Erinnerung zum 100. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts: Ehrendoktor der Theologischen Fakultät 1983
1983 erhielt Friedrich Dürrenmatt die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät
Aus Anlass des 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt am 5. Januar 2021 wird an dieser Stelle die Rede des damaligen Dekans der Theologischen Fakultät und nachmaligen Rektors der Universität Zürich, Prof. Dr. Hans Weder, zu Friedrich Dürrenmatts Ehrenpromotion wiedergegeben, die im Rahmen der Fakultät erst am 5. Februar 1987 begangen werden konnte:
"Geehrter Herr Doktor Dürrenmatt,
liebe Gäste und Kollegen,
im Namen der Theologischen Fakultät gebe ich meiner Freude Ausdruck darüber, dass Sie zu uns nach Zürich gekommen sind, nicht nur zu diesem Nachtessen, sondern - in Wahrnehmung Ihres Lehramtes - auch zum theologischen Gespräch am Nachmittag. Ich hoffe, es gefalle Ihnen nicht allzu schlecht bei uns.
Apropos Ehrendoktor. In unserer Fakultät pflegen wir die Ehrendoktoren im Auge zu behalten, auch nach ihrer Promotion. Dabei kommt uns dieses oder jenes zu Gehör. Erlauben Sie mir bitte, Herr Dürrenmatt, dass ich die Gelegenheit ergreife, auf einen Ihrer nach der Promotion gesprochenen Sätze zurückzukommen. Der Satz lautet: «Gott allein weiss, aufgrund welchen Missverständnisses mir die Theologische Fakultät Zürich den Ehrendoktor verliehen hat.» Ein bemerkenswerter, auch theologisch bemerkenswerter Satz. Zwar habe ich ihn nicht selbst gehört, er ist in einer namhaften Zeitung überliefert. Ich musste mir also zuerst die Echtheitsfrage stellen. In meinem Fach, der neutestamentlichen Wissenschaft, wenden wir unter anderem das Kriterium der Konsistenz an, wonach ein Jesuswort dann als echt zu betrachten ist, wenn es mit der übrigen Verkündigung Jesu übereinstimmt. Im vorliegenden Fall des Dürrenmatt-Logions ist das Kriterium der Konsistenz erfüllt: Der Satz ist mit der übrigen Verkündigung Dürrenmatts konsistent. Deshalb ist der Satz im folgenden als echtes Dürrenmatt-Logion zu betrachten. «Gott allein weiss, aufgrund welchen Missverständnisses mir die Theologische Fakultät Zürich den Ehrendoktor verliehen hat.» Der Satz signalisiert, dass der Promovierte an der Begründung der Promotion zweifelt. Als Dekan fühle ich mich verpflichtet, eine erneute Begründung nachzuliefern. Ich stütze mich nicht auf Dürrenmatts Gesamtwerk, sondern bloss auf den einen, zitierten Satz. Der Satz enthält drei Teilaussagen, die auf ihre theologische Richtigkeit hin zu prüfen sind.
Zum ersten: Gott wird ein Wissen zugeschrieben, das allein er hat, ein Wissen, das ihn von allen Menschen unterscheidet. Man vergleiche dazu in der summa theologica des Doktor Thomas von Aquin, im ersten Buch, in der quaestio 14 (de scientia Dei), im articulus I das respondeo ad primum: «Unde scientia in Deo non est qualitas vel habitus, sed substantia et actus purus.1» Für die Leute, die sich eher ästhetisch als philologisch mit Theologie beschäftigen, übersetze ich: «Daher ist Wissen in Gott keine Beschaffenheit noch ein Gehaben, sondern Wesen und reine Wirklichkeit.» Daraus geht klar hervor, dass Gott ein nur ihm allein zukommendes Wissen hat. Wissen ist bei ihm und nur bei ihm substantia und actus purus. Bei den Menschen dagegen ist Wissen etwas anderes: Eine Qualität bei den einen, ein Habitus bei den andern. Die erste Teilaussage des Dürrenmatt-Logions ist also theologisch zutreffend.
Zum zweiten: Es wird die Aussage gemacht, dass Gott weiss, was die Theologische Fakultät Zürich tut. Das Urteil darüber, ob das richtig ist, hängt ab davon, wie gross die Reichweite des göttlichen Wissens ist. Erst wenn diese Reichweite unbegrenzt zu denken ist, wenn Gott also alles weiss, erst dann muss gedacht werden, dass er auch weiss, was die Theologische Fakultät Zürich tut. Dazu aus der zitierten quaestio, das respondeo des articulus XIII: «Respondeo dicendum ..., quod Deus sciat omnia non solum quae actu sunt, sed quae sunt in potentia sua vel creaturae; ...».2 Wiederum eine Übersetzung für die genannten Leute: «Gott weiss alles, nicht nur was in Wirklichkeit ist, sondern auch, was sowohl in Seinem Vermögen wie in dem Vermögen des Geschöpfes liegt.» Dürrenmatt zum Ehrendoktor zu machen, liegt im Vermögen der Theologischen Fakultät. Die Theologische Fakultät ist nicht Gott selbst, sondern sein Geschöpf. Gott weiss alles, was im Vermögen seiner Geschöpfe liegt. Also weiss er auch, was die Theologische Fakultät tut. Also hält auch diese Teilaussage des Dürrenmatt-Logions einer theologischen Prüfung durchaus stand.
Zum dritten: Es wird die Aussage gemacht, dass Gott das Missverständnis wusste, dem die Theologische Fakultät erlag. Die Prüfung dieser Aussage ist etwas schwieriger. Denn das Missverständnis, der error, gehört zu den Übeln, den mala. Wenn Gott das Missverständnis der Theologischen Fakultät wissen können soll, stellt sich die Frage, utrum Deus cognoscat mala, ob Gott das Übel erkenne. Darauf antwortet der Articulus X der schon zitierten quaestio. Zunächst gilt gemäss dem dritten praeterea, dass Gott alles durch sein Wesen (seine essentia) erkennt. Da aber das Übel nicht sein Wesen ist, gilt: «Ergo Deus non cognoscit mala.»3 Träfe dies zu, wäre der Satz von Dürrenmatt falsch, und der Ehrendoktor unbegründet. Wenn allerdings gilt, dass Gott alles weiss, dann muss er auch das Übel wissen. Nach alter kirchlicher Tradition - Thomas nimmt sie hier auf - ist das malum eine privatio boni.4 Von Gott gilt nun: «Deus igitur non cognoscit malum per privationem in ipso existentem, sed per bonum oppositum.»5 «Gott also erkennt das Übel nicht durch einen Mangel, der in ihm wäre, sondern durch das dem Uebel entgegenstehende Gut.» Missverständnisse sind ihrem Wesen nach Beraubungen des Verständnisses. Error est privatio scientiae. Gott weiss also das Missverständnis der Theologischen Fakultät dennoch, nicht durch den error, sondern durch dessen oppositum, die scientia, dadurch also, dass er weiss, warum Dürrenmatt Ehrendoktor ist, ein Wissen, dessen privatio das Missverständnis der Fakultät ist. Mit einer auch ehrwürdigen theologischen Wahrheit gesagt, bedeutet dies: Die Ehrendoktorwürde besteht providentia Dei errore hominum. Sie kam zustande durch ein Missverständnis der Menschen und eben darin durch die göttliche Vorsehung. So lautet die dritte Teilaussage im theologischen Klartext. Ich finde es gut, dass unsere Ehrendoktoren in der Antwort auf die Frage, warum sie es geworden sind, nicht zu tief greifen: providentia Dei. Damit ist auch die dritte Teilaussage des Dürrenmatt-Logions durch den doctor communis der Kirche als richtig erwiesen.
Damit kommt das Begründungsverfahren zum Abschluss: 1.1 Alle Teilaussagen des Satzes sind theologisch richtig. 1.2 Der Satz ist die Summe der Teilaussagen. 1.3 Ergo ist der Satz theologisch richtig. 2.1 Wer einen Satz, der als ganzer theologisch richtig ist, zu sagen vermag, ist zu Recht Ehrendoktor der Theologie. 2.2 Dürrenmatts Satz ist als ganzer theologisch richtig. 2.3 Ergo ist Dürrenmatt zu Recht Ehrendoktor der Theologie.
Freilich ist zu befürchten, dass dieser Ehrendoktor die vorgetragene Auslegung seines Satzes für ein Missverständnis halten wird. Dies jedoch bestätigt nur die Richtigkeit des Satzes und damit die Angemessenheit dessen, dass Dürrenmatt Doktor der Theologie honoris causa ist. Quod erat demonstrandum.
Nach dieser Zumutung des angestrengten Denkens wünsche ich Ihnen ein anregendes Essen und erhebe mein Glas auf den zweifelsfrei begründeten Ehrendoktor".
Männedorf, den 5. Febr. 1987
Hans Weder
[1] Thomas von Aquin, Gottes Leben, Sein Erkennen und Wollen. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa theologica, übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, hrsg. vom Katholischen Akademikerverband, Band II, Salzburg/Leipzig 21934, S.6.
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