wie können wir das wahrnehmen, was im Netz passiert? In einem zweiten Schritt ist zu eruieren, was Menschen erzählen, wie sie zu ihren Haltungen kommen, wie zum Beispiel Jugendliche in ihrer eigenen Sprache christologische Fragen bedenken. Vieles im Netz findet mit eigener theologischer Erklärungskraft statt. Im dritten Schritt sollte es für Kirchenleute darum gehen, wie und wann es sich lohnt, sich in Netzforen zu engagieren und selbst Plattformen zu gründen. In Berlin betreibt eine junge Pfarrerin als religiöse Influencerin einen eigenen Kanal und berichtet über ihren pfarramtlichen Alltag. Die Kirche soll im Netz authentisch  erkennbar  und  in  den  zeitgemässen Kommunikationsformen präsent sein. Es geht aber auch darum, wie digitale Medien wieder zu realen, persönlichen Begegnungen führen können. 
­

 

 

Quelle: Ensemble. Das Magazin der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn (39/2019), 10-13

Link